Widerstand unter Hartz IV

Work First

von Joachim Maiworm

12/11

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In ihrer Koalitionsvereinbarung vom Oktober 2009 beschloss die Bundesregierung, die „Effizienz der Arbeitsmarktinstrumente“ zu steigern und die Eingliederungsmittel für Langzeitarbeitslose radikal zu kürzen. In Folge der Umsetzung des „Sparpakets“ vom Herbst letzten Jahres dann wurde das Budget für die Eingliederungsmittel im SGB II von 6,2 Milliarden auf 4,6 Milliarden € heruntergefahren.

Kürzlich wurde bekannt, dass von den Jobcentern in diesem Jahr bis einschließlich Oktober erst 67,5 Prozent dieses Betrages ausgegeben wurden (nach Ablauf von 83,3 Prozent des Haushaltsjahres). Für Berlin betrug die Quote 71,8 Prozent. [1] Der Bundesregierung, der Bundesagentur für Arbeit und den Jobcentern sind die bisherigen Methoden, die Langzeiterwerbslosen in den ersten oder „zweiten“ Arbeitsmarkt zu bringen, zu teuer. Es ist also kaum verwunderlich, dass auch der öffentliche Beschäftigungssektor erodiert. 

Zur Entwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung  

Im November 2011 befanden sich bundesweit insgesamt 182.000 Personen in sogenannten Arbeitsgelegenheiten – 42 Prozent weniger als im Vorjahresmonat. Darunter waren etwa 157.600 „Ein-Euro-Jobs“ (Arbeitsgelegenheiten der Mehraufwandsvariante). Bei ihnen betrug der Rückgang gegenüber November 2010 etwa 40 Prozent. Die „bessere“ Ausführung der Arbeitsgelegenheiten, die Entgeltvariante, wird ganz abgeschafft. Von den im November geförderten Personen befanden sich 87 Prozent in der Mehraufwands- und 13 Prozent in der Entgeltvariante. In letzterer arbeiteten noch etwa 20.500 Personen im Vergleich zu 52.800 im Vorjahresmonat. [2] 

Auch in Berlin ist ein starker Rückgang bei der öffentlich geförderten Beschäftigung zu verzeichnen. Im Jahresvergleich zum November 2010 nahmen 14.615 weniger Menschen an entsprechenden Maßnahmen teil (2010: 38.496 / 2011: 23.881). Im November 2011 belief sich die Zahl der „Ein-Euro-Jobs“ in der Hauptstadt auf 14.236 gegenüber 24.532 im Vorjahresmonat. Die Anzahl der Beschäftigten mit der Entgeltvariante sank von November 2010 bis November 2011 von 13.435 auf 7.993 ebenfalls um über 40 Prozent. [3] 

Das Modell „Bürgerarbeit“ als Übergangsprojekt  

Das Modellprojekt „Bürgerarbeit“ wurde am 15. Juli 2010 ins Leben gerufen, ein 1,3 Milliarden teures Programm, kofinanziert vom Europäischen Sozialfonds. Nach einer sechsmonatigen „Aktivierungsphase“, in der möglichst viele aus der Zielgruppe (160.000 Erwerbslose) in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden sollen, folgt die Beschäftigungsphase für maximal etwa 34.000 Personen – bis längstens Ende 2014, denn dann läuft das Projekt aus. Ende Oktober 2011 befanden sich bundesweit aber lediglich 15.368 Menschen im praktischen Teil der „Bürgerarbeit“, besetzten also eine Stelle (für 900 € brutto, in Berlin auf 1.300 € brutto aufgestockt). In Berlin arbeiteten im Juni dieses Jahres genau 58 Leute als Bürgerarbeiter/innen, im Oktober 634, im November 865. [4] Die für die Hauptstadt als Maximum vorgesehene Zahl von 7.000 ist also längst nicht erreicht. Die quantitative Entwicklung des Modellprojekts zeigt, dass die „Bürgerarbeit“ die drastische Reduzierung der „Arbeitsgelegenheiten“ (in der Mehraufwands- sowie der Entgeltvariante) keinesfalls kompensieren kann. 

