Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Tarnac-Affäre
Die mittlerweile berühmten „Anti-Terror“- Ermittlungen gegen die „Tarnac-Gruppe“ werden immer stärker zum Desaster für die französischen Behörden.

12-2012

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Neue Erkenntnisse über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Repressionsorgane, unter Einsatz von Spitzeln bis in private Betten hinein, wurden jüngst publik. Einige Spuren führen dabei auch nach Deutschland...

James Bond ist auch nicht mehr, was er einmal war. Französische Polizisten von der Geheimabteilung, die für „terroristische“ Straftaten zuständig ist, sind offenbar zu zwanzig nicht in der Lage, einem Auto auf nächtlicher Fahrt zu folgen, unter das sie eine ständig Signale aussendende GPS-Sonde geklebt haben. Und dann kommt noch heraus, dass sie einem britischen Spion auf den Leim gegangen sind, der Sean Connery nicht sehr ähnlich sieht, vor allem aber ein ausgewiesener Flunkerer, Übertreiber und eine Plaudertasche zu sein scheint.

Die so genannten „Tarnac-Affäre“ tauchte in den letzten Wochen wieder an prominenter Stelle in einigen französischen Medien auf. Die Anwälte der Verteidigung stellten am 06. November 12 neue Beweisanträge und forderten, ihnen möge nunmehr endlich einmal „die vollständige Akte der polizeilichen Nachrichtendienste“, statt wie bisher nur ausgewählte Auszüge daraus, auf den Tisch gelegt werden. Am 12. November d.J. sprach der „Hauptverdächtige“ Julien Coupat sich in Paris vor etwa zehn ausgewählten Journalisten aus, wo er – wie Le Monde formulierte – „auftauchte, um sich besser zurückzuziehen“ und seinen Rückzug aus dem um ihn veranstalteten Medienrummel anzukündigen; vgl. http://delinquance.blog.lemonde / . Am 14. November 12 folgte eine Pressekonferenz der Anwälte, mit prominenter Besetzung, in den Räumen des französischen Parlaments.

Worum es ging (oder noch immer geht)

Diese „Tarnac“-Affäre, die inzwischen in mehreren französischen Presseorganen als anrüchige „Staatsaffäre“ behandelt wird, begann offiziell am 11. November 2008, einem Tag, der in Frankreich noch immer – aufgrund des Gedenkens an das Ende des Ersten Weltkriegs – ein gesetzlicher Feiertag ist. An jenem beschaulichen Tag verhafteten 250 Polizisten frühmorgens in dem verschlafenen Dorf Tarnac, im französischen Zentralmassiv, mehrere Mitglieder einer Landkommune, die dort einen Lebensmittelladen unter dem Namen Magasin général betrieben. Um 08.32 Uhr früh war bereits ein in triumphalistischem Tonfall verfasstes Kommuniqué des Pariser Innenministeriums dazu veröffentlicht worden.

Zeitgleich kam es auch zu polizeilichen Zugriffen in Rouen und Paris. Insgesamt zwanzig Personen wurden festgenommen, von denen neun in Haft behalten wurden und zum Teil nach drei Wochen wieder freikamen, während ihr angeblicher „Rädelsführer“ Julien Coupat noch sechs Monate in Untersuchungshaft blieb. Vorgeworfen wurde ihnen, vier Tage zuvor Sachschäden an Bahnlinien angerichtet zu haben, indem sie an verschiedenen Stellen in Nordost- und Ostfrankreich elektrische Oberleitungen mit Hakenkrallen herunterrissen. Auf den Schnellzugstrecken im Einzugsbereich Paris kam es damals deswegen zu ein- bis zweistündigen Verspätungen. Es handelte es sich um einen kleinen Teil der (laut Angaben der französischen Bahngesellschaft SNCF) rund 4.000 Akte von Sachbeschädigung, Kabeldiebstahl oder Sabotage, welche sich jährlich am französischen Schienennetz ereignen.

