Neues aus der Welt des Pflegenotstands

von Joachim Maiworm

12-2012

trend
onlinezeitung

Der Herausgeber der „Pflegezeitschrift“ sieht in der Novemberausgabe seines Blattes das deutsche Gesundheitssystem „vor einer Zerreissprobe“, auf das Land „eine Lawine zurollen“, die das Sozialsystem an den „Rand des Kollapses“ bringen wird, wenn die Politik an den bisherigen Leistungen festhalten will. [1] Wir kennen diese Sprache. In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Studien vorgelegt, die mit dramatischen Zahlen gespickte katastrophische Szenarien entwickelten. In die gleiche Kerbe schlägt ein aktueller Pflegereport der Bertelsmann-Stiftung. Er prognostiziert eine massive Versorgungslücke in der Pflege bis 2030. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt demnach um rund 50 Prozent an. Etwa eine halbe Millionen Vollzeitkräfte werden fehlen, wenn denn keine „grundlegenden Weichenstellungen“ erfolgen. [2] Die notwendigen Leistungen in der Pflege, so heißt es, können zukünftig von professionellen Kräften allein nicht erbracht werden.

Auch wenn der Publizist und der Think-Tank interessegeleitet besonders drastische Einschätzungen und Modellrechnungen präsentieren, stellt sich in der Tat die Frage, wer in Zukunft zu welchen Bedingungen den zweifellos ansteigenden Pflege- und Betreuungsbedarf bedienen wird. Politiker wie auch die Träger sozialer Dienste propagieren eine verstärkte Einbindung der Freiwilligenarbeit und üben moralischen Druck auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus, sich zu engagieren. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) schlägt eine Verkürzung der Altenpflege-Ausbildung angesichts des Pflegemangels vor, die deutsche Politik lehnt aus gleichen Gründen EU-Pläne für höhere Zugangsvoraussetzungen für die Pflegeausbildung strikt ab. Gegen das Defizit an Pflege- bzw. Fachkräfte werden Imagekampagnen gefahren, Werbemaßnahmen in Schulen durchgeführt oder Langzeitarbeitslose umworben (bisweilen auch zur Arbeit im Pflegesektor genötigt). Nur eines passiert nicht: Das Interesse junger Leute an einer Arbeit in dem sozialen Sektor zu wecken – mit guter Bezahlung sowie physisch und psychisch erträglichen Arbeitsbedingungen. Bisherige Erfolge zur Behebung des Pflegenotstands seien darum, so ein Fachmagazin, „selbst mit der Lupe opportunistischen Frohsinns kaum auffindbar“. [3] Der Grund: Die Lohnnebenkosten sollen nicht steigen (Pflegeversicherung), die zu leistende Arbeit möglicht billig geleistet werden, im Idealfall kostenlos und zu Hause.

Die besondere Bedeutung der häuslichen Pflege arbeitet auch der aktuelle Pflegereport der Barmer GEK heraus. Die vorgelegten Daten belegen den Teilkasko-Charakter der Pflegeversicherung, denn mindestens die Hälfte aller Kosten, die zwischen Eintritt der Pflegebedürftigkeit und dem Tod entstehen, bezahlen die Menschen aus der eigenen Tasche und aus der Sozialhilfe. Dabei ist der Eigenanteil an den Gesamtkosten über die Jahre kontinuierlich angestiegen. Die Pflege ist also heute eine in hohem Maße privat zu bewältigende Angelegenheit – vorzugsweise in den eigenen vier Wänden. Von den insgesamt 2,4 Mio. offiziell anerkannten Pflegebedürftigen werden etwa 1,7 Mio. zu Hause versorgt. Der weitaus größte Teil der Arbeitsleistungen für diese Menschen entfällt auf (weibliche) Angehörige oder Freunde. Angesichts der soziodemografischen Veränderungen (sinkende Geburtenzahlen, steigende Frauenerwerbstätigkeit, zunehmende Mobilität, d.h. geringere räumliche Nähe von Familienangehörigen, zunehmender Anteil von Single-Haushalten usw.) steht das bisherige Modell der familialen Pflege aber zunehmend in Frage. Da mit einem weiteren Sinken der Pflegebereitschaft zu rechnen ist, wird deshalb die Pflege zunehmend als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ bestimmt (so explizit auch im § 8 SGB XI). [4]