Deutet sich hier etwa ein Paradigmenwechsel bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen an? Führt der Weg ab jetzt in eine andere Richtung, weg von „Workfare“ bzw. der grundsätzlichen Arbeitspflicht für Erwerbslose? Werden die für den Arbeitsmarkt „Überflüssigen“ von Staat und Gesellschaft nur noch als reine Kostenträger bewertet und deshalb von teuren „Integrationsmaßnahmen“ ausgeschlossen? Oder sollen derartige Veranstaltungen zukünftig ohne zwischengeschaltete und kostenträchtige Träger organisiert werden? Wird also ein radikales Umsteuern in Richtung kommunaler Arbeitseinsatz auf Grundsicherungsniveau und ohne bürokratisches Beiwerk (Träger etc.) vorbereitet?  

Es spricht manches dafür, dass der Workfare-Variante die Zukunft gehört. Denn einerseits bedeutet die erkennbare Schwächung der Qualifizierungs- und Beschäftigungsträgerlandschaft nicht, dass eine Pflichtarbeit für Erwerbslose künftig nicht mehr organisiert werden soll – vielmehr wird überlegt, wie sie effektiver, kostengünstiger abgeleistet werden kann. Andererseits sollen Erwerbslose sich daran gewöhnen, für ein Entgelt auf Höhe des Existenzminimums zu arbeiten. Damit es gesellschaftlich akzeptabel wird, dass auch das Niveau der mittleren und niedrigen Vollzeitlöhne und -gehälter sich tendenziell dem Grundsicherungslevel annähert.

Dass unter anderem mit der „Bürgerarbeit“ ein Angriff auf existenzsichernde Tariflöhne erfolgt, um Niedrigstlöhne auf breiter Ebene etablieren zu können, belegt der Konflikt um die Gültigkeit des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlaubte im April 2011 entgegen den bislang geltenden Förderbedingungen die Arbeitnehmerüberlassung im Rahmen der „Bürgerarbeit. In ihrer Antwort auf eine Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Bundestag ergänzte die Bundesregierung, dass die Leiharbeit in Fällen gelten solle, in denen vor Ort zwischen den Tarifvertragsparteien keine Einigkeit über die Anwendbarkeit des TVöD bestehe. Damit wird die Einrichtung von Bürgerarbeitsplätzen auf Basis eines Niedrigstlohns garantiert. (vgl. BT-Drucksache 17/6999,16.9.2011). 

Alarm in der Beschäftigungsindustrie 

Die staatliche Kürzungspolitik bekommen auch die Organisatoren eines Großteils der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu spüren. Der Berliner Verband für Arbeit und Ausbildung (bvaa), Dachverband von etwa 45 Trägern in der Hauptstadt, beklagt, dass seine Mitgliedsorganisationen 2011 mit 200 Mio. € weniger für die Arbeitsförderung auskommen müssen als 2010. Der Eingliederungstitel, aus dem die 12 Berliner Jobcenter die Mehraufwandsentschädigungen, die Weiterbildung und andere Trainingsmaßnahmen finanzieren, wurde von 680 Mio. € im Jahr 2010 auf 480 Mio. € in 2011 gekürzt. „Hochgerechnet werden dieses Jahr mehr als 1.000 Beschäftigte bei den Bildungs- und Beschäftigungsträgern nicht mehr beschäftigt werden können“, so der Verband in einer offiziellen Stellungnahme. [5] 

In der Folge erhielten einige Beschäftigungsträger von verschiedenen Berliner Jobcentern bereits die Aufforderung, ihre Maßnahmepauschalen im Rahmen der „Arbeitsgelegenheiten“ grundsätzlich auf ca. 150 € auszurichten. Ein Betrag, für den nach Meinung des Verbandes nur noch die Administration der Maßnahmen möglich sei, aber keine Qualifizierung, fachliche Begleitung oder ein vermittlungsorientiertes Arbeiten. Bisher lag für Berlin die durchschnittliche Maßnahmepauschale bei 271 € (Ostdeutschland 191 €, Westdeutschland 299 €; bundesweit 253 €). [6] 