Später stellte sich heraus, dass die vermeintlich oder tatsächlich „anarchistisch-autonom“ orientierten jungen Leute, die festgenommen worden waren, damit mit einiger Wahrscheinlichkeit überhaupt nichts zu tun hatten. Denn im November 2008 war bei der taz ein Bekennerbrief von Atomkraftgegnern eingetroffen, die sich zu den Hakenkrallenanschlägen bekannt. - Die „Gruppe von Tarnac“ arbeitete nicht zum Thema Atomkraft. Ihr wurde aus anderen Gründen durch Polizei und Inlandsgeheimdienst unterstellt: Aufgrund der vermuteten Urheberschaft oder Teil-Urheberschaft ihres angeblichen „Anführers“ oder „intellektuellen Kopfs“ Julien Coupat für das Büchlein L’insurrection qui vient – „Der kommende Aufstand“ – wurde vermutet, die Angehörigen der Gruppen hätten vor dem Hintergrund ihres Revolutionskonzepts Sabotageakte an Bahnlinien vorgenommen. Das zitierte Büchlein legt ein, unter uns gesagt: reichlich verquastes, Konzept für eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft vor, in welchem behauptet wird, es gebe keine Zentren der Macht mehr, sondern das Herrschaftssystem nehme die Form eines Netzwerks an. Und als Netzwerk, das sich u.a. in Form von Computernetzen oder eben auch Schienennetzen manifestiere, sei diese Macht eben auch überall angreifbar und verwundbar. Daraus leiteten die Ermittler vermeintliche konkrete Sabotagepläne ab; einer der durchgeknallten Ideologen des „Sicherheits“apparats, Alain Bauer – der das Büchlein bei Amazon entdeckt hatte – glaubte sogar Parallelen zur Vorbereitung der Oktoberrevolution 1917 zu erkennen. Und zwar, weil damals in Russland Bahnhöfe erstürmt worden seien. Solche Idioten treffen im „Sicherheits“apparat Entscheidungen....! Give power to the Bauer;) Vgl. dazu auch schon unseren früheren Artikel: http://www.trend.infopartisan.net/trd1208/t271208.html )
Trifft die Version bezüglich der AKW-Gegner/innen zu, dann standen die Hakenkrallen-Attacken im Zusammenhang mit einem damals anrollenden Castor-Transport vom französischen La Hague nach Deutschland sowie mit dem vierten Todestag von Sébastien Briat. Der junge Atomkraftgegner war am 07. November 2004 von einem Zug überrollt worden, als er sich – ebenfalls aus Protest gegen einen Atommülltransport – an einer Schiene festgeschlossen hatte. Doch nach wie vor läuft ein Vorwurf gegen die „Tarnac-Gruppe“, wie sie allenthalben nur noch genannt wird, wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“. Und gegen Julien Coupat als ihren vermeintlichen Anführer. Auf die „Gründung und Anführung einer Vereinigung im Zusammenhang mit einer terroristischen Unternehmung“ stehen in Frankreich zwanzig Jahre Haft als Höchststrafe.

Allerdings steht auch nach vier Jahren bislang noch kein Verfahrenstermin fest. Einer der vormals zuständigen Untersuchungsrichter, Thierry Fragnoli, hat sich Anfang April 2012 jeglicher Zuständigkeit für das Dossier entbinden lassen – weil er es nicht mehr ertragen habe, ständig von den Rechtsanwälten „persönlich attackiert zu werden“, wie er verlautbaren ließ. (Vgl. http://www.lemonde.fr )

Die Anwälte hatten seine Unparteilichkeit angezweifelt, weil Fragnoli sich in mehreren e-Mails mit Journalisten – die er als „Freunde in der freien Presse, also jener Presse, die noch nicht unter der Fuchtel von Coupat und Anwälten steht“, ansprach – eindeutig und in eher subjektiver denn sachdienlicher Weise geäußert hatte. Eine solche E-Mail war am 14. März d.J. durch die Wochenzeitung Le Canard enchaîné publiziert worden. Die seitdem noch mit dem Dossier befassten Untersuchungsrichter sollen laut Zeitungsberichten inzwischen Zweifel hegen, ob der „Terrorismus“-Vorwurf wirklich haltbar sei. Einige Überlegungen ihrerseits sollen darauf hinaus laufen, das Verfahren unter einem anderen Anklagepunkt als dem „terroristischer Straftaten“ zu eröffnen, um noch das Gesicht zu wahren und sich aus der aktuellen Affäre herauszuziehen. Doch da mögen möglicherweise die Angeklagten nicht mitspielen, die dabei zusehen konnten, wie die gegen sie ins Rollen gebrachte Verfahrensmaschinerie immer mehr in Problemen feststeckte.