Alle in die Verantwortung nehmen: Dieser Grundsatz wird zur Legitimierung einer weiter verschärften Kostensenkungsstrategie genutzt. Während in Griechenland und Portugal praktisch über Nacht und ohne Vorwarnung drastische Kürzungen im Gesundheits- und Sozialbereich erfolgen und die Selbstbeteiligungen für Patienten in die Höhe schießen, werden die entsprechenden politischen Entscheidungen hierzulande diskursiv gründlich vorbereitet und Schritt für Schritt durchgezogen. Im Folgenden soll ein – unvollständiger – Blick auf aktuelle, aber eher unauffällige Baustellen dieser „Sparpolitik“ gegeben werden, jenseits der öffentlichen Debatten um die (nicht endenden) Pflegereformen.

Verpflichtungsdiskurs

Um eine einigermaßen auskömmliche Versorgung pflege- und betreuungsbedürftiger Menschen sicherzustellen, werden zunehmend Freiwillige herangezogen. In der öffentlichen Bewertung wird dieser Trend weitgehend und unwidersprochen für unabdingbar gehalten. Denn einerseits steigen die Erwartungen an die Pflege, andererseits gilt das Primat der Kostenbegrenzung. Ein Paradox tut sich auf: Zum einen wird im konsequenten Aufbau eines Laienhelfersystems ein Beitrag zur Behebung des Problems gesehen. Zum anderen betonen Fachleute die Notwendigkeit, bis dato freiwillig erbrachte Leistungen in naher Zukunft in Form von Erwerbsarbeit verrichten zu lassen (wegen sich auflösender Familienstrukturen, der „Individualisierung“ der Gesellschaft). Die goldene Lösung: Der einzuschlagende Weg scheint in einer Professionalisierung auch der nicht-beruflichen Pflege zu liegen, denn an sie werden immer stärker Qualitätsanforderungen gestellt. Weiterbildung gilt bereits heute vielfach als Vorbedingung für den Einsatz ehrenamtlicher Helfer. Und die sollen und können nicht gänzlich unbezahlt bleiben. Der Trend zur Monetarisierung freiwilliger Arbeit lässt jedoch die Distanz zum Arbeitsmarkt schwinden. Ein fließender Übergang zeigt sich, eine kühl kalkulierte Vereinnahmung durch soziale Träger inklusive. Die Sozialwissenschafter wittern die Gefahr: Zivilgesellschaftliches Engagement wird gefordert, zugleich aber durch die Tendenz zu dessen Verrechtlichung und dem Verpflichtungsdiskurs gefährdet. Reicht aber auf Dauer moralischer Druck und eine geringe Vergütung nicht aus, um genügend Freiwillige für den Pflegebereich zu finden, wird es wohl unausweichlich zu einer direkt verpflichtenden Übernahme von Hilfeleistungen kommen müssen, so die Fachexperten. [5] Ein weites Feld öffnet sich also. Professionelle Pflege muss trotz steigender qualitativer Anforderungen billig bleiben (Pflegesätze und Lohnnebenkosten!), Einrichtungen mögen darum (fast kostenlose) Freiwillige für die Betreuungsarbeit und unqualifizierte, aber motivierte Einsteiger/innen für die Pflege, kaum jedoch zur Arbeit im sensiblen Pflegebereich gedungene Langzeiterwerbslose.