Auch der Paritätische Gesamtverband schlug Mitte des Jahres Alarm. In der Freien Wohlfahrtspflege gibt es rund 1.000 Unternehmen. Etwa 200 dieser Beschäftigungs- und Qualifizierungsträger sind unter dem Dach des Paritätischen organisiert. Im Rahmen einer Umfrage unter den Mitgliedsorganisationen äußerten sich 140 Träger zur weiteren Entwicklung in 2011. Bereits in diesem Frühjahr mussten demnach 60 Prozent von ihnen Stammkräfte entlassen (insgesamt etwa 20 Prozent). Fast die Hälfte der Träger verfügt über nicht mehr als fünf Vollzeitstellen, so dass eine drastische Reduzierung der Aufträge für sie sofort existenzbedrohend ist. 53 Prozent der Unternehmen berichteten in der Befragung von deutlichen Einschränkungen ihrer Arbeit durch die Kürzungspolitik und 37 Prozent sogar von massiven, ggf. zur Insolvenz führenden Restriktionen. Insgesamt wurde mit einem Maßnahmenrückgang von 37 Prozent gerechnet. [7] 

Dennoch sendete die ARD am 14. November eine Reportage mit dem Titel „Die Hartz-Maschine“, in der die Beschäftigungsindustrie als Profiteur der Arbeitslosigkeit angegriffen wurde. [8] Demnach füttern hierzulande die Jobcenter auf Kosten der Steuerzahler mit Milliardenbeträgen eine Vielzahl von Trägern, die als Gegenleistung die erwerbslosen Teilnehmer/innen mit größtenteils unsinnigen Trainings- und Beschäftigungsmaßnahmen nerven. Verwöhnt werden aber auch die Jobcenter-„Kunden“, die ihren Hartz-IV-Status als „Eintrittskarte in eine Fast-Gratiswelt“ nutzen können (kostenlose Nahrungsmitteln bei den vielen Tafeln in der Republik). Aber: Arbeiten wollen viele „Hartzer“ nicht. Die verantwortliche Journalistin reiht in ihrem Beitrag Klischee an Klischee, um zu resümieren: Schluss damit! Es geht auch anders! Eine Reise über die Grenze in die Niederlande beweist es. Dort, so berichtet sie, müssen alle, die „Geld vom Amt“ wollen, arbeiten oder sich ausbilden lassen. Für die Arbeit gibt es nichts zusätzlich, sondern nur das monatliche Arbeitslosengeld von 873 €, so die Stimme aus dem Off. Ein Teilnehmer einer Maßnahme sagt in die Kamera: „So ist das Leben. Du musst arbeiten, wenn du Geld haben willst!“ Und wird dabei, so heißt es, in der Frage von einer breiten gesellschaftlichen Übereinkunft gestützt. Der Beitrag hinkte der aktuellen Entwicklung allerdings bereits meilenweit hinterher, denn viele Träger haben ja zurzeit mit einem starken Auftragsrückgang zu kämpfen und der öffentliche Diskurs übt nicht erst seit gestern einen deutlich wahrnehmbar Druck auf alle arbeitsfähigen Menschen im Land aus, sich nach Kräften zu engagieren.  

Nationales Engagement und Privatwirtschaft 

So forderte zum Beispiel kürzlich der Bestsellerautor Richard David Precht öffentlichkeitswirksam in einer Talkshow die Einführung eines sozialen Pflichtjahres für Renter/innen. Im letzten Jahr beschloss die Bundesregierung die erste Nationale Engagementstrategie und die Nationale Strategie zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen. Das bürgerschaftliche und das unternehmerische Engagement „zum Wohle aller“ solle gestärkt und miteinander verknüpft werden. Die üblichen wiederkehrenden „Faulheitsdebatten“ tun das übrige.  

