Europa debattiert
über die Autonomie für Regionen wie Katalonien oder Flandern.
Die zu Frankreich gehörende Mittelmeerinsel Korsika besitzt
bereits seit 1999 ein Autonomie-Statut. Es wird allerdings in
der heutigen Praxis keineswegs für emanzipatorische Ziele
genutzt...
Die
Insel Korsika wurde lange Zeit durch manche ihrer politischen
Akteure nicht nur als benachteiligte Region betrachtet, sondern
als eine veritable Kolonie. Besonders durch jene politischen
Kräfte, die sich als „autonomistisch“ respektive
„nationalistisch“ definierten – das waren die moderatere und die
radikalere Variante. Ab 1975 ging ein Teil von ihnen zum
bewaffneten Kampf über und begründete die „Nationale
Befreiungsfront Korsikas“, den FLNC, unter Nachahmung des Namens
der ehemaligen Befreiungsfront im von Frankreich unterworfenen
Algerien – welche später zur Staatspartei wurde. Das ganze
Treiben begann in Aléria (auf Ostkorsika) mit der Besetzung des
Weinguts eines Großgrundbesitzers.
Und
tatsächlich sprach für die Sichtweise, wonach die
Mittelmeerinsel als eine Art Kolonie behandelt werde, in der
historischen Rückschau so manches. Korsika hatte 1769 seine
Unabhängigkeit von Italien erlangt, eine eigene Republik
ausgerufen und während der Französischen Revolution die
Jakobiner unterstützt. Die Zentralmacht in Paris dankte es
nicht, vor allem, als auf die Revolution das Empire unter
Napoléon Bonaparte folgte. Obwohl dieser junge Militär selbst
aus Korsika stammte, machte er Karriere, indem er dort eifrig
Felder niederbrannte und die Insel hart für ihre zeitweilige
Besetzung durch die Briten abstrafte. Später errichtete er
Zollschranken für alle Produkte aus Korsika, damals eine
Kornkammer, und begünstigte umgekehrt die Einfuhr aller Waren
aus Frankreich. Die Ökonomie der Insel wurde auf Dauer ruiniert.
Daraufhin wurde deren
Bewohner für 150 Jahre lang eine Lösung angeboten, indem ihnen
der Aufstieg im oder beim Staatsapparat ermöglicht wurde: Korsen
machten Karriere als Polizisten, Polizeichefs, Innenminister
(Charles Pasqua), Militärs oder als Siedler in französischen
Kolonien. Auf Korsika wurden „Wohltaten“ in Gestalt von
Sozialleistungen verteilt, als handele sich um private
Geschenke, und zwar durch die regierenden Großfamilien: die
„Clans“. Diese waren die politische Hauptstütze der
französischen Republik – die jeglichen universalistischen
Charakter dabei verlor - auf der Insel.
Dagegen traten die frühen Nationalisten an. Doch dies ist
vorbei, ebenso wie ihre Aura als Kämpfer gegen die lokalen
Mächtigen. Denn längst sind sie Bestandteil eines dichten,
dichten und undurchsichtigen Filzes. Erleichtert wurde dies
durch die Fraktionierung des FLNC, der sich in den frühen
neunziger Jahre in einen Flohzirkus heillos zerstrittener Banden
auflöste - und dann seit 1999 durch die Autonomie-Regelung,
welche die sozialdemokratische Pariser Regierung von Lionel
Jospin mit der konservativen Rechten vor Ort aushandelte. Diese
erlaubte es erstmals, über einen lokalen rechtlichen Rahmen zu
verkünden, um eigene Investitionsregeln festzulegen. Örtliche
Reiche investieren seitdem verstärkt auf der Insel, mangels
entwickelter Ökonomie entweder in den Luxustourismus und die
Immobilienspekulation – oder in Spielhöllen und Glücksspiele
(bislang eine Spezialität von Korsen im französischsprachigen
Afrika), in Waffengeschäfte und ins Security-Gewerbe. In diesen
Sektoren eifrig mit dabei sind oft frühere nationalistische
Aktivisten, die hier eine berufliche Perspektive oder jedenfalls
ein Auskommen fanden. Die Abgeordneten vom
parlamentarisch-„politischen Flügel“ der sonst eher im
Untergrund aktiven Nationalisten waren 1999, beim
Autonomie-Abkommen, in einer Koalition mit den
wirtschaftsliberalen Rechten dabei gewesen.
Am
14. November 12 wurde in Ajaccio der Chef der Industrie- und
Handelskammer, Jacques Nacer, ermordet. Aber die wirkliche
Zielscheibe war laut Auffassung vieler Beobachter der mit ihm
befreundete Alain Orsoni, Chef eines einflussreichen
Fußballclubs – und früher einer der Lautsprecher der aktiven
Nationalisten, heute erfolgreicher Geschäftsmann. Offenkundig
waren hier einflussreiche Gruppen dabei, Claims mit der Knarre
abzustecken. Innenminister Manuels Valls und Justizministerin
Christine Taubira – sonst eher weit auseinander – eilten kurz
darauf gemeinsam auf die Insel, wo sie sich zu Anfang dieser
Woche (26./27. November) erneut zusammen aufhielten.
Valls
sprach dabei von einer „Mafia“, welche auf der Insel mächtig
sei, womit er ausnahmsweise tendenziell Recht hatte. Die
Enthüllungszeitung Le Canard enchaîné lieferte parallel
dazu am 21. November d.J. aufschlussreiche Details dazu, wie der
Apparat von Polizei und Innenministerium seit Jahren jegliche
Ermittlungsarbeit gegen „Interessen“ aus dem nationalistischen –
oder vormals so orientierten – Milieu sabotiert. Straffreiheit
ist den Betreffenden vor diesem Hintergrund quasi garantiert.
Und so wird der Sumpf immer breiter, in den auch frühere
nationalistische „Idealisten“ sehr tief eingesunken sind.
Editorische
Hinweise
Den Artikel
erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
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