Angehörige müssen mitarbeiten

Interessantes dazu aus den Niederlanden: Eine Pflegeorganisation im südholländischen Gouda startet ein Projekt: In zwei von insgesamt 16 Pflegeheimen werden zukünftig nur noch Bedürftige aufgenommen, wenn sich deren Angehörige vertraglich verpflichten, für mindestens vier Stunden im Monat in der Einrichtung mitzuarbeiten. Tun sie dies nicht, wird entweder kein Platz in den Heimen zur Verfügung gestellt oder sie kaufen sich von der geforderten Arbeitsschicht frei und bezahlen einen erhöhten Preis für den Pflegeplatz. Auch in Deutschland erregt diese Initiative Aufmerksamkeit. Der Leiter eines Heimes in Witten meinte, es sei doch eigentlich selbstverständlich, dass nicht fremde Ehrenamtliche, sondern direkte angehörige bestimmte Aufgaben wahrnehmen sollten. Dann wären auch einige Medikamente nicht mehr erforderlich und Fixierungen verzichtbar. Auch die BAGSO, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V., die nach eigenen Angaben über 100 Verbände mit etwa 13 Millionen älteren Menschen vertritt, kann dem „Experiment“ etwas abgewinnen, sieht allenfalls gewisse Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der Verbindlichkeit und der geldwerten Verrechnung mit den Pflegekosten. [6]

Ehrenamtliche sollen mitarbeiten

In diesen Kontext passt, dass die Bundesregierung ehrenamtliches Engagement gesetzlich fördern will. Im Bundestag wurde am 8. November der Entwurf eines Gesetzes zur Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeitsrechts verhandelt. Durch die Anhebung der sogenannten Übungsleiterpauschale sollen stärkere Anreize für gemeinnützige Arbeit auch in Bereichen geschaffen werden, in denen bislang „regulär“ Beschäftigte tätig waren (Kitas, Pflege). Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V. (bpa) forderte laut Stellungnahme vom 8. November umgehend, dass auch seine Klientel von der Regelung zur steuerlichen Erleichterung für das Ehrenamt profitieren müsste. Die Vision: Der Staat zieht sich vollständig von seinen öffentlichen Aufgaben zurück. Immer mehr Menschen arbeiten im Gegenzug nur noch für ein Taschengeld im privaten Dienstleistungssektor – aber für ihre Ehre. Ansonsten ein typisches Beispiel für Regierungshandeln: Auf der einen Seite das Gemeinnützigkeitsentbürokratisierungsgesetz (GemEntBG) ausarbeiten, auf der anderen eine überbordenden Bürokratie organisieren. Allein 20 Prozent des Personals einer Einrichtung muss für das Führen der Pflegedokumentation abgestellt werden. Oder wie eine Verdi-Fachfrau sagte: “50 Prozent der Berliner Pflegekräfte haben gerade mal ihren 200-Stunden-Basiskurs absolviert, die Fachkräfte sitzen vor allem am Schreibtisch!“ [7] Dass die Dokumentationen üblicherweise in Teilen gefälscht wird, ist allgemein bekannt. Denn das gibt der strukturelle Arbeitsdruck in den Einrichtungen vor. Und dass der Medizinische Dienst bei seinen Kontrollen geduldiges Papier überprüft, aber weniger die Pflegerealität, ist ebenso nicht neu. Weshalb die Bürokratie doch wieder ihren Sinn erhält.

Arbeitslose wollen (so) nicht mitarbeiten

Was ist eigentlich aus den arbeitslosen Schlecker-Angestellten geworden? Klar ist: Schlecker-Frauen meiden Seniorenheime. Zumindest als Arbeitskräfte. Dabei bot sich doch plötzlich mit der Pleite der Drogeriemarktkette im Frühjahr ein riesiges Potenzial für neue Beschäftigte in diesem Bereich an. Die „Süddeutsche Zeitung“ meldete aber Anfang Oktober unter Berufung auf Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA), dass sich der Vorschlag von Bundesarbeitsministerin von der Leyen, die arbeitslose gewordenen Frauen zu Erzieherinnen und Altenpflegerinnen umzuschulen, letztlich als Lachnummer erwies. Nur 81 von knapp 23.000 Angestellten, die durch die Insolvenz von Schlecker und Ihr Platz ihre Jobs verloren hatten, absolvieren mittlerweile eine mehrjährige Umschulung zur Erzieherin oder Altenpflegerin. Kein Wunder, werden die Leute doch vorzugsweise in mehrwöchige, allenfalls wenige Monate dauernde Weiterbildungsmaßnahmen gesteckt. Und damit lassen sich nun mal keine qualifizierten Erzieherinnen und Pflegekräfte ausbilden. [8]

