Neue
Frontlinien tun sich in der politischen Landschaft mehrerer
nordafrikanischer Länder auf. Bislang bildeten dort die
Islamisten eine zwar eher in der rechten als der linken Hälfte
der politischen Landschaft angesiedelte, doch durch einen betont
„sozialen“ Diskurs, bei gleichzeitiger wirtschaftsliberaler
Grundprogrammatik, auch über Anhänger in den sozialen
Unterklassen verfügende Kraft. Demgegenüber rückte ein Teil der
Linken stark die soziale Frage in den Vordergrund und betonte,
auf die Dauer würden sich die von sozialen Motiven und
„Verteilungsgerechtigkeit“ geleiteten Wähler angesichts von
ihrer „Realpolitik“ von den wichtigsten islamistischen Partei
abwenden. Umgekehrt bauten manche Linken und Liberalen, die sich
vor allem aus den Bildungseliten rekrutierten, die Abgrenzung zu
den Islamisten absolut in den Vordergrund.
Im
Mittelpunkt stand diese Problematik bis vor kurzem besonders
auch bei den ex-kommunistischen Parteien im Maghreb. Nach 1989
erlitten diese früher an der Sowjetunion ausgerichteten Parteien
in ihrer Mehrheit einen kompletten Orientierungsverlust. Ähnlich
wie das Gros der italienischen Ex-Kommunisten führte sie dies in
eine ziel- und perspektivlose, ihre sämtliche früheren „Wert“
aufgebende, für Außenstehende
oft eher peinlich wirkende Politik.
Im Falle
Algeriens plädierten die Ex-Kommunisten schon nach den ersten
freien Wahlen überhaupt - den Kommunalwahlen vom Juni 1990, und
mehrere Monate bevor die erstarkende „Islamische Rettungsfront“
(FIS) auch gewalttätig auftrat - dafür, das ganze Land sei
„nicht reif für die Demokratie“. Sie bettelten die Militärs
förmlich darum, einzugreifen und dem ein Jahr zuvor
eingeleiteten Demokratieexperiment Ende zu setzen, das auf die
Implosion eines Ein-Parteien-Staats gefolgt war. Dies trug dazu
bei, der Wut von Anhängern und Aktivisten der dortigen
Islamisten eine wesentlich stärker auch gegen die Linke
gerichtete Spitze zu verleihen. Ursächlich für die fast
existenzielle Panik der vormaligen „Partei der sozialistischen
Avantgarde“ (PAGS), der algerischen Ex-Kommunisten, war ihre
haushohe Wahlniederlage 1990. Sie hatten sich nach Jahrzehnten
der couragierten Oppositionstätigkeit erhofft, nun eine der
stärksten Kräfte zu werden, traten jedoch zum denkbar
schlechtesten historischen Zeitpunkt ans Tageslicht - genau
während des Zusammenbruchs des Ostblocks. Heute sind noch Reste
ihres früheres Kaderpotenzials als Journalisten in der
algerischen Presse zu finden.
Die
tunesischen und marokkanischen Ex-Kommunisten wirkten in
jüngerer Zeit nicht ganz so erbärmlich. Beide verfügten über
eigene Partei, die eher bürgerlich-liberal auftraten,
Ettadjid (Erneuerung) in Tunesien und den PPS (Partei
für Fortschritt und Sozialismus) in Marokko. Unter dem Ben
Ali-Regime nahm selbige am „legalen“ politischen Leben teil, als
offiziell tolerierte Oppositionspartei in einem Parlament,
dessen Sitze von vornherein zu 80 Prozent den Anhängern Ben Alis
reserviert waren. Im Rahmen der Qotla (Block)
genannten Regierungskoalition unter Einschluss der
marokkanischen Sozialdemokratie in Gestalt der USFP und der
bürgerlich-antikolonialen Partei Istiqlal
(Unabhängigkeit) reagierte der marokkanische PPS in den letzten
Jahren mit. Beide Parteien rechtfertigten ihr politisches
Agieren dadurch, dass sie zwar keine klassenpolitischen
Veränderungen mehr versprechen, aber für die Verteidigung
bürgerlicher Freiheitsrecht gegen die Islamisten einträten.
Am
vorvergangenen Wochenende (10./11. Dezember 11) nun kam es zu
einer neuen Verschiebung der politischen Frontlinien. Auf einem
Kongress in Salé beschloss der marokkanische PPS mit 400
Delegiertenstimmen dafür und 52 dagegen, an einer künftigen
Regierungskoalition unter Anführung des islamistischen PJD
(„Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) des designierten
Premierministers Abdelila Benkirane teilzunehmen. Dies wurde
dadurch gerechtfertigt, dass man „die Interessen der
Nation über jene der Partei stellen“ müsse und zudem in
einem Regierungsbündnis „die bürgerlichen Freiheitsrechte
verteidigen“ werde.