November 2012: Neue Entwicklungen in der Affäre

Die neueste Runde der Veröffentlichungen ließ abermals peinliche Details für die Ermittler zum Vorschein kommen. So stellte sich heraus, dass ein Team von achtzehn Polizisten der DCRI – einer im Juni 2008 aus einer Fusion der früheren polizeilichen Nachrichtenabteilung RG mit dem ehemaligen Inlandsgeheim- und Spionageabwehrdienst DST hervorgegangenen Behörde – schon seit April 2008 Julien Coupat und seiner Freundin, jetzigen Frau, Yldune Lévy, ständig folgte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten die Ermittler sogar eine GPS-Sonde unter ihr Auto geklebt. Dies ergibt sich aus den durchgesickerten Beobachtungsprotokollen, da die Ermittler jedes Mal, wenn die Beschatteten in eine Tiefgarage fahren, angeben, dass die Überwachung abriss – wie es typisch ist, wenn dabei eine Signale aussendende Sonde benutzt wird.

Und dennoch wollen es die Ermittler nicht vermocht haben, sicher zu sein, wo genau Julien Coupat und Yldune Lévy gegen 4 Uhr morgens in jener Nacht, in welcher die Hakenkrallen gelegt wurden, sich aufhielten. Man habe sie für Viertel- und halbe Stunden aus den Augen verloren, verlautbarte zur Begründung. Angeblich hatten die beiden sich „zwischen 04 Uhr und 04.20 Uhr“ einem der Anschlagsorte auf die Bahnlinien, in der Nähe von Dhuisy rund 75 Kilometer östlich von Paris, genähert. Und angeblich wurden sie dabei von Polizisten, die ihnen im sicheren Abstand im Auto folgten, beschattet.

Doch es kam noch besser: Am 24. Oktober 12 berichtete Le Canard enchaîné, die Ermittler hätten kurz zuvor „gemerkt“, dass Yldune Lévys Bankkarte um kurz vor drei Uhr in jener Nacht Geld an einem Automaten abzuheben. Im Pigalle-Viertel in Paris. Trifft diese Information zu, können sie quasi unmöglich eine Stunde später dort gewesen sein, wo die fragliche Hakenkralle gelegt wurde. (Vgl. auch http://www.mediapart.fr/journal/france/131112/julien-coupat-il-ny-plus-daffaire-tarnac ) Nun ist zwar theoretisch denkbar, dass eine andere Person die Bankkarte von Yldune Lévy benutzt haben könnten, nur hätten die Ermittler sich dazu früher etwas einfallen lassen müssen – spät bemerken sie die Existenz eines solchen Alibis! Und auch dies ist noch nicht alles. Denn es ist wahrscheinlich sogar schlicht erstunken und erlogen, dass die Polizisten überhaupt in jener Nacht vom 07. zum 08. November 2008 zugegen waren, und dass sie deswegen Julien Cupat und Yldune Lévy „um 04.05 Uhr früh“ in kurzer räumlicher Distanz zum Anschlagsort an den Bahnlinien beobachteten. Eine Auswertung der Telefondaten der beiden in Frage kommenden Beamten (welche das Überwachungsprotokoll mit ihrer Unterschrift versehen hatten) hat nämlich ergeben, dass ihre Dienst-Mobiltelefone zum fraglichen Zeitpunkt ausgeschaltet waren – und wahrscheinlich waren eben nicht nur die Handys in dem Moment nicht im Betrieb, sondern auch die Polizisten selbst gar nicht im Einsatz. (Vgl.
http://danactu-resistance.over-blog.com )