Wenn die Erwerbslosen nicht recht mitspielen, sollen wenigstens die Unternehmer geködert werden. Um Erwerbslose bei Pflegeeinrichtungen anpreisen zu können, gab die BA eine Studie in Auftrag, beim Institut für Demoskopie Allensbach, das Unternehmen über ihre Erfahrungen mit ehemaligen Hartz-IV-Empfänger/innen befragte. Im November wurden die Ergebnisse vorgestellt. Demnach äußerten sich über zwei Drittel der Arbeitgeber im Bereich der Pflege zufrieden mit den „Hartzern“, jeder vierte ist sogar sehr zufrieden. 62 Prozent erkennen keine nennenswerten Unterschiede zwischen der Arbeitsleistung ehemaliger Langzeiterwerbslose und der anderer Mitarbeiter/innen. Die individuellen Erfolgsgeschichten einiger Pflegehelferinnen werden auf der Website der BA gleich anschaulich mitgeliefert. Warum also qualifizierte Personen einstellen, wenn es auch billiger geht? [9]

Personelle Unterbesetzung legal

Wenn Heimbetreiber weniger Pflegepersonal einsetzen als mit den Kostenträgern vereinbart, müssen sie mit einer Kürzung der Pflegevergütung rechnen. Übersteigt das durchschnittliche Personaldefizit acht Prozent, ist davon auszugehen, dass der Heimbetreiber systematisch und in unzulässiger Weise „Personal zum Zwecke der Gewinnmaximierung eingespart hat“, so das Bundessozialgericht in Kassel in einem Urteil vom 12.9.2012. Erst bei einer Überschreitung dieser Toleranzgrenze geht das Gericht in jedem Fall von nicht hinnehmbaren „wesentlichen Mängeln in der Ergebnisqualität“, also einer faktisch nicht ausreichenden Versorgung der Pflegebedürftigen aus. Interessant: Die Pflegesätze der Einrichtungen hängen maßgeblich von der Höhe der Lohnkosten ab, eine dauerhafte Unterschreitung des geforderten Personalstandes wird offensichtlich aber erst ab acht Prozent sanktioniert. Ein schöner Extraprofit für die Betreiber.

Oft wird zudem der viel zitierte Fachkräftemangel als Grund für die Personalunterschreitungen in den Seniorenheimen genannt. In den Heimgesetzen wird für fachlich ausgebildete Kräfte eine Quote von 50 Prozent verlangt. Diese konnten zum Beispiel in Hessen im Jahr 2011 nur 67 Prozent der Heime nachweisen. Eine steigende Zahl alter pflegebedürftiger Menschen steht einer sinkenden oder allenfalls stagnierenden Zahl von Pfleger/innen entgegen. Die Zukunftsperspektive? „Ich weiß nicht, ob wir dahin zurückgehen, wo die Altenpflege angefangen hat: zu den Alten- und Siechenhäusern“, so eine Heimleiterin aus Darmstadt. [10]

Fachkräfte gehen (gern)

Forschungsergebnisse einer internationalen Pflegestudie („RN4Cast – Registered Nurse Forcasting“) belegen, dass etwa ein Drittel aller Pflegekräfte in Deuschland burn-out-gefährdet sind, d.h. sich emotional erschöpft fühlen. Der Wert ist der zweitschlechteste unter den in der Studie aufgeführten Ländern. Nur England steht mit 42 Prozent weiter hinten in der Liste. Weniger als die Hälfte aller befragten Personen bezeichneten ihren Arbeitsplatz als „ausgezeichnet“ oder „gut“. Die Ergebnisse werden als Argument für eine weitere drohende Abwanderung deutscher Pflegekräfte ins Ausland interpretiert. [11]

