Eine Würdigung
Hobsbawm als marxistischer Historiker

von Neil Davidson

12-2012

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Der kürzlich verstorbene Historiker Eric Hobsbawm wurde mehrfach als der größte, noch lebende marxistischer Historiker bezeichnet; da nun auch er Teil der Geschichte ist, mag es wohl angebracht sein, die Beziehung zwischen seinem historischen Werk und seiner Haltung als Marxist zu untersuchen. Manche seiner rechten Kritiker wie Michael Burleigh behaupten, Hobsbawms historisches Werk sei wegen seiner Unterstützung der UdSSR und anderer stalinistischer Staaten abzulehnen. Andere Kritiker, wie etwa Niall Ferguson, sind sich dessen bewusst, daß man Bücher wie Das imperiale Zeitalter nicht einfach aus politischen Gründen a priori ablehnen kann, gehen aber mit seinem Werk so um, als sei es völlig ohne Bezug zu der marxistischen Geschichtstheorie, deren Anhänger Hobsbawm war: Aus dieser Perspektive mag Hobsbawm zwar gefährliche und anstößige Ansichten vertreten haben, aber als Historiker soll er zumindest bis auf seine letzten Werken nicht zugelassen haben, daß sie einen ernstzunehmenden Einfluss auf sein wissenschaftliches Urteil ausübten.

Hobsbawm selbst hat stets behauptet, seine Geschichtsschreibung sei von seiner marxistischen Haltung nicht zu trennen und daß sie eigentlich erst durch seinen Marxismus ermöglicht wurde. Ich meine, daß er mit dieser Aussage Recht hatte. Hobsbawms orthodoxer Kommunismus bedeutete für uns antistalinistische Linke, daß seine politischen Einschätzungen – wie zum Beispiel sein merkwürdig verkürzter Begriff von der Arbeiterklasse oder die Ansicht, man könnte den Nationalismus für fortschrittliche Zwecke einspannen– mit äußerster Vorsicht zu genießen waren. Aber da sich seine wichtigsten Arbeiten niemals auf die mechanistischen Formeln stalinistischer Orthodoxie herunterbrechen ließen, wurde dem Gros seines historischen Werks wesentlich mehr Respekt entgegengebracht. Das erklärt vielleicht auch, warum seine Bücher – wie er mehrmals mit sichtlichem Groll bemerkt hat – vom Ungarischen oder vom Slowenischen abgesehen ins Russische und die meisten anderen osteuropäischen Sprachen erst nach dem Fall der Berliner Mauer übersetzt wurden. Eigentlich ist es eine der Paradoxien seines Werdegangs, daß er ungeachtet des stalinistischen Erbes stärker in der klassisch marxistischen Tradition verankert war als beispielsweise Edward Thompson, mit dem er seine kommunistische Prägung teilte.

Thompson gibt in der Tat einen sehr interessanten Vergleich ab. Natürlich muss man, wie die Namen Bloch, Braudel oder Ginzburg bezeugen, nicht notwendigerweise Marxist sein, um wichtige historische Werke hervorzubringen. So auch im Falle Thompsons. Obwohl sein Werk deutlich durch seine Identifikation als Sozialist mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten gekennzeichnet ist, kann man an dem theoretischen Gerüst seiner Schriften kaum etwas bezeichnend Marxistisches finden, nicht einmal in Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Das ist frustrierend; The Peculiarities of the English, eines der wenigen Werke, in dem er den Versuch unternommen hat, sein profundes historisches Wissen mit einem eindeutig marxistischen Theorieansatz zu vereinen, ist einer der bedeutendsten historischen Essays, die seit dem II. Weltkrieg in Großbritannien geschrieben wurden. Wegen seiner besonderen Begabungen ist Thompson auch ohne eine tragfähige theoretische Grundlage sehr erfolgreich gewesen, aber in Anbetracht des Mangels an solchen Begabungen unter der Mehrheit seiner Anhänger (Peter Limbaugh wäre die wichtigste Ausnahme) hat er einen verheerenden Einfluss ausgeübt.