Stimmt dies wiederum, dann handelte es sich bei den Angaben um den Aufenthalt der beiden „Terrorverdächtigen“ in der Nähe des „Anschlagsorts“ schlicht und einfach um eine Lüge. Am 26. Oktober d.J. ordnete deswegen der Gerichtshof von Versailles eine Auswertung der Telefondaten aller Mitglieder der polizeilichen Kommission, welche mit der Überwachung und Beschattung von Coupat/Lévy beauftragt war, an. Seit November 2011 läuft dazu bereits ein Ermittlungsverfahren der Justiz wegen des Verdachts der Urkundenfälschung.

„Superbulle“ Marc Kennedy: Vollkommen STONE-d!

Die letzte Runde der Enthüllungen unterstreicht erneut die Bedeutung, die allem Anschein nach die mehr oder minder fantasievoll angereicherten Berichte eines vermeintlichen britischen Superspions beim Anrollen der Affäre spielten. Le Monde berichtet am 06. November 12 (vgl. http://www.lemonde.fr/)  ausführlich über die Rolle des britischen Polizisten und Undercover-Ermittlers Marc Kennedy. $$

Kennedy alias „Marc Stone“ war im Oktober 2010 in England durch Aktivisten der Ökologiebewegung enttarnt worden; daraufhin war ein Artikel im Guardian erschienen. Konkret hatte der verdeckte Ermittler im vorangegangen Jahr 2009 an der Besetzung eines Kohlekraftwerks – das durch Umweltaktivist/inn/en als Dreckschleuder kritisiert wurde – im britischen Ratcliffe-on-Soar teilgenommen. Alle Teilnehmer/innen an der Aktion wurden festgenommen; mit Ausnahme von ihm. Dies weckte bei einigen Aktiven der Ökologiebewegung dann doch erhebliche Zweifel, welche sich noch verstärkten, nachdem „Marc Stones“ damalige Freundin in seinem Rucksack einen Ausweis gefunden hatte, der auf den Namen Marc Kennedy ausgestellt war. Am 20. Oktober 10 stellten sechs Leute daraufhin diesen „Marc Stone“zur Rede, und er eröffnete ihnen die Wahrheit über seine Rolle als Undercover-Agent. Deswegen mussten im United Kingdom zwei Gerichtsurteile gegen Aktivist/inn/en (u.a. das gegen die Teilnehmer/innen an der Besetzung von Ratcliffe-on-Soar) nachträglich aufgehoben werden. Die Einheit, der er angehörte – das National Public Order Intelligence Unit (NPOIU) – wurde ihrerseits aufgelöst. Allerdings wurde sie inzwischen durch das neu gegründete National Domestic Extremism Unit (NDEU) ersetzt.

In Frankreich war seine Rolle erstmals im Februar 2011 im Wochenmagazin L’Express thematisiert worden; vgl. http://www.lexpress.fr/a . Und Anfang dieses Jahres dann in einem Artikel der Kulturzeitschrift Les Inrockuptibles vom März 2012 (vgl. http://www.lesinrocks.com/ ) sowie in einem Buch, das der Journalist Daniel Dufresne der Tarnac-Affäre widmete und für das er sowohl die aus offizieller Sicht „Terrorverdächtigen“ als auch Polizisten und Nachrichtendienstleute getroffen hatte. Er erhielt dafür im Oktober 12 einen Preis, eine journalistische Auszeichnung (vgl. http://www.davduf.net/ ) Dufresne vertritt die Auffassung, die Affäre sei Gegenstand einer politisch-ideologischen Verblendung, die mit der Rolle der damaligen Innenministerin Michèle Alliot-Marie – die felsenfest an einen bevorstehenden „großen linksterroristischen Anschlag auf französischem Boden“ glaubte – und ihrer fragwürdigen Berater wie insbesondere Alain Bauer (vgl. oben) zusammenhänge. Aber auch mit der Fusion von polizeilichen Nachrichtendiensten und DST zur neuen Inlands-Geheimdienstzentrale DCRI, die im Juni 2008 abgeschlossen worden. Konkurrierende Abteilungen hätten sich dabei wechselseitig auszustechen und zu überbieten versucht, gleichzeitig habe der neue Dienst unbedingt spektakuläre erste Arbeitsergebnisse zu produzieren versucht.