Fachkräfte kommen (ungern)

Nachdem im Mai 2011 die letzten Schranken für die Arbeitnehmerfreizügigkeit fielen, war die Hoffnung der Pflegemanager groß, Fachkräfte aus Osteuropa anwerben zu können. Die Ernüchterung folgte schnell – die begehrten Pfleger/innen machten einen großen Bogen um Deutschland und ließen sich in anderen Ländern nieder, der besseren Arbeitsbedingungen und höherer Gehälter wegen. Die Altenhilfeträger setzen nun auf Ostasien, speziell China. Der private Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) will gemeinsam mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDI) und der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit (ZAV) mindestens 150 Fachkräfte aus China anlocken und an Einrichtungen in Deutschland vermitteln. Ein „Projekt“, „nachhaltig“ auf fünf Jahre angelegt und wissenschaftlich begleitet. Die Branche will sich jedoch noch nicht damit abfinden, dass der Fachkräfteansturm aus den kriselnden südeuropäischen Staaten bislang ausgeblieben ist. Die hessische Landesregierung startete jüngst einen Modellversuch, zunächst 100 qualifizierte Pfleger/innen aus der Region Madrid anzuwerben. Wahrhaftig ein Sturm! [12]

Unternehmensberater kennen die Lösung

Nach Auffassung der Unternehmensberatungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PWC) lassen sich die „drohenden Versorgungslücken“ dagegen weder durch die Ausbildung zusätzlicher Fachkräfte, noch durch Zuwanderung von Personal aus dem Ausland schließen. Das vorhandene Fachkräftepotenzial soll stattdessen besser genutzt werden. PWC kennt die Lösung: Die Teilnahme- und Vollzeitquoten müssen gesteigert werden, denn zu viele examinierte Kräfte üben ihren Beruf gar nicht oder nur in Teilzeit aus, oder geben ihn vorzeitig auf. Das Szenario für das Jahr 2030: Um das heutige Versorgungsniveau zu halten, muss in der Pflege die Teilnahme- und Vollzeitquote um 10 Prozent, das Renteneintrittsalter durchschnittlich um zwei Jahre und die Netto-Jahresarbeitszeit um 20 Prozent ansteigen. In Zukunft also 49 Stunden pro Woche Pflegearbeit? Um eine überzeugende Antwort ist PWC nicht verlegen: „Die Mitarbeiter leisten de facto schon heute die Stundenzahl, weil sie so viele Überstunden machen!“ [13]

Senioren werden abgeschoben (in billigere Heime im Ausland)

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die Zahl der Empfänger/innen von Hilfe zur Pflege im Jahr 2010 auf etwa 411.000 gestiegen. Immer mehr alte Menschen können sich ihre Pflege nicht mehr leisten, denn die stationäre Unterbringung basiert wesentlich auf Zuzahlungen. Sie sind deshalb auf staatliche Transfers angewiesen, auf Hilfe zur Pflege, eine Sozialleistung auf Antrag mit Ausgaben von heute über 3 Mrd. Euro jährlich. Vor diesem Hintergrund denken Pflegekassen über billigere Versorgungsmöglichkeiten nach. Eine davon ist, dass die Pflegeversicherung künftig mit Heimen im Ausland Verträge abschließen (was das EU-Recht bislang noch verhindert). Sowohl die Krankenkassen AOK als auch Barmer GEK zeigen sich grundsätzlich offen für Modelle, nach denen zukünftig deutsche Pflegefälle im Ausland versorgt werden könnten. Die Realität ist da schon weiter. Mehr als 10.000 Senioren lassen sich bereits in osteuropäischen Ländern pflegen, ein Drittel davon in Heimen. [14]

Senioren werden abgeschoben (in billigere Heime im Inland)

