Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Antimuslimischer Rassismus
Angriffe auf muslimische Einrichtungen und Personen in Frankreich haben weiterhin zugenommen. Dennoch bleibt die Diagnose „Islamophobie“ gesellschaftlich umstritten.

12-2013

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Viele schockieren die Zahlen, Andere dagegen der Begriff. Am 23. November 13 verbreitete die französische Nachrichtenagentur AFP eine Depesche, der zufolge „die islamophoben Taten erneut zugenommen“ haben. Die Agentur schreibt in ihrer Meldung (vgl. http://www.lefigaro.fr ) von Zahlen der „Nationalen Beobachtungsstelle für Islamophobie“, denen zufolge in den ersten neun Jahresmonaten 2013 die Übergriffe auf muslimische Einzelpersonen und Einrichtungen gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 11,3 Prozent zugenommen hätten. Ihre Zahl liegt demnach bei 157, gegenüber 141 in den ersten drei Vierteljahren von 2012.

Dabei geht es unter anderem um Attacken wie diese: Am 19. November wurde die Grande Mosquée de Paris, die seit 1927 bestehende älteste Moschee in der französischen Hauptstadt, mit Schmähparolen besprüht. Am selben Tag wurde in südfranzösischen Lesparre-Médoc, in der Nähe von Bordeaux, zwei Männer im Alter von 24 und 39 Jahren festgenommen. Die Polizei verfügte über Indizien, wonach sie die Urheber von Hakenkreuzsprühereien an der örtlichen Moschee im Hochsommer waren. Am folgenden Tag legten die beiden ein Geständnis ab. Anfang November d.J. war bekannt geworden, dass zwei Moscheen in Besançon beschmiert worden waren. Die Täter hatten Sprüche wie „Araber raus“, „Frankreich den Franzosen“ sowie Hakenkreuze hinterlassen. Wiederum zwei Wochen zuvor waren, wie am 20. Oktober 13 bekannt wurde, ähnliche Schmierereien an einer Moschee im südfranzösischen Carpentras festgestellt worden, auf einer Länge von dreißig Metern.

Solche rassistisch motivierten Sachbeschädigungen sind nicht der einzige Grund zur Beunruhigung für die Beobachtungsstelle, die vom französischen „Repräsentativen Rat der Muslime“ (CFCM) eingerichtet wurde. Besonders streicht sie in ihrem Bericht auch die körperlichen Angriffe auf verschleierte oder Kopftuch tragende Frauen hervor, „ein neues Phänomen“, wie die Beobachtungsstelle schreibt. Bei weiblichen Angehörigen der muslimischen Religion fühlen sich manche Täter offenbar besonders „mutig“, während das Kopftuch ihnen zugleich als vermeintlich besonders stigmatisierendes Erkennungszeichen dient.

Angriffe auf muslimische Frauen

Erstmals waren solche Vorfälle im Frühjahr 2013 in der Trabantenstadt Argenteuil, nordwestlich von Paris, bekannt geworden. Unbekannte schlugen dort mehrere muslimische Frauen, eine 19jährige erlitt dadurch im Juni 13 eine Fehlgeburt. Vor Ort fanden daraufhin zwei Protestdemonstrationen im Frühsommer statt. Unter anderem deswegen, weil auch salafistische Strömungen die Empörung für sich nutzen wollten, um Wasser auf ihre eigenen Mühlen zu lenken, blieben die Proteste überregional weitgehend isoliert. Eine breitere Unterstützung blieb aus, wie viele Betroffene, aber auch antirassistisch Engagierte beklagten – auch wenn das Opfer, das eine Fehlgeburt erlitten hatte, im Nachhinein Ende Juni dieses Jahres im Innenministerium empfangen wurde, als Geste der Solidarität. Innenminister Manuel Valls nahm daran allerdings nicht persönlich teil.