Das Material dafür lieferte unter anderem Marc Kennedy. Er war von 2003 bis 2009 als Undercover-Agent in mindestens elf europäischen Ländern aktiv. Dabei infiltrierte er die Ökologiebewegung, Atomkraftgegner, Globalisierungskritikerinnen und Anarchisten. Er unterhielt Liebes- und sexuelle Beziehungen zu Aktivistinnen, was seine Rolle als verdeckt ermittelnder Polizist noch kritikwürdiger macht, da er bis ins Privatleben der von ihm ausgekundschafteten Szene hinein in jeden Winkel vorstieß. Die von ihm gelieferten Informationen wurden in Zusammenarbeit zwischen der britischen Polizei und den Staaten, in denen er eingesetzt war, mal durch die und mal durch die andere Seite ausgewertet. In Deutschland hielt er sich laut vorliegenden Berichten von 2004 bis 2009 insgesamt fünf Mal auf. Er drang in die antifaschistische Szene vor und stand mit drei Bundesländern unter Vertrag. Diesbezüglich erklärte der Chef des deutschen Bundeskriminalamts (BKA) bei einer Anhörung durch eine parlamentarische Untersuchungskommission, zitiert nach Giorgio Agamben in der Pariser Abendzeitung Le Monde: „Gegen die Euro-Anarchisten, gegen jene, die sich konspirativ und international organisieren, müssen wir uns genauso konspirativ und genauso international organisieren.“ (Vgl. http://www.lemonde.fr )

Die „Tarnac-Gruppe“ lernte er bei einem Vorbereitungstreffen für die Aktionen gegen den G20-Gipfel in Heiligendamm vom Juni 2007, das im Februar desselben Jahres in Warschau stattfand, kennen. Die fünf aus Zentralfrankreich Angereisten schlugen dort vor, man solle nicht in Heiligendamm – wo die Polizeipräsenz immens war – protestieren, sondern überraschend in Hamburg oder Berlin. Später ging er die Bewohner der Landkommune in Tarnac besuchen. Und er lieferte mit viel Fantasie angereicherte Informationen, wie es nun einmal zur Rolle eines solchen verdeckt operierenden Polizisten gehört, der seine eigene Bedeutung durch die von ihm beschriebene Gefährlichkeit der „Zielobjekte“ zu unterstreichen versucht.

Im Februar 2008 behauptete er gegenüber französischen Nachrichtendienstlern, bei bei einem Gespräch im ostfranzösischen Nancy sei „über den Einsatz von Explosivstoffen diskutiert und auch mit ihnen experimentiert worden“. Daran glaubt heute schlichtweg niemand. Aber die polizeilichen Nachrichtendienste – damals die RG, denn die Fusion zwischen ihnen und dem Spionageabwehrdienst zur heute bestehenden DCRI fand erst im Juni 08 statt) wurden damals extrem auf die Gruppe aufmerksam.

Ab dem 25. März 2008 funktioniert das Kreditkarten-Lesegerät im Laden ihrer Landkommune nicht mehr; am 04. April desselben Jahres fand daraufhin ein Techniker der Telekom heraus, dass ein unprofessionell wirkendes Abhörgerät in dem Gebäude installiert worden war. (Vgl. http://www.lemonde.fr/ ) Der Techniker wurde später von seinem Unternehmen mit einer Disziplinarstrafe eingedeckt, dafür, dass er den seltsamen Kasten entdeckt und spontan abmontiert hatte: „Anordnung aus Paris“, von oben. Die Überwachung der Landkommune war damals noch total illegal, denn es lief keinerlei Verfahren, und es bestand kein juristisch greifbarer „Anfangsverdacht“ gegen ihre Mitglieder. Aber am 16. April 2008 wurde ein Vorermittlungsverfahren unter „Terrorismusverdacht“ gegen die Gruppe eingeleitet, die darüber nicht unterrichtet wurde. – Aufgrund der illegalen Überwachung der Landkommune in Tarnac stellte einer ihrer Anwälte, der prominente linke Strafverteidiger William Bourdon, im Februar 2011 Strafantrag wegen widerrechtlicher Verletzung des Fernmeldegeheimnisses und des Privatlebens. Seit dem 03. Januar 12 läuft deswegen ein gerichtliches Ermittlungsverfahren in der zentralfranzösischen Stadt Brive-la-Gaillarde.