Die Kommunen ziehen sich sukzessive aus der Finanzierung der Angebote für Pflegebedürftige zurück. Sozialämter senken zunehmend die Kosten in diesem Bereich. Zwar verhandeln die Einrichtungsträger und die Pflegekassen die Pflegeentgelte selbst, der Staat übt aber zunehmend Druck aus, die Kosten zu deckeln. Beispiel Niedersachsen: Dort liegen die Entgelte im bundesweiten Vergleich besonders niedrig. Das liegt daran, dass in verschiedenen Landkreisen sogenannte Preisgrenzen festgelegt werden. Alle Heime, deren Kosten oberhalb dieser Grenze liegen, werden offenkundig nicht mehr mit Sozialhilfe-Empfänger/innen belegt – dem Grundsatz der freien Heimwahl zum Trotz. Jedenfalls schildern Bewohner/innen, dass sie, nachdem ihre Eigenmittel aufgebraucht waren, von Mitarbeitern des jeweiligen Sozialamtes aufgefordert wurden, sich doch bitte nach einem billigeren Heimplatz umzusehen. In der Folge entsteht ein gnadenloser Preiswettbewerb nach unten, denn vor allem die Pflegeheime, in denen überproportional viele auf Sozialhilfe angewiesene Bewohner/innen leben, können es sich kaum leisten, die Preisgrenze zu überschreiten. In diesen Billigheimen treffen dann die armen Pflegebedürftigen auf die ebenfalls von staatlichen Transferleistungen abhängigen Pflegehilfskräfte (Aufstocker/innen). [15]

Berlin schickt Pflegecontroller los

Berliner Pflegebedürftige, die sich die Zuzahlungen für die ambulante Pflege nicht leisten können und auf die sogenannte Hilfe zur Pflege angewiesen sind, werden künftig Besuch von Pflegecontrollern des Bezirksamtes bekommen. In einer Pressemitteilung vom 21. August teilte die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales mit, dass zwischen 2009 und 2011 in vier Bezirken ein „Pilotprojekt zur Optimierung der Organisationsentwicklung in der ambulanten Hilfe zur Pflege“ durchgeführt wurde – mit Erfolg. Ziel war es, „die hohen Steigerungsraten der Transferausgaben zu bremsen und gleichzeitig eine passgenaue und qualitativ hochwertige Erfüllung der gesetzlichen Ansprüche der Leistungsempfänger zu gewährleisten“. Die Aufgabe der Kontrollettis bestand also darin, alle bislang bezahlten Leistungen einzeln darauf hin zu überprüfen, ob sie entfallen können. Sie setzten den Rotstift an. 14 Millionen Euro konnten auf diese Weise in dem Zeitraum gekürzt und die jährliche Kostensteigerung eingedämmt werden. Darum wird das Projekt in der Hauptstadt nun flächendeckend umgesetzt. „Die Pflegecontroller streichen systematisch Leistungen und legen den Bedarf sehr eng aus“, kommentiert dazu der Leiter eines Pflegedienstes in Berlin-Treptow. Und fügt hinzu, dass dabei klare Zielerreichungsvorgaben bestehen, um die Kosten bei der Pflege deutlich senken zu können. Dass bei der Prüfung auch berechtigte Ansprüche von Pflegebedürftigen aus Kostengründen abgewiesen werden, bleibt zu ergänzen. Paradox wird die Sache, wenn politisch zwar der Grundsatz „Ambulant vor stationär“ gilt, Anträge auf Tagespflege aber nicht genehmigt werden, um Betroffene zu nötigen, in ein Pflegeheim umzuziehen. Die Fachzeitung Care Konkret dazu: “Für den Sozialhilfeträger geht die Rechnung aber auf: Ein Pflegeheimplatz verursacht der Behörde deutlich weniger Kosten als die Zuschüsse zur ambulanten Pflege, Tagespflege und private Miete der Betroffenen. Die stationäre Pflege ist aus Sicht des Sozialhilfeträgers schlicht billiger als die ambulante und wird daher wohl auch billigend in Kauf genommen.“ In Berlin gab es im vergangenen Jahr etwa 16.300 Betroffene, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen waren. [16]