Warum also sollte es nicht bald einen Konsens darüber geben, dass Erwerbslose zukünftig auch in Kooperation mit Unternehmen oder, ganz offiziell, im privatwirtschaftlichen Bereich „für die Gesellschaft“ arbeiten und sich dabei ihre Grundsicherung „ehrlich“ verdienen müssen? Dafür wären natürlich zunächst politische und juristische Hindernisse zu überwinden. In erster Linie das Prinzip der sogenannten Zusätzlichkeit bzw. der Wettbewerbsneutralität. So hatte das Bundessozialgericht im April 2011 in einer richtungsweisenden Entscheidung Absolventen von Arbeitsgelegenheiten, die die Voraussetzung der Zusätzlichkeit nicht erfüllten, eine Entlohnung in Höhe des geltenden Tariflohns zugestanden. Dagegen aber rebellieren bereits einzelne Kommunen. Die meisten „Ein-Euro-Jobs“ in der Stadt seien nun bedroht, monierten beispielsweise Abgeordnete im Münchner Stadtrat. Der dortige Oberbürgermeister wurde deshalb im vergangenen Sommer damit beauftragt, sich bei Land und Bund für die Aufhebung des Kriteriums der Zusätzlichkeit einzusetzen. Damit auch eine „marktnahe“ Beschäftigung durch soziale Träger möglich wird bzw. bleibt. [9] 

Die Vordenker der Vollbeschäftigung bei Niedrigstlöhnen 

Auch die ARD-Sendung warb für eine Workfare-Politik par exellence, die von der Politik allerdings schon tendenziell betrieben wird. Offenkundig geht es darum, mittelfristig eine Vollzeitstelle auf Grundsicherungsniveau im gemeinnützigen Bereich oder im ersten Arbeitsmarkt gesellschaftlich akzeptabel zu machen. Der Billiglohnsektor muss entsprechend ausgeweitet und formiert werden. Dabei hat die Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland bereits n den letzten Jahren im internationalen Vergleich besonders stark zugenommen und zu einer ausgeprägten Lohnspreizung geführt. Das stellte unter anderen eine Studie der Bertelsmann-Stiftung fest, die auf den beschleunigten Zuwachs an atypischer Beschäftigung verweist. [10] Und das keineswegs kritisch, sondern fast stolz, denn die Stiftung war federführend an der Entwicklung der Agenda 2010 beteiligt. Die bürgerlichen „Think-Tanks“ wissen, dass sie allen Grund haben, sich selbst zu feiern. 

Das Bonner Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) skizzierte im Sommer 2010 die Kernelemente einer neuen „Agenda 2020“. Die fundamentalen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformen seit 2003 hätten inzwischen eine deutlich positive Wirkung erzielt. Die Wiederherstellung von Vollbeschäftigung sei möglich – auf Basis einer Umsetzung des Workfare-Prinzips, also einer direkten Kopplung der Grundsicherung an eine Gegenleistung in Form von Arbeit oder auch Qualifizierungsmaßnahmen. Wenn für das Existenzminimum gearbeitet werden muss, so die IZA-Ideologen, „wird jeder Job im Markt attraktiv, bei dem man mehr verdienen kann als die Grundsicherung“. [11] 

Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) und sowohl Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens wie der Vollbeschäftigung, schwelgt in höchsten Tönen: „Voller Bewunderung schaut die Welt auf Deutschland. Als ‚The German Miracle’ wird bezeichnet, was sich hierzulande abspielt. Das für die meisten schon zur Utopie gewordene Ziel der Vollbeschäftigung könnte bereits in wenigen Jahren Wirklichkeit werden.“ Er datiert den Übergang von einer aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik mit der Verabschiedung des Job-AQTIV-Gesetzes 2001 und warnt vor einer Rücknahme dieser Strategie. Im Gegenteil: Er will den Prozess weiter antreiben, steuert „mehr Flexibilität“ und „mehr Deregulierung“ an, um die Beschäftigungsquote der gering Qualifizierten zu erhöhen. [12] 