Insgesamt vierzehn körperliche Attacken auf Frauen mit muslimischer Kopfbedeckung zählt die Beobachtungsstelle auf, aus den Pariser Vorstädten Argenteuil und Trappes sowie aus Reims. Die Welle von Angriffen in der Pariser Vorstadtzone gehen wahrscheinlich auf rechtsradikale Skinheads zurück, auch wenn bislang noch keine Täter ergriffen werden konnten. Mitunter aber gehen auch Unorganisierte mehr oder weniger spontan zur Gewalt über, wenn sie es mit Kopftuch tragenden Frauen zu tun haben. Im Juli 13 wurde in Orléans ein Prozess gegen einen Autofahrer eröffnet, der infolge einer Verkehrsstreitigkeit drei Frauen mit Kopftuchbedeckung angegriffen, rassistisch beschimpft und aus ihrem Wagen gezerrt hatte. Es handelte sich um eine aus dem Maghreb stammende Frau, ihre 15jährige Tochter und ihre Schwester. Die Szene hatte sich am 14. Juni d.J. abgespielt. Der Aggressor wurde zu zwei Monaten Haft verurteilt. – Zuletzt wurde am 01. Dezember 13 bekannt, dass im ostfranzösischen Lothringen eine 24jährige, Kopftuch tragende und schwangere Frau durch einen Nachbarn gewürgt und mit Sprüchen wie „Schmutzige Rasse“ und „Geh dahin zurück, wo Du herkommst“ attackiert wurde. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/)

Bei der jährlich um dieselbe Jahreszeit stattfindenden Demonstration gegen frauenfeindliche Gewalt, die dieses Jahr am 24. November stattfand, bildeten 2013 erstmals muslimische Frauen mit Kopfbedeckung einen eigenen Block. Sie erklärten, sie wehrten sich gegen häusliche Gewalt von Männern ebenso wie gegen die zunehmende Angst vor Übergriffen in der Öffentlichkeit.

Streit um einen Begriff

Die Nachrichtenagentur AFP spricht bei ihrer Vorstellung des oben erwähnten Berichts erstmals explizit, in der Überschrift ihrer Depesche, von „Islamophobie“. Der Begriff bleibt jedoch innenpolitisch und gesellschaftlich umstritten. Die antiklerikale, linksliberale Publizistin Caroline Fourest – derzeit eine Unterstützerin des rechtssozialdemokratischen Innenministers Manuel Valls - hatte 2003 in einem aufsehenerregenden Artikel behauptet, den Begriff der Islamophobie hätten „die iranischen Mullahs im Jahr 1979 erfunden“. Und zwar, um ihre politischen Widersacherinnen und Widersacher zu diskreditieren. (Vgl. http://jungle-world.com/ ) Eine These, die sich allerdings kaum verifizieren lässt, denn das Wort Islamophobie mit seiner griechischen Wurzel existiert im Persischen nicht. Die Machthaber in Teheran sprachen und sprechen von ihren Opponenten als zed-e eslam („gegen den Islam“) und zed e-enqelab („Konterrevolutionäre“). Dies hat jedoch nicht denselben Bedeutungsgehalt wie der Begriff der Islamophobie in Westeuropa, der einen besonderen Rassismus gegen Menschen muslimischen Glaubens kennzeichnen soll.

Aber es bleibt eine Furcht auch in antirassistischen Kreisen, reaktionären Strömungen in die Hände zu arbeiten, die eher gegen Blasphemie als gegen Rassismus vorgehen wollten, sofern man den Begriff benutze. Der Begriffsstreit im antirassistischen und linken Milieu tobt deswegen weiter, und einige seiner Protagonisten schlagen als Alternativbegriff die Formel „antimuslimischer Rassismus“ vor. Die sozialdemokratisch-linksliberale Tageszeitung Libération nahm den Streit am 20. September 13 auf ihr Titelblatt und diskutierte die beiden Thesen ausführlich, benutzte dabei aber auch selbst den Begriff der Islamophobie. (Vgl. http://www.liberation.fr/ )

Aber auch generell dreht sich die Kontroverse links von der Mitte darum, wie man es mit den Muslimen hält. Einerseits werden sie als oft benachteiligte Einwanderer und Opfer von Rassismus wahrgenommen, andererseits wahren viele Strömungen Distanz zu den eher konservativen Wertvorstellungen mancher Muslime, unter denen es reaktionäre und vorwiegend „identitätspolitisch“ agierende Strömungen natürlich ebenso gibt wie progressivere, weltoffene oder liberalere. Auf der Linken finden sich im Umgang mit ihnen extrem polarisierte Positionen. Diese reichen von der Wahrnehmung quasi jeglicher (inklusive rein philosophisch motivierten) Feindseligkeit gegenüber islamischen Glaubensinhalten als „Islamophobie“ und damit Rassismus auf dem einen Extrempol, bis hin zu Positionen auf der anderen Seite, welche jegliche Anerkennung eines spezifisch gegen Muslime gerichteten Rassismus rundweg ablehnen oder ängstlich vor ihren „kommunitaristischen“ Folgen warnen.