Gerichte stellen sich blind und taub

Am 29.11.2012 wurde die Kündigungsschutzklage der Pflegehelferin Angelika-Maria Konietzko vom Berliner Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Sie hatte mehrere Jahre für einen privaten Pflegedienst in einer Demenz-Wohngemeinschaft in Berlin-Mitte gearbeitet, auf Pflegemissstände hingewiesen und sich für bessere Arbeitsbedingungen eingesetzt. Sie wurde daraufhin mehrfach abgemahnt, von der Geschäftsleitung gemobbt, schließlich arbeitsunfähig – und erhielt anschließend eine krankheitsbedingte Kündigung. Die juristische Auseinandersetzung wirft zum einen ein Schlaglicht auf die konkreten, zum Teil katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen im Pflegesektor. Zum anderen wird deutlich, gegen welche juristischen Widerstände diejenigen ankämpfen müssen, die als Pflegekräfte nicht alle Schweinereien in ihrem Arbeitsbereich schlucken wollen. Frau Konietzko beispielsweise beschuldigte den Pflegedienst, falsche Angaben über die nötigen Versorgungsstandards in der Demenz-WG zu machen. Der Richter aber weigerte sich konsequent, eine Beweisaufnahme durchzuführen, d.h. die Vorwürfe zu überprüfen und sich mit der konkreten Lebens- und Arbeitssituation in der WG auseinanderzusetzen. Es zeigt sich deutlich, dass die bundesdeutschen Gerichte sich schlicht quer stellen, wenn es darum geht, die tiefe Kluft zwischen der vom Kostendruck geprägten Pflegerealität und den in diesem Bereich offiziell geltenden Normen und Standards in ihrer Rechtsprechung im Interesse der betroffenen Menschen zu reflektieren. Einzelne widerständige Pflegekräfte laufen deshalb gegen eine nahezu undurchdringliche juristische Wand. [17]

Arbeitsalltag im Wandel

Die deutsche Rechtsprechung reagiert zustimmend und bestätigend auf die neoliberale Transformation der Gesellschaft und lässt die abhängig Beschäftigten mit ihren betrieblichen Unrechtserfahrungen weitgehend im Regen stehen. Auch im Pflegesektor steigt der Stress weiter an. Die im letzten Jahr vorgelegten Ergebnisse einer qualitativen Umfrage zu den Konsequenzen des wirtschaftlichen Drucks für den beruflichen Alltag im ambulanten Sektor belegt nicht nur eine kontinuierliche Zunahme der Arbeitsintensität, sondern auch, dass immer häufiger externe Unternehmensberatungen eingeschaltet werden, um eine betriebswirtschaftliche Optimierung durchzuziehen. Zudem scheint das pflegerische Selbstverständnis einem kulturellen Wandel zu unterliegen. Nicht nur bei den Geschäftsführungen und Pflegedienstleitungen beherrscht die ökonomische Grundregel – Leistung nur gegen Bezahlung – immer stärker das berufliche Selbstverständnis. Auch viele Pflegekräfte eignen sich diese Mentalität an: Dass die Einhaltung ökonomischer Zielvorgaben selbstverständlich ist und daraus entstehende Pflegedefizite legitim sein können. Offizieller Widerstand gegen die Leitungsebene erscheint bei den Befragten sowieso als chancenlos und die organisatorisch erzwungene Zeitnot in der Pflege unhinterfragbar. Die „Ökonomisierung“ der Pflege, d.h. die Bereitschaft und die Fähigkeit der Bedürftigen, Zuzahlungen zu leisten, regelt also nicht nur den Zugang zu den Versorgungsangeboten, sondern prägt auch zunehmend die Einstellung und das Handeln der in der Pflege beruflich Tätigen.