Joboffensive Berlin 

Folgt die Politik ihren Vordenkern, wird der Druck auf die Erwerbslosen weiter zunehmen. Die am 1. Juni gestartete „Joboffensive“ in Berlin gibt einen Vorgeschmack. Durch das gemeinsame Projekt der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur und des Berliner Senats sollen innerhalb von zwei Jahren mindestens 20.000 der etwa 65.000 als „marktnah“ kategorisierten Erwerbslosen in sozialversicherungspflichtige Jobs vermittelt werden. Dazu wurden 350 neue Arbeitsvermittler/innen für zwei Jahre befristet eingestellt und weitere 300 aus anderen Abteilungen für das Modellprojekt umgesetzt, d.h. von den Nicht-„Marktnahen“ abgezogen. Spezielle Arbeitgeber-Teams akquirieren aktiv Stellen in der Privatwirtschaft, um das Vorhaben umsetzen zu können. Die „Kontaktdichte“ zwischen Vermittler/in und „Kunde“ wird erhöht, die Wahrscheinlichkeit von Sanktionen wegen evtl. Meldeversäumnisse ebenfalls. Frank Steffel, der in Berlin für die CDU die rot-schwarzen Koalitionsverhandlungen zum Thema Wirtschaft führte, verlangte jüngst im Nachrichtenmagazin „Focus“ ein Ende der Akzeptanz von Leistungsverweigerung. Berliner dürften es sich nicht länger auf Kosten der Allgemeinheit ohne Arbeit bequem machen, sagte er. Notfalls müssten die Jobcenter mehr Sanktionen verhängen. Ziel der Koalition sei eine Verringerung der Hilfsquote um zehn Prozent in den kommenden fünf Jahren. Das würde eine Reduzierung der Hartz-IV-Empfänger um 30 000 Haushalte bedeuten. Auch sei der Öffentliche Beschäftigungssektor (ÖBS) in Berlin viel zu teuer und nicht effektiv genug. Es werde einen „Paradigmenwechsel“ in der Arbeitsmarktpolitik in der Stadt geben. [13] 

Anstieg bei den Sanktionen 

Aber in der Frage der „Aktivierung“ findet eher ein schleichender, stetiger Prozess statt, als dass es zum „Big Bang“ kommt. Denn schon im letzten Jahr nahm die Anzahl der Sanktionen um 14 Prozent gegenüber 2009 zu. In der ersten Hälfte 2011 wurden bereits über 12 Prozent mehr Strafen verhängt als im gleichen Zeitraum im Vorjahr. Im ersten Quartal dieses Jahres waren Versäumnisse von Beratungsterminen viermal so häufig der Grund für Sanktionen als abgelehnte Jobangebote. Obwohl die Zahl der erwerbsfähigen Bezieher von Arbeitslosengeld sinkt, steigt die Anzahl der verhängten Leistungskürzungen. 41 Prozent der Widersprüche verliefen 2008 ganz oder teilweise erfolgreich, vor den Sozialgerichten gewannen 61 Prozent der Kläger/innen ihre Verfahren. [14]

Fazit: Die Sanktionspraxis wird kontinuierlich verschärft, die Rechtsbeugung bildet zunehmend einen integralen Bestandteil der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik.  

Tendenz „Null-Euro“ 

Das bundesweite Modellprojekt „Bürgerarbeit“, das nur einen Verdienst von 900 € brutto vorsieht, bereitet sowohl die Erwerbslosen wie die Öffentlichkeit auf die zukünftige Lohnentwicklung vor. Die Bundesagentur für Arbeit schlägt im Zusammenhang mit der „Instrumentenreform“ eine Bündelung der verschiedenen Versionen der öffentlich finanzierten Beschäftigung in einem einzigen „SGB-II-Produkt“ vor, das der Mehraufwandvariante entspricht. Wegen des Kostendrucks sollen die Maßnahmepauschalen gedeckelt werden. Das impliziert die Idee eines „Null-Euro-Jobs“. Die Frage stellt sich, wie das Nachfolgeprojekt des Modells „Bürgerarbeit“ aussehen oder welche Idee schon vor Ende 2014 zur Realität wird. Eines jedenfalls ist bombensicher: Für die „Arbeitsmarktferneren“ soll so wenig Geld wie möglich investiert werden. Auch bei der Organisation der anstehenden Maßnahmen wird also die Kosteneffizienz im Mittelpunkt stehen. Verschwinden mittelfristig die teuren Beschäftigungsträger? Dass es auch weitgehend ohne sie geht, beweisen Modellprojekte in Hessen und Nordrhein-Westfalen. [15] 

