Geschichtsdidaktik
Anmerkungen zu Georg Fülberths Reduktion des Marxismus

von Karl-Heinz Schubert

12-2013

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"Ehe das Proletariat seine Siege auf Barrikaden und in Schlachtlinien erficht, kündet es die Ankunft seiner Herrschaft durch eine Reihe intellektueller Siege an." (MEW 7/416)

Am 5.Oktober 2013 eröffnete in Berlin das Marx-Engels-Zentrum. Eine Einrichtung, wo – so schreibt Andreas Wehr, einer der Protagonisten des Zentrums auf seiner Homepage - „sich an linker Politik und Theorie Interessierte austauschen und ihre Gedanken klären können, und wo an Hand der Texte der Klassiker gelehrt und gelernt wird.“ Politisch-ideologisch verortet sich das Projekt wie folgt: „Der Jungen Welt sind wir natürlich besonders verpflichtet. Das MEZ soll auch ihr Stützpunkt im Berliner Westen sein.“(ebd.)

Ganz auf dieser Linie liegend wurden auf der Eröffnungsveranstaltung Vorträge gehalten, wovon der Vortrag von Georg Fülberth „Revolutionäre Theorie in nichtrevolutionärer Zeit“ kurz danach im Netz eine schnelle Verbreitung fand. Sie reichte von der Erstveröffentlichung in der UZ am 18.10. 2013 auf Seite 10 über „scharf-links“ und Linksparteiseiten bis zur dissidenten DKP-Seite „kommunisten.de“ am 27.10.2013. Schlichte Kernaussage jenes Vortrages: In nichtrevolutionären Zeiten kann es keine revolutionäre Theorie geben.

Diese Mehrfachspiegelungen von Fülberths Vortrag erfolgten erstaunlicherweise bisher ohne kritische Anmerkungen. Im Gegenteil. Die DKP-Dissidenten von „kommunisten.de“ hoben im Vorspann ausdrücklich hervor, was sie an Fülberths Vortrag besonders schätzen:

Es wären also "schlechte Zeiten für eine revolutionäre Theorie", meint Fülberth. Aber genau dies sei der richtige Moment, um darüber nachzudenken, "was das denn ist: der Marxismus." und er gibt eine "vorläufige Antwort". Unter Marxismus könne verstanden werden:

1) historisch-materialistische Analyse von Ökonomie und Klassenverhältnissen,
2) eine auf diese gestützte Theorie der Politik,
3) politische Praxis in der Perspektive einer Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft.

Fülberth fordert, eine Bilanz über die bisherigen Leistungen und Defizite des Marxismus zu ziehen.“

Was Georg Fülberth hier als seinen Marxismus ausgibt, ist die eine Seite. Dass seine Fans diesen Revisionismus mit ihm teilen – eine andere. Worin besteht sein Revisionismus?

Bei Lenin gelten als die drei Quellen und Bestandteile des Marxismus „die deutsche Philosophie, die englische Ökonomie und der französischen Sozialismus“ (LW 19/3). Gemessen daran – und diese Meßlatte sollte sich die leninistische DKP und ihr Umfeld auch anlegen lassen - gehört für Fülberth offensichtlich die Philosophie, d.h. der dialektische Materialismus, nicht dazu. In seinem Vortrag lässt er hieran jedenfalls keinen Zweifel aufkommen. Dass er es mit der Dialektik nicht so hat, kommt besonders in seiner Behauptung zum Ausdruck, es gäbe nur in revolutionären Zeiten eine revolutionäre Theorie bzw. umgekehrt. Der  dialektische Zusammenhang zwischen den aktuellen Klassenkämpfen und der Theoriearbeit verkommt bei ihm stattdessen zu einem mechanistischen Konstrukt für geschichtsdidaktische Zwecke.

Revolutionäre Theorie und Praxis im Sinne von Marx und Engels bilden bekanntlich eine dialektische Einheit, die Mao Tsetung trefflich auf den Begriff bringt:

Durch die Praxis die Wahrheit entdecken und in der Praxis die Wahrheit bestätigen und weiterentwickeln; von der sinnlichen Erkenntnis ausgehen und diese aktiv zur rationalen Erkenntnis fortentwickeln, sodann wieder, ausgehend von der rationalen Erkenntnis, aktiv die revolutionäre Praxis anleiten, die subjektive und objektive Welt umzugestalten; Praxis, Erkenntnis, wieder Praxis und wieder Erkenntnis - diese zyklische Form wiederholt sich endlos, und der Inhalt von Praxis und Erkenntnis wird bei jedem einzelnen Zyklus auf eine höhere Stufe gehoben. Das ist die ganze Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus, das ist die dialektisch-materialistische Theorie der Einheit von Wissen und Handeln.“ (MAW, 1/363)