Es gibt aber einige Lichtblicke: Dazu gehören nicht nur einzelne individualrechtlich kämpfende Pflegerinnen oder streikbereite Belegschaften, sondern auch kritische Vertreter/innen der Gesundheitsökonomie, die sich strikt gegen jeden Bedeutungsgewinn der Marktgesetze in ihrem Bereich wenden und ein kapitalistisch organisiertes Gesundheitswesen für unvereinbar erklären mit einer qualitativ hochwertigen Versorgung aller bedürftigen Menschen. [18]

Anmerkungen

[1] Christian Heinemeyer, „Die Gesellschaft steht vor einer Zerreissprobe“, in: Pflegezeitschrift 11/2012, S. 646f

[2] Presseinformation vom 19.11.2012; Gemäß ihrem Leitbild „So wenig Staat wie möglich“ stellt für die Stiftung Wettbewerb und bürgerschaftliches Engagement die wesentliche Basis für „gesellschaftlichen Fortschritt“ dar.

[3] Michael Zaddach, „Stolperstein Allgemeinbildung“, in: Die Schwester/Der Pfleger, 11/2012, S. 1129

[4] Barmer GEK Pflegereport 2012 (November 2012), S. 19, 80ff, 144f

[5] Heike Reggentin/Jürgen Dettbarn-Reggentin, Freiwilligenarbeit in der Pflege: Pflegearrangements als zukünftige Versorgungsform, Stuttgart, 2012, S. 89 und 142

[6] „Vier Stunden im Monat sind Pflicht“, in: Care konkret, 7.9.12

[7] So eine Verdi-Expertin sinngemäß bei einer Veranstaltung im Verdi-Haus am 21.3.12 zum Thema „Fachkräftemangel im Pflegebereich“; außerdem: „Die Kosten gehen in die Milliarden“, Care konkret, 18.5.12

[8] Uwe Ritzer, „Zahlreiche Schlecker-Mitarbeiterinnen ohne Job“, in: Süddeutsche Zeitung, 2.10.12

[9] Erfahrungen mit Hartz IV-Empfängern in der Pflege. Ausgewählte Ergebnisse einer Befragung von Unternehmen durch das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit (November 2012)
http://medien.jobcenter-ich-bin-gut.de/arbeitgeber-umfrage_downloads/Factsheet_Pflege.pdf

[10] Care konkret, 28.9.12

[11] ] „Arbeitsbedingungen im Ausland oftmals besser als in Deutschland“, in: Care konkret, 31.8.12

[12] „Neue Strategie: Fachkräfte aus China“ und „Pfleger aus Madrid nach Marburg“, in: Care konkret 12.10.12 und 9.11.12

[13] Pressemitteilung vom 11.10.12 „Pflegefall Gesundheitswesen - Ohne Reformen droht 2030 der Kollaps“ und „Warum in die Ferne schweifen“, in: Care konkret, 19.10.12

[14] Care konkret, 2. und 16.11.12

[15] Care konkret, 28.9.12

[16] „In Berlin werden Pflegecontroller ab sofort flächendeckend eingesetzt: Sozialämter setzen bei Bewilligung von Leistungen den Rotstift an“, in: Care konkret, 31.8.12

[17] http://www.labournet.de/branchen/dienstleistung/gw/pflege.html

[18] Lukas Slotala, Ökonomisierung der ambulanten Pflege: Eine Analyse der wirtschaftlichen Bedingungen und deren Folgen für die Versorgungspraxis ambulanter Pflegedienste, Wiesbaden, 2011, S. 176f und S. 63; auch: Lukas Slotala, „Unter Druck: Ökonomisierung in der ambulanten Pflege“, in: Dr. med. Mabuse, Sept./Okt. 2012, S. 28-30

 

Editorische Hinweise

Wir spiegelten diesen zusammenfassenden Bericht vom Blog der Gruppe, wo er am 5.12.2012 erschien.

Am 7.12. erschien das 13. Streikinfo der IGBCE (hier zu lesen als PdF)