Work First in NRW 

In Nordrhein-Westfalen testet das dortige Arbeitsministerium im Rahmen eines Projekts in ausgewählten Jobcentern des Landes und in Abstimmung mit der Bundesagentur für Arbeit den „Work first“-Ansatz für erwerbsfähige Leistungsberechtigte im SGB II. Mit „Work first“ wird die Zielsetzung aller Maßnahmen betont, die Leistungsberechtigten möglichst schnell wieder in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu bringen. Das Konzept stammt aus den USA und wurde in erster Linie auch in den Niederlanden praktiziert. Aktivierungsmaßnahmen werden bislang üblicherweise im Auftrag der Jobcenter an Träger vergeben. Ausgewählte Jobcenter, so zum Beispiel in Herne, Bochum, Düsseldorf und Paderborn, führen die Aktivierungsmaßnahmen aber in eigener Regie durch. Sie übernehmen die Tätigkeit der Träger einfach selbst. Beispielhaft soll in dem bis Ende 2012 laufenden und vom Europäischen Sozialfond (ESF) kofinanzierten Projekt erprobt werden, ob die Integration in den ersten Arbeitsmarkt unter Verzicht auf die Maßnahmeträger erfolgreich verlaufen kann und ob dieser Ansatz auf andere Jobcenter übertragbar ist.  

Wer sich beispielsweise in Herne arbeitslos meldet und Transferzahlungen beantragt, wird schon nach wenigen Tagen eingeladen, sich in einer Gruppe weiterer Betroffener und mit professioneller Unterstützung (Coachs) im Hause auf die Suche nach einem neuen Job zu machen.

Zumindest die als arbeitsmarktnah eingestuften müssen sich für acht Wochen an drei Tagen pro Woche für je drei Stunden ins Jobcenter begeben (Präsenzpflicht) und sich „profilen“ lassen. In Mülheim dagegen können die verschiedenen Maßnahmen (z.B. Qualifizierungsseminare) insgesamt auch sechs oder zwölf Monate in Anspruch nehmen. Herne will Kürzungen bei den Eingliederungstiteln in zusätzliches Personal für „Work first“ umwandeln, um das Konzept kostenneutral gestalten zu können. Auch sollen für die Erwerbslosen aktiv Stellen akquiriert werden, vor allem auch mit „einfachen“ Tätigkeiten. Entscheidend ist, dass die Leistungsbezieher/innen möglichst schnell in einem Betrieb untergebracht werden können. Dann rechnet sich das Vorhaben. Qualifizierungen stehen grundsätzlich nicht im Zentrum der Überlegungen. In Bochum stellte sich heraus, dass etwa 20 Prozent der Zielgruppe (hier: die unter 25-Jährigen) die Maßnahme gar nicht erst antreten. Sie haben deshalb mit Sanktionen und sogar Hausbesuchen zu rechnen.  

Leitbild Niederlande 

„Work first“ in Deutschland orientiert sich am Vorbild in den Niederlanden. Deren „Hartz IV“ fand bereits im Jahr 2004 statt, also ein Jahr früher als bei uns. Die damalige Einführung des neuen Fürsorge- und Sozialgesetzes („Wet Werk en Bijstand“) erleichterte einen erzwungenen Arbeitseinsatz von Arbeitslosen. Auffallend war, dass der von der Regierung propagierte Grundsatz eines Arbeitszwangs auf eine breite Akzeptanz in der niederländischen Bevölkerung stieß.  