Insofern gibt es Entwicklungsphasen, in denen einmal die Theorie die Hauptseite bildet und dann wieder umgekehrt die Praxis.  Zwei Beispiele zur Erläuterung:

  • Hätte Lenins Klassenanalyse der russischen Gesellschaft - erstellt in nichtrevolutionären Zeiten (1896-99, LW 3), nicht zur späteren Ableitung seiner Parteikonzeption aus eben diesen Klassenverhältnissen getaugt, wäre sein Konzept einer bolschewistischen Partei 1902 in nichtrevolutionärer Zeit wahrscheinlich gar nicht entwickelt und durch die revolutionäre Praxis (1905 und 1917) nicht bestätigt und modifiziert worden. Die Weiterentwicklung der Leninschen Parteitheorie durch die Erfahrungen der Oktoberrevolution wäre ihrerseits kaum vorangekommen und damit auch nicht Verallgemeinerungsfähig geworden, hätte Lenin nicht  - quasi ergänzend zur russischen Klassenanalyse -  den imperialistischen Kapitalismus analysiert. Und das auch wieder - um in Fülberths Logik zu bleiben - in einer nichtrevolutionären Etappe (1916).
     
  • Im Sommer 1874 - abgesehen von vereinzelten Landarbeiterunruhen in Ostpreußen - herrschte Ruhe im Deutschen Reich und in der Arbeiterbewegung machte sich eine "Verflachungspropaganda" durch Eugen Dühring und seine Anhänger breit. Marx und Engels wiesen in Briefen an Liebknecht, Blos und Hepner auf die Gefahr dieser "Dühringerei" hin. Als diese ideologische Tendenz auch 1875 in der vereinigten SPD weiterhin Auftrieb bekam, entschließt sich Engels 1876 zum Angriff: "Mein Plan ist fertig - j'ai mon plan. Anfangs geh ich rein sachlich und scheinbar ernsthaft auf den Kram ein, und die Behandlung verschärft sich in dem Maß, wie der Nachweis des Unsinns auf der einen Seite, der Gemeinplätzlichkeit auf der anderen sich häuft, und zuletzt regnet's dann hageldick..."(MEW 34/17f)
    Es steht wohl außer Zweifel, dass es sich beim „Anti-Dühring“, den Engels nun verfasst, um revolutionäre Theorie aus der Abteilung Philosophie/Weltanschauung und damit um eine tragende Säule des Marxismus handelt.
    Solche Glanzlichter revolutionärer Theoriearbeit können sich nie Eins zu Eins auf den Klassenkampf als Ganzes auswirken, sondern bildlich gesprochen sind sie das scharfe Schwert im ideologischen Klassenkampf, um in nichtrevolutionären Zeiten intellektuelle Siege als Vorbereitung auf die Revolution zu erringen.

Ginge in bestimmten Entwicklungsschritten die Theoriearbeit nicht der Praxis voran, d.h. besonders jene Theoriearbeit, mit der die historische Perspektive der Aufhebung des Kapitalismus aus den konkreten Klassenverhältnissen abgeleitet wird, dann führte dies zu einer Praxis im Hier und Jetzt, ohne  die Aufhebung des Kapitalismus als Ziel im Visier zu haben.

Indem Fülberth diesen dialektischen Zusammenhang ignoriert, reduziert er seinen Marxismus auf eine Geschichtsdidaktik zur Unterweisung von Parteigenossen. Und daher kommt ihm bei der Frage, warum die Menschen in der BRD den Sozialismus als ihre politische Perspektive ablehnen, nur als Antwort in den Sinn: „Wir befinden uns hier an der schwächsten Stelle des gegenwärtigen Marxismus: der Theorie der Politik und der politischen Praxis. Ideologiepolitisch hängt uns das Scheitern des Staatssozialismus wie ein Mühlstein am Hals.“ Arbeitsproduktivität, Produktinnovation und Demokratie in den implodierten „sozialistischen“ Staaten bilden für Fülberth exklusiv die Schlüsselfragen, um dem Scheitern auf die Spur zu kommen, offensichtlich von dem Glauben getragen, dass ein renoviertes DDR-Bild BRD-LohnarbeiterInnen motivieren könnte, für die Aufhebung des Kapitalismus zu kämpfen.