Der Streit durchzieht auch das Arbeitsleben. Am 17. Oktober 13 fand eine Anhörung vor dem Pariser Berufungsgericht zu einer Kündigung in der eher alternativ-links geprägten Kindertagesstätte „Baby Loup“ in der Vorstadt Chanteloup-les-Vignes statt – die Entscheidung steht derzeit noch aus. Einer marokkanischstämmigen Erzieherin war gekündigt worden, nachdem sie aus einem Mutterschaftsurlaub mit einem Kopftuch zurückgekehrt war und es nicht ablegen wollte. Teile der Linken verteidigen die Kündigung als Verteidigung der weltanschaulichen Neutralität der Tagesstätte. Im öffentlichen Dienst wäre dies vom Gesetz gedeckt, aber hier handelt es sich um ein Privatunternehmen. Am 27. November 13 bestätigte ein Pariser Gericht in zweiter Instanz, die Kündigung sei rechtmäßig; die Sache wird mutmaßlich nunmehr vor den Obersten Gerichtshof gehen. (Vgl. u.a. http://www.francetvinfo.fr/ ) Unterdessen brachten sozialdemokratische Senatsabgeordnete im September 2012 einen – noch nicht verabschiedeten – Gesetzesvorschlag in die Diskussion, der bei Kleinkinderbetreuung generell das Tragen „religiöser Symbole“ verbieten würde, inklusive bei häuslicher Erziehung durch berufstätige Betreuerinnen. Dabei steht besonders das Kopftuch zur Disposition. Manche Muslime und Antirassisten beklagen deswegen eine „Eskalation in der Ausgrenzung“, während andere Stimmen einen „notwendigen Schutz einer weltanschaulich neutralen Sphäre“.

Keine Beruhigung seit den Wahlkämpfen 2013

Viele hatten geglaubt, es seien vor allem die Wahlkämpfe des Frühjahrs 2012 – zu den französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen - gewesen, die die Emotionen im Zusammenhang mit der Präsenz von Muslimen hätten hohe Wogen schlagen lassen. Damals hatten der rechtsextreme Front National, aber auch Teile der Konservativen vor allem gegen die „verstärkte Präsenz von Halal-Fleisch in Schulkantinen“ Front gemacht, und sie zum Teil offen als Bestandteil einer „Überfremdung“ dargestellt. (Vgl. Wahlkampf der Regierungsrechten spitzt sich auf Moslems & Juden ) Viele hatten sich von der Zeit nach der Wahlperiode eine Beruhigung der erhitzten Gemüter versprochen. Doch diese ist ausgeblieben. Allerdings trat auch die Prognose nicht ein, wonach der zeitgenössische Rassismus vor allem „kulturalisierende“ Formen annehme und sich hauptsächlich gegen Ausdrucksformen des Islam richte. Diese Annahme wurde in den letzten Wochen insofern widerlegen, als auch der Rassismus gegen Roma stark auf dem Vormarsch ist. Aber auch ein sehr klassischer, eher „biologischer“ denn kulturalistischer Rassismus. Er kommt zum Ausdruck, wenn etwa die schwarze Justizministerin Christiane Taubira seit Oktober 13 wiederholt öffentlich mit „Affen“ verglichen, als „Wilde“ bezeichnet und von politischen Widersachern mit „Bananen“ assoziiert wurde.

Aufgrund dieser extremen Zunahme rassistischer Erscheinungen, aber auch aufgrund des 30. Jahrestags des spektakulären „Marschs für Gleichheit und gegen Rassismus“ – von Oktober bis Dezember 1983 hatten fünfzig bis sechzig Söhne und Töchter maghrebinischer Einwanderer Frankreich von Marseille über Lyon bis nach Paris zu Fuß durchquert – kommt es nunmehr erstmals zu stärkeren Gegenmobilisierungen. Am 30. November und 07. Dezember 13 fanden bzw. finden Demonstrationen gegen die unterschiedlichen Formen von Rassismus statt.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.

Eine gekürzte und redaktionell überarbeitete Fassung dieses Beitrags erschien ursprünglich unter http://de.qantara.de/inhalt/islamophobie-und-rassismus-in-frankreich-erschreckende-gleichgueltigkeit