Auch die
bürgerlich-nationalistische Partei Istiqlal
stimmte am Sonntag, den 11. Dezember auf einer Tagung einer
Koalition zu. Hingegen wird die USFP oder „Sozialistische Union
der Volkskräfte“, bislang die führende Regierungspartei,
voraussichtlich in die Opposition gehen.
Die
moderat-islamistische Partei kann damit eine Koalition vor allem
mit Kräften aus der bisherigen Mitte-Links-Koalition Qotla
bilden. Die bisher schon in der Opposition stehenden, und rechts
davon befindlichen, konservativen Parteien werden dort auch
bleiben. Das gilt besonders für die dem marokkanischen Thron
nahe stehende und 2008 aus kleineren konservativen und
wirtschaftsliberalen Kräften gebildete Formation „Partei für
Authentizität und Moderne“ (PAM). Allein mit der letztgenannten
Partei hatten die Islamisten schon bislang eine Koalition
ausgeschlossen.
Die
Richtung, in welche sich die Koalitionsverhandlungen in Marokko
entwickeln, bestätigt die strategischen Grundsatzentscheidungen
der wichtigsten Partei der tunesischen Islamisten,
En-Nahdha. Auch sie ging ein Regierungsbündnis mit der
sozialdemokratischen Partei Ettatakol („Forum für
Arbeit und demokratische Freiheiten“) und dem
linksnationalistischen CPR (Kongress für die Republik) ein.
Konservative Kräfte, die aus dem früheren Ben Ali-Regime
hervorgingen wie L’Initiative des langjährigen
Ministers Kamel Morjane, und wirtschaftsliberale Parteien des
höheren Bürgertums wie Afek Tunis blieben in der
Opposition. Zuvor waren sie durch die Wähler heftig abgestraft
worden. Ebenso die ex-kommunistische Ettajdid, wobei deren
Generalsekretär Ahmed Brahim jedoch ausdrücklich erklärte, „mit
dem Wirtschaftsprogramm von En-Nahdha“ übereinzustimmen, während
man kulturellen Fragen und bürgerlichen Freiheiten
auseinanderklaffe. Dieses Programm besteht aus
Wirtschaftsliberalismus mit einem sozialen Anspruch als
Zuckerguss. Ausgerechnet an dieser Stelle den Konsens mit
En-Nahdha zu erklären, während gerade hier künftige Brüche mit
einem Teil ihrer derzeitigen Anhängerschaft auftreten dürften,
ist wohl eine fatale Weichenstellung.
Einigendes
Band zwischen jenen Parteien, die die Wahlen gewannen und sich
danach miteinander verbündeten, war vor allem die frühere
scharfe Opposition gegen das Ben Ali-Regime. Dies unterschied
sie auch von der ex-kommunistischen Ettajdid oder
dem liberalen PDP (Demokratische progressive Partei): Beide
Parteien hatten noch 24 Stunden vor der Flucht von Präsident Ben
Ali mit diesem verhandelt und nahmen an den ersten
„Übergangsregierungen“ an den Tagen danach teil. Die Wähler
bevorzugten ihnen gegenüber jene Parteien, die sich aus dem
früheren institutionellen Spiel stärker heraushielten.
Bedauernswerte Gefangene der Revolution...
Gilbert
Naccache, ein tunesischer Schriftsteller und früherer Marxist,
hat laut eigenen Worten Mitleid mit den Islamisten. „Sie
sind im Augenblick vielleicht die bedauernswertesten Leute. Sie
haben die Revolution nicht begonnen, haben aber mitgemacht,
nachdem sie einmal im Gang war. Jetzt hat dieselbe sie an die
Regierung gebracht - und sie müssen eine Politik machen, die
ihrer eigenen vielfach entgegengesetzt ist.“ Dies
erklärte er am vorvergangenen Mittwoch, den 07. Dezember 11 auf
einer Veranstaltung in Paris, bei der er sich sehr optimistisch
über die demokratische Dimension der tunesischen Umwälzungen
zeigte.
Über diese
Einschätzung lässt sich diskutieren. Doch fest steht, dass die
gröberen
islamistischen Parteien wie der PDJ in Marokko, En-Nahdha
in Tunesien oder auch die gespaltenen Muslimbrüder in Ägypten
durch die antidiktatorischen Revolutionen zur Neuausrichtung
gezwungen worden sind. Die Massenproteste hatten sie tatsächlich
nicht ausgelöst. Zumal deren Auslöser - die Selbstverbrennung
des 26jährigen Tunesiers Mohammed Bouaziz vor einem Jahr, Mitte
Dezember 2010 - in den Augen gläubiger Muslime wie jeder Freitod
auberhalb
von Kampfhandlungen eine „Todsünde“ darstellte.
Erst nachdem
der Stein ins Rollen gekommen war, hatten viele islamistische
Kräfte sich den Demonstrationen und Protesten angeschlossen.