Über ein begleitendes und offensichtlich Wirkung erzeugendes Orwellsches „Neusprech“ wird im Nachbarland berichtet: Eine unter Androhung von sozialen Kürzungen auferlegte Arbeit wird als ein „Angebot“, eine „Herausforderung“ oder „neue Chance“ verkauft. Man wird offiziell nicht gezwungen einen bestimmten Job auszuführen, sondern dazu „eingeladen“ wieder „mitzumachen“. 2005 schlug der damalige Premierminister Balkenende passenderweise vor, das Adjektiv „arbeitslos“ aus dem Wortschatz zu streichen und stattdessen die Formulierung „zwischen zwei Jobs“ zu benutzen. Ein Leben ohne „Arbeit“ soll nicht einmal mehr gedacht werden können! [16]  

Im letzten Jahr besuchte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen das Nachbarland, in dem die Erwerbslosen aufgefordert werden, schnell wieder im ersten Arbeitsmarkt Anschluss zu finden oder in den Städten und Gemeinden, von denen sie die Transferleistungen beziehen, gemeinnützige Arbeit leisten müssen. Die Niederländer seien der deutschen Entwicklung voraus, sagte die deutsche Ministerin. Aber sie ergänzte auch: „Wir haben ähnliche Gesetze. Wir fangen nicht bei Null an“. [17]

Auch in Deutschland werden die Gemeinden als Akteure der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik gestärkt. Mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (SGB II) wurde 2004 die gesetzliche Grundlage für das Optionsmodell geschaffen. Bis zu 69 Landkreise bzw. kreisfreie Städte konnten die alleinige Trägerschaft der Grundsicherung für Arbeitssuchende beantragen, um ggf. alternative Modelle zur Eingliederung Erwerbsloser zu erproben. Ab Januar 2012 werden 41 weitere Kommunen als zugelassene Träger die Grundsicherung für Arbeitssuchende alleine betreuen.

Eine Vorbedingung für eine Umstellung in Richtung des Konzepts „Work first“, nach dem zunehmend dezentral und ohne teure Trägerlandschaft Arbeitseinsätze organisiert werden könnten. 

Das Neueste aus dem Nachbarland 

Tabula rasa in den Niederlanden: Die neue Regierung in Amsterdam streicht gerade die Gelder für die Wiedereingliederung von Arbeitslosen, auf zentralstaatlicher wie auf kommunaler Ebene, zusammen. Subventionierte zusätzliche Arbeitsplätze, die keine reguläre Arbeit verdrängen, werden vollkommen abgeschafft. Die soziale Aktivierung (unbezahlte Arbeit) von Sozialhilfeempfängern ohne Chancen auf normale Erwerbsarbeit wird beendet. Investiert wird nur noch in die Arbeitslosen mit großen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die neue Sozialhilfe tritt ab Januar 2013 in Kraft. „Unter dem neuen System muss die Arbeit, die Arbeitslose verrichten, nicht mehr zusätzlich sein. Diese Arbeiten werden bei kommerziellen Arbeitgebern verrichtet und umfassen dieselben Tätigkeiten, die auch reguläre, nicht behinderte Arbeitnehmer verrichten“, berichtet Piet van der Lende von der Amsterdamer Erwerbsloseninitiative Bijstandsbond. [18] Der letzte Hinweis ist wichtig, denn durch das neue System wird den Arbeitgebern freigestellt, ob sie den gesetzlichen Mindestlohn oder den Tariflohn bezahlen, wenn sie Behinderte einstellen. Langzeitarbeitslose gelten von nun an als „teilweise behindert“, weil sie bestimmte Arbeitsfähigkeiten verloren haben. Im neuen System erhält der teilweise Behinderte, sofern er arbeitet, 70 Prozent des gesetzlichen Mindestlohnes, was dem sozialen Minimum entspricht. Er erreicht jedoch nie den vollständigen Mindestlohn. 

„Die Niederlande sind der deutschen Entwicklung voraus“, resümierte die deutsche Arbeitsministerin bei ihrem Arbeitsbesuch im vergangenen Jahr in Amsterdam. Wir sollten dafür sorgen, dass die Holländer nicht eingeholt werden. 