Anders als Thompson weigerte sich Hobsbawm, nach 1956 aus der CPGB (Communist Party of Great Britain) auszutreten. Politisch kann diese Entscheidung auf unterschiedlichen Ebenen kritisiert werden, aber in seinem Fall war sie darauf zurüchzuführen, daß er an den grundlegenden Ideen des Marxismus festhielt, die von Thompson verworfen wurden.(1) Gelegentlich wird behauptet, Hobsbawms theoretischer Klassizismus zeige sich vor allem an seinem Festhalten an der Basis-Überbau-Metapher. Zutreffender wäre es zu sagen, Hobsbawm nahm an, daß die Beziehung zwischen der sozialen Organisierung der Produktion und den anderen in der Metapher enthaltenen Aspekten des menschlichen Lebens notwendigerweise der Ausgangspunkt dafür sind, Geschichte zu verstehen, das aber niemals als einen Ersatz für ein Verständnis von Geschichte betrachtete. Rein oberflächlich mögen die einzelnen Bände seines Quartetts über die Geschichte des Kapitalismus vom Format her mit den konventionellen Übersichtswerken vergleichbar sein, die der Form halber mit einem Kapitel über Kultur oder die Geisteswissenschaften abschließen, die Reste, die man noch einmal so abhandelt, wie man die wichtigeren ökonomischen und politischen Gegenstände zuvor abgehandelt hat. Hobsbawm hat etwas ganz anderes gemacht: Ganz bewusst baute er seine Werke so auf, daß man von den Aspekten des menschlichen Lebens, die unmittelbar mit der materiellen Reproduktion der Gesellschaft verbunden sind, zu denen hingeführt wird, die mit der ideologischen Repräsentation von Gesellschaft zu tun haben; die unterschiedlichen Aspekte stehen dabei nicht unabhängig für sich, sondern werden durch eine Reihe von vermittelnden Kapiteln in einen Zusammenhang gebracht. Das, was ihn wirklich als marxistischen Historiker auszeichnete, war sein Insistieren darauf, daß der Kapitalismus eine Totalität ausforme, die stets präsent sei, ganz gleich, wie winzig und unbedeutend der Aspekt sein mag, den der Historiker zum Gegenstand seiner Untersuchung macht. Da er in seinen bedeutenden Werken in theoretischen Dingen nur selten die Muskeln spielen ließ, ist dieses Insistieren auf die Totalität gewöhnlich ein implizites, das aber in unterschiedlicher Hinsicht manifest wird.

Die erste steht in Beziehung zu den von den modernen akademischen Disziplinen aufgezwungenen Kategorisierungen. Wie Hobsbawm bei mehreren Gelegenheiten zu bedenken gab, sind diese künstlich, willkürlich und begünstigen ein fragmentarisches und inkohärentes Weltbild. Der Umstand, daß marxistische Intellektuelle dieses Problem normalerweise ignorieren, lässt sich zumindest teilweise darauf zurückführen, daß sie – oder vielleicht sollte ich besser wir sagen – seit dem II. Weltkrieg überwiegend in einem Umfeld arbeiten, in dem allen Kniefällen vor der Multi- oder Interdisziplinarität zum Trotz die Identifikation mit einer bestimmten Disziplin gewissermaßen zu den Anstellungskriterien gehört. Marx selbst mag die einen Aspekte der sozialen Welt stärker als die anderen hervorgehoben haben, aber letztere werden nicht auf eine andere ‚Aufführung’ verwiesen, sondern sind gewissermaßen während der Dauer der Vorstellung hinter den Kulissen wirksam, ihre Gegenwart ist in der Handlung zu spüren. Das ist die Methode, an der Hobsbawm sich gehalten hat. Beim Lesen seiner Bücher und Essays lässt sich kaum bestimmen, an welcher Stelle der Historiker zum Anthropologen (Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert), Sozialhistoriker (Europäische Revolutionen. 1789 bis 1848), Sozialgeographen (Labour in the Great City) oder zum Kulturkritiker (Behind the Times) wird.

Die zweite ist wesentlich bedeutender. Hobsbawm erkannte, daß der Kapitalismus seit seiner Entstehung als eine bestimmte Produktionsweise – die seiner Meinung nach von der Krise im 17. Jahrhundert eingeläutet wurde – einen internationalen Charakter besitzt. Für Trotzki und seine Ideen hatte er nur wenig übrig; es entbehrt also nicht einer gewissen Ironie, daß sein geschichtswissenschaftliches Werk stets von einer Sichtweise geleitet wurde, die der Trotzkis ähnlich war. Aus dieser Perspektive wird die kapitalistische Weltwirtschaft nicht nur als die Summe ihrer einzelnen Bestandteile, also der Nationalstaaten, betrachtet, sondern ihr ein wirkungsmächtiges Eigenleben zugesprochen. Der Genuss, das Quartett der Reihe nach zu lesen, besteht unter anderem in der Art und Weise, in der der Leser mitverfolgen kann, wie sich von Das Zeitalter der Revolutionen bis zu Das Zeitalter der Extreme nach und nach die geographischen Grenzen des Kapitalismus von der im Wesentlichen europäischen Szenerie bis hin zu seinen heutigen globalen Ausmaßen ausdehnen.