Kennedy hatte versucht, durch wilde Geschichten über seine „Zielobjekte“ die Bedeutung seiner Tätigkeit hervorzuheben. In Großbritannien ist inzwischen gerichtsnotorisch, dass Kennedy auch als Agent provocateur handelte und selbst Straftaten beging, um zu solchen anzustiften; zwei Gerichtsverfahren gegen AktivistInnen mussten annulliert werden, weil Kennedy darin verwickelt war (siehe dazu oben Ausführlicheres).

Vorläufige Bilanz


Heute hat das politische Interesse an den Strafverfolgungen im Zusammenhang mit Tarnac nachgelassen. Alliot-Marie ist nicht mehr Innenministerin, sie musste schon Anfang 2011 nach ihrem vermeintlich genialen Vorschlag von Polizeihilfe an Tunesiens Diktatur den Hut nehmen. Der aktuelle Staatspräsident François Hollande, dessen Wahlkreis in der Nähe von Tarnac liegt, erklärte – spät, aber deutlich – vor seiner Wahl Vorbehalte gegen das Verfahren.

Nun wird die Frage für den Staat lauten, wie er ohne eigenen Gesichtsverlust diese brisante Affäre auf die eine oder andere Weise herunterfahren kann. Es läuft nicht nur das, sich immer stärker dahinschleppende, „Anti-Terror“-Ermittlungsverfahren gegen die Tarnac-Gruppe. Drei Ermittlungsverfahren laufen auch, umgekehrt, gegen illegale Handlungen des Polizei- und „Sicherheits“apparats im Umgang mit der vermeintlichen gefährlichen Gruppe. Am 03. Januar 12 wurde in Brive-la-Gaillarde im Zentralmassiv das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen der illegalen Abhöraktion in der Landkommune eingeleitet, siehe oben. Daneben läuft ferner ein Ermittlungsverfahren in Clermont-Ferrand (der nächst gelegenen Großstadt) wegen „illegaler Einflussnahme auf Zeugen“, da ein vermeintlicher Zeuge durch die Polizei massiv unter Druck gesetzt worden sein soll. Und im November 2011 wurde in Nanterre - in der Nähe von Paris - durch die dort ansässigen Justizbehörden ein Verfahren gegen die Polizei wegen Verdachts der Urkundenfälschung eingeleitet. Dies aufgrund des mutmaßlich manipulierten Beschattungsprotokolls, dem zufolge Julien Coupat und Yldune Lévy in der Nacht vom 07. zum 08. November 2008 im Auto verfolgt und in der Nähe eines „Anschlagsorts“ bei der Bahnsabotage verortet worden seien. Vgl. http://www.mediapart.fr/

Zwar scheinen also die Pläne von Teilen des Staatsapparats, einer gefährlichen „linksautonomen Verschwörung“ auf die Schliche zu kommen, im Zusammenhang mit der Tarnac-Affäre konkret ab absurdum geführt zu werden. Aber in diesen Tagen warnte Manuel Valls erneut vor einer „anarcho-autonomen Gefahr“, im Zusammenhang gegen die Widerstände gegen den umstrittenen neuen Flughafenneubau in Notre-Dame-des-Landes bei Nantes. Der Journalist Dufresne kommentiert im Chat mit der Pariser Abendzeitung Le Monde, an dem Punkt herrsche eben doch überwiegend politische Kontinuität. (Vgl. dazu http://www.lemonde.fr/ )

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.