Dass Fülberth immer wieder seine Fans in den Reihen der DKP und in und bei der Linkspartei findet, mit DDR-Nostalgie zu erklären, mag zwar für einige seiner Fans zutreffen, weil sie mit ihm auch schon in früheren Jahren politisch organisatorisch verbandelt waren. Grundsätzlich denke ich liegt der Fall aber anders. Dieses Spektrum hat sich seit Jahrzehnten den Kapitalismus in den Metropolen als staatsmonopolistischen Kapitalismus erklärt und völlig undialektisch das Verhältnis von Monopol und Konkurrenz als einen historisch unumkehrbaren, linear-hierarchischen Zusammenhang definiert, der sich als Feind über alle Klassen und Schichten wölbt. Damit sind die Fragen nach der richtigen Strategie und Taktik des Klassenkampfes für die Aufhebung des Kapitalismus ein für alle Mal beantwortet:

"Die antimonopolistische Bündnispolitik beschränkt sich aber nicht auf die Mittelschichten, sondern zielt auch auf die Neutralisierung bzw. in einzelnen Fragen auch auf Bündnisse mit der nichtmonopolistischen Bourgeoisie, die die Masse der Kapitalistenklasse stellt und unter den heutigen Bedingungen in Gegensatz zur Monopolbourgeoisie geraten kann. Sie berücksichtigt gleichfalls Interessengegensätze innerhalb verschiedener Fraktionen der Groß- und Monopolbourgeoisie." (IMSF-Autorenkollektiv, Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950-1970, Ffm 1974, S.378f)

Weltanschauliche und erkenntnistheoretische Fragen, die den Kampf der proletarischen Klasse bzw. ihrer Fraktionen zum Ausgangspunkt einer Klassenanalyse nehmen,  wie sie etwa in maoistischen Untersuchungskonzepten (Kämpfen-Untersuchen-Organisieren) im Zentrum standen, erscheinen aus dieser Perspektive völlig obsolet und passten schon damals nicht in das Stamokap-Repertoire. Heute wie damals hindert die  Stamokap-Theorie das DKP/Linksparteispektrum eine Realanalyse auf der Höhe der Zeit in Angriff zu nehmen, um sie für die politischen Praxis anzuwenden und dort in den Kämpfen zu modifizieren.

Stamokap als DKP-Alleinstellungsmerkmal wird wie eine Monstranz hochgehalten und erfüllt nur noch legitimatorische Funktionen, um das eigene Klientel auf eine bestimmte politische Praxis zu verpflichten. So wird in völligem Unverständnis der hießigen Klassenstrukturen mithilfe von Stamokap-Theorie ein Bild von Klasseneinheit suggeriert, wo die sozialdemokratische Richtungsgewerkschaft DGB als deren korrekter organisatorischer Ausdruck erscheint. Politisch skandalös wird es allerdings, wenn Stamokap-Fans selbständig organisierte kämpferische Regungen von Kollegen in Betrieben (z.B. alternative Betriebsratslisten bei Daimler) als spalterisch diffamieren und ihnen die Solidarität entziehen.

Eine revolutionäre Realpolitik stellt dagegen die proletarische Klasse in ihrer Vielschichtigkeit in den Mittelpunkt der theoretischen und praktischen Bemühungen und sucht die Einheit zwischen den Fraktionen der Klasse im Klassenkampf herzustellen. Für so eine Politik ist der Marxismus nur mit allen drei Bestandteilen -also inklusive des dialektischen Materialismus - als Theoriewerkzeugkasten brauchbar. Denn die Aufhebung des Kapitalismus verlangt konkrete Antworten, wie sie sich aus der Negation der gegenwärtigen Eigentums- und Verwertungsverhältnisse praktisch ergeben und die sind mit einem Marxismus light à la Fülberth nicht zu kriegen.

Schlußendlich - wenn es richtig ist, was Marx im „Elend der Philosophie“(1) über die Klasse feststellt, dass sie sich nämlich im Kampf konstituiert, dann hätten Linke an einem Ort wie dem MEZ Berlin, „wo an Hand der Texte der Klassiker gelehrt und gelernt“ werden soll, sich primär der Frage zu widmen, welchen Beitrag Linke zur proletarischen Klasseneinheit leisten können. Statt Schönrederei implodierter sozialistischer Staatsprojekte – die sich bei genauerer Untersuchung als Staatskapitalismus(2) erweisen könnten - sollte ja mal mit schlichter Selbstkritik begonnen werden, um die Einheit der zersplitterten Klassenlinken herzustellen.

Anmerkungen:

1) "Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine  gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf." Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4 / 180f

2) Zur Frage des Staatskapitalismus in Übergangsgesellschaften siehe z.B.:

  • Tony Cliff, Staatskapitalismus in Rußland, Sozialistische Arbeitergruppe, Frankfurt/M. 1975.
  • Rita di Leo, Die Arbeiter und das sowjetische System, München 1973
  • Philipp Neumann, Zurück zum Profit, Westberlin 1974
  • Uwe Wagner, Vom Kollektiv zur Konkurrenz,Westberlin 1974
  • Ludwig Bress und Karl Paul Hensel, Wirtschaftssysteme des Sozialismus im Experiment, Plan oder Markt, Ffm 1972