Der dritte, gleichermaßen wichtige Aspekt seines Werks ist die Erkenntnis, daß das Leben der Ausgebeuteten und Unterdrückten nur im Zusammenhang mit dem Leben der Leute verstanden werden kann, die sie ausbeuten und unterdrücken. Das mag einem selbstverständlich vorkommen, aber obwohl Hobsbawm zusammen mit George Rude zurecht als einer der Begründer der ‚Geschichtsschreibung von unten’ betrachtet wird, hatte seine Arbeit niemals die Art Sozialgeschichte zum Gegenstand, die sich einfach nur mit der Struktur des Alltags auseinandersetzt. Endlose Wiederholungen des Anliegens, wie von Thompson ausgedrückt, „den armen Strumpfmacher, den Maschinenstürmer und Anbauer, den Handweber, für den es keine Verwendung mehr gab, den Utopisten und Kunsthandwerker, ja sogar die irregeleitete Gefolgschaft Joanna Southcotts (eine religiöse Schwärmerin, die die Zukunft prophezeite – Anm. d. Ü.) vor der ungeheuerlichen Herablassung der Nachwelt zu bewahren“, haben den Umstand verschleiert, daß an diesem Ansatz nichts spezifisch Marxistisches oder sogar Linkes ist, wenn er von anderen Autoren als Thompson oder ähnlich engagierten Leuten verfolgt wird. Dieser Ansatz geht eher mit einer Art detailversessener Liebhaberei einher. Hobsbawm war an dieser Sorte Geschichtsschreibung von unten nie interessiert, sondern konzentrierte sich statt dessen auf reale soziale Bewegungen – ganz egal, wie exzentrisch sie offensichtlich waren oder wie weit von der herkömmlichen Arbeiterbewegung entfernt –, wie etwa die millenarischen Sekten oder Sozialbanditen, die er in den 50er und 60er Jahren untersuchte. Und nie betrachtete er diese Bewegungen isoliert, sondern in Bezug auf die sozialen Kräfte, denen sie sich widersetzten: Für Hobsbawm beinhaltete Totalität notwendigerweise ebenso sehr die Geschichte von oben wie von unten, auch dann, wenn es die Subjekte letzterer sind, die Anspruch auf unsere rückblickende Sympathie und Solidarität erheben.

Aber während Hobsbawm den Kapitalismus als eine Totalität betrachtete, hat er diese Position in Bezug auf das, was er für den Sozialismus hielt, praktisch aufgegeben. In letzter Zeit beklagte er, wie man sich in den stalinistischen Staaten auf Kosten der Entwicklung von politischen Repräsentationsformen auf die ökonomische Transformation konzentrierte, so daß sich die Masse der Menschen letzten Endes an Revolutionen gegen die Staaten beteiligte, in denen sie von der Machtausübung ausgeschlossen war oder sich zumindest weigerte, für diese einzutreten. An dieser Stelle ist ganz deutlich ein Nachhall des strukturalistischen Marxismus zu vernehmen. Obwohl ich Hobsbawm nicht der Sympathien für Althusser verdächtige, ein Denker, dem gegenüber er stets eine berechtigte und gesunde Skepsis an den Tag legte, wäre ein Vergleich an einer bestimmten Stelle berechtigt. Alle, die behaupten möchten, die stalinistischen Staaten hätten ihre Grundlage auf einer sozialistischen Ökonomie gehabt, die aber gleichzeitig ihre Demokratiedefizite kritisieren, sind im Grunde genommen gezwungen, sich in einen nicht-marxistischen Pluralismus zu retten, wo jede Einsicht von einer vermittelten Totalität aufgegeben wird. In den Fällen Russlands seit dem Ende der 1920er Jahre und der anderen stalinistischen Regime seit ihren frühen Anfängen wurde die Zivilgesellschaft mit der ökonomischen Struktur auf eine Linie gebracht – die Demokratiedefizite waren keine Abweichung oder Residuum, sondern eine notwendige Voraussetzung für eine Akkumulation und Industrialisierung, die unter den Bedingungen eines bürokratischen Staatskapitalismus stattfanden. Es gab Zeiten, in denen Hobsbawm kurz davor war, das einzusehen. Vor allem in den Interviews, die er kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR gab, räumte er ein, daß Planwirtschaft und Staatseigentum nichts spezifisch sozialistisches sind. Diese Einsicht sollte aber das vom Zusammenbruch des Antiarbeiterstaats hervorgerufene Verlustgefühl, das er des öfteren zum Ausdruck brachte, in keiner Weise beeinträchtigen.