Anmerkungen

1 vgl. BIAJ-Materialien (Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e.V.), 18.11.2011 http://biaj.de/

2 vgl. „Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland, Monatsbericht November 2011“, Bundesagentur für Arbeit (BA), S. 30ff und 82 http://statistik.arbeitsagentur.de/

3 vgl. „Alternativer Arbeitsmarktreport Berlin“, Berliner Verband für Arbeit und Ausbildung (bvaa), November 2011 http://www.bvaa-online. und bvaa, „Geförderte Beschäftigung und Qualifizierung in Berlin; November 2011“ http://www.bvaa-online.de/

4 bvaa, „Geförderte Beschäftigung und Qualifizierung in Berlin; November 2011“ http://www.bvaa-online.de/obj/APUE/Statistik_November 

5 Pressemitteilung des bvaa vom 7.1.2011 http://www.bvaa-online.de/obj/Aktivitaeten2011/A01-11  

6 Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2009; vgl. Offener Brief des bvaa vom 19.1.2011http://www.bvaa-online.de/obj/Aktivitaeten2011/B-55a 

7 „Arbeitsmarktpolitik mit der Abrissbirne: Paritätische Studie belegt dramatische Reduzierung der Hilfen für Langzeitarbeitslose“, Pressemeldung des Paritätischen Gesamtverbandes vom 31.5.2011 http://www.der-paritaetische.de/ 

8 „Die Hartz-Maschine: Geschäfte mit der Arbeitslosigkeit“ (ARD, 14.11.2011), von Rita Knobel-Ulrich http://mediathek.daserste.de

9 Rudolf Stumberger, „Rotgrüner Spagat in München“, in: Telepolis, 7.12.2011 http://www.heise.de/ 

10 vgl. W. Eichhorst/ P. Marx/ E. Thode, Atypische Beschäftigung und Niedriglohnarbeit – Benchmarking Deutschland: Befristete und geringfügige Tätigkeiten, Zeitarbeit und Niedriglohnbeschäftigung, Gütersloh, 2010 (Bertelsmann-Stiftung)  http://www.bertelsmann-stiftung.de/) 

Ein Zitat zum Niedriglohn: „Unter 8,50 Euro, also der von den Gewerkschaften als Mindestlohn geforderten Bezahlung pro Stunde, arbeiteten 2009 fast 5,8 Mio. Beschäftigte. Die Zahl der Betroffenen dürfte sogar noch höher liegen, da bei den Berechnungen aus methodischen Gründen Schüler, Studierende und Rentner sowie Nebenjobber nicht einbezogen wurden.“ vgl. „Neue Zahlen zur Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland“, Pressemitteilung vom 15.11.2011, Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ, Uni Duisburg-Essen) http://www.iaq.uni-due.de

11 „Krisenfester deutscher Arbeitsmarkt: IZA legt ‚Agenda 2020’ vor“, in: IZA Compact, Juli/August 2010, S. 4 

12 „Wege zur Vollbeschäftigung“ (hrsg. v. Prof. Dr. Thomas Straubhaar), Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut gGmbH (HWWI), Mai 2011, S. 4 http://www.hwwi.org/

13 vgl. http://www.gegen-hartz.de/

14 vgl. Tom Strohschneider, „90 Euro im Schnitt“, Freitag 2.12.2011 http://www.freitag.de

15 Paul Pantel, „Der ‚Work first’-Ansatz für erwerbsfähige Leistungsberechtigte im SGB II“, in: G.I.B.-Info (Heft 4/2011) http ://www.gibinfo.de

16 Louis van Overbeek, „Niederlande: ‚Zwangsarbeit - Kleiderhaken sortieren oder krepieren’“, 13.12.2007 http://www.peng-ev.de

17 vgl. Maike Rademaker, „Holland ist Westerwelle-Land“, Financial Times Deutschland 23.2.2010 http://www.ftd.de/

18 Piet van der Lende, „Niederlande: Neues Gesetz unterläuft Mindestlohn“, in: SoZ 11/2011 http://www.sozonline.de/

Editorische Hinweise

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