Das lag nicht so sehr an dem, wovon Hobsbawm dachte, was die Sowjetunion war, sondern daran, was er glaubte, was sie tat, vor allen Dingen ihr Beitrag zum Sieg über den Faschismus. Der entscheidende Moment für seine politische Entwicklung und als Historiker war weniger die Russischen Revolution – er wurde 1917 in der Zeit zwischen der Februar- und Oktoberrevolution geboren –, sondern die Volksfrontstrategie gegen Faschismus und Krieg, die 1935 von dem sowjetischen Regime verabschiedet und später (von der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes abgesehen) zur Standardposition stalinistischer Parteien wurde. Gefolgschaft der Volksfrontpolitik war wie bei Thompson und den anderen ehemaligen Mitgliedern der Historikergruppe der CPGB eine Konstante in Hobsbawms politischem Leben. Spätergeborene können nur sehr schwer nachvollziehen, wie die stalinistische Taktik für diejenigen, die zu dieser Zeit Sozialisten wurden, zum politischen Maßstab schlechthin werden, ja beinahe zu einer Art Gramscis „gesunder Menschenverstand“ avancieren konnte.

Das ist nicht der richtige Ort, die Schäden aufzuzählen, die die Sache des Sozialismus im 20. Jahrhundert an der Politik der Volksfront genommen hat; wenn sich Hobsbawms politischer Standpunkt in irgendeiner Weise negativ auf sein historisches Werk ausgeübt hat, dann ist es wohl sein Unvermögen, die Unterstützung dieser Strategie von ihrer Analyse zu trennen. Über weite Teile des Quartetts hält sich dieses Unvermögen in Grenzen, auch wenn sich schon im ersten Band in dem Kapitel über die Französische Revolution sein verzerrender Einfluss mit der Behauptung andeutet, das von den Jakobinern angeführte übergreifende Bündnis sei ein Modell für alle kommenden Revolutionen gewesen. Im letzten Band wirkt sich Hobsbawms Begeisterung für die Volksfront vollkommen verzerrend auf seine Schilderung des ‚langen 20. Jahrhunderts’ aus. Während die Volksfront ein ganzes, im feierlichen Ton verfasstes Kapitel in Anspruch nimmt, wird die Russische Revolution, deren größte Bürde gewesen sein soll, daß sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, pessimistisch auf ein paar Seiten abgehandelt.

Da sein Leben nun zu Ende gegangen und sein Werk abgeschlossen ist, wäre es Hobsbawm gegenüber nur gerecht, wenn seine kritischen Verehrer sich die Zeit nehmen würden, seine Leistung in ihrer Gesamtheit auszuwerten; und zwar frei von dem Druck, den eine sofortige Beurteilung, die in einem Nachruf erwartet wird, mit sich bringt. Ich bin zuversichtlich, daß nur relativ wenig seines umfangreichen geschichtswissenschaftlichen Werks von der politischen Tradition, der er angehörte, unwiderruflich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das Gros seines Werks stellt weitaus mehr dar als nur einen nachhaltigen Beitrag zur Kultur der Linken. Und die Kritiker der Rechten, die ständig von ihm forderten, eine Gesinnung zu widerrufen, die sein Leben und Werk inspiriert hat – können sie denn auf irgendeinen Historiker aus ihren eigenen Reihen verweisen, der in ähnlichem Maße in das öffentlichen Bewusstsein eingegangen ist?

Fußnoten

1 Damit will ich nicht sagen, dass die fortgesetzte CPGB-Mitgliedschaft eine notwendige Voraussetzung dafür war. Rodney Hilton und John Saville haben auch nach ihrem Austritt wichtige marxistische Werke hervorgebracht, und zwei der bedeutendsten britischen Historiker, Geoffrey de Ste Croix und Brian Manning, waren Marxisten, aber niemals Mitglieder der CPGB. Im Falle Hobsbawms schien zwischen beiden Sachverhalten ein direkter Zusammenhang zu bestehen.

Editorische Hinweise

Eric John Ernest Hobsbawm wurde am 9. Juni 1917 in Alexandria, Sultanat von Ägypten geboren; er verstarb am 1. Oktober 2012 in London.

Neil Davidsons Würdigung erschien am 29.10.2012 auf der Website  www.newleftproject.org
Er lehrt Soziologie an der University of Strathclyde. Erschienen sind von ihm ‚The Origins of Scottish Nationhood’ (2000) und ‚Discovering the Scottish Revolution’ (2003), wofür er mit dem Deutscher Memorial Prize und dem Fletcher of Saulton Award ausgezeichnet wurde. Zuletzt ist von ihm ‚How Revolutionary Were the Bourgeois Revolutions?’ erschienen.

Übersetzung ins Deutsche durch Andrea E. (TREND-Redaktion)