Auch hier gab es freilich Unterschiede: Der PDJ in Marokko hielt
sich aus den breiten auberparlamentarischen
Oppositionsprotesten, die auch zwischen Tanger und Casablanca
stattfanden und noch immer wöchentlich stattfinden, gänzlich
heraus. Die Partei nahm ihnen gegenüber ein konservatives,
pro-monarchistisches Profil ein. Dagegen zog die Partei
En-Nahdha in Tunesien, die seit 1991 das Hauptopfer der
brachialen Repression unter dem Ben Ali-Regime war, seit Anfang
Januar bei den dortigen Demonstrationen mit. In Ägypten
zerstritten sich die Muslimbrüder über die Frage einer
Teilnahme.
...oder doch
repressive Bedrohung ?
Die grobe
Zahl der Menschen, die die Proteste unterstützten, wünschen sich
- wie konkret oder wie vage auch immer ihre Vorstellung davon
ausfallen mag - ein besseres Leben. Ein solches versprechen zwar
auch die Islamisten, aber wie man dahin kommt, davon haben sie
ihre ganz eigene Vorstellung. Ob über „Reform“schritte oder von
der Form her „revolutionäre“ Brüche, in jedem Fall steht bei
ihnen die Idee einer Wiederherstellung einer gesellschaftlich
verbindlichen Moral im Mittelpunkt. Dass ihr politisches
Grundanliegen als eine Form von „reaktionärer Utopie“ definiert
werden kann, um dies zu verstehen, muss man nicht zwanzig
Semester Politikwissenschaft studiert haben. Wie viele Utopien,
wird auch diese voraussichtlich „an der un-idealistischen
Wirklichkeit scheitern“, und unter anderem mit der
wirtschaftsliberalen Realpolitik der künftigen Regierungen
kollidieren.
Die
wichtigste tunesische islamistische Partei heibt
En-Nahdha, also „Wiedergeburt“, was sich auf die
Idee des Wiederanknüpfens an ein früheres Goldenes Zeitalter
des Islam bezieht. Und die Selbstbezeichnung einer
rivalisierenden Strömung, der besonders extrem auftretenden
Salafisten, bezieht sich auf as-salaf, also „die
Vorfahren“. Damit sind konkret die „Weggefährten des Propheten“
zu Lebzeiten Mohammeds gemeint. Anliegen der Salafisten ist es,
zur „reinen Botschaft des Islam“ zurückkehren, die im Laufe der
Jahrhunderte durch allerlei Phänomene verunreinigt worden sein.
Wie durch Heiligenverehrung, Sufiwesen - als Mystizismus -, den
Gebrauch der Vernunft bei der Interpretation religiöser Texte,
aber auch durch nicht-theologische Wissenschaften, schlieblich
durch zur Zeit des Propheten nicht existente Konzepte wie
Demokratie, Nationalstaat oder Klassendenken.
Die
Salafisten sind kaum zu Kompromissen mit anderen politischen
Kräften in der Lage. Dennoch erstarken sie in manchen Ländern,
während sie in Marokko weitgehend auberhalb
des politischen Lebens bleiben und in Tunesien zwar durch
Aktivismus auffallen, aber eine kleine Minderheit darstellen. In
Ägypten erhielten sie nun bei den Parlamentswahlen in neun
Gouverneursbezirken über zwanzig Prozent der Stimmen. Dort
können sie unter anderem darauf bauen, dass das Mubarak-Regime
ihnen erhebliche Freiräume wie etwa eigene Fernsehkanäle
belassen hatte, um den Muslimbrüdern Konkurrenz zu bereiten.
Zudem unterstützen Saudi-Arabien und die Golfmonarchien
finanziell insbesondere die Salafisten.
Anders als
die Salafisten haben die stärker etablierten islamistischen
Parteien sich strategisch dafür entschieden, an der
postrevolutionären politischen Landschaft mitzuwirken. Nun
werden sie sich aber in diesem Kontext an den politischen
Ergebnissen messen lassen müssen.
Gleichzeitig
scheidet es vorläufig für sie aus, unter Berufung auf ihre von
göttlichem Willen abgeleitete Legitimität - was für Islamisten
theoretisch immer eine Option bleibt - rein repressiv gegen alle
abweichenden Kräfte vorzugehen. Dies ist zwar unter einem
islamistischen Regime im Iran spätestens ab 1981, zwei Jahren
nach der dortigen Revolution der Fall gewesen. Den
Qualitätssprung, welcher es ihnen ermöglichte, unter Einsatz
auch offen (staats)terroristischer Mittel alle anderen
politischen Kräfte aus dem Feld zu räumen, ermöglichte den
Islamisten im iranischen Fall jedoch der Ausnahmezustand. Und
diesen wiederum ermöglichte der Eintritt des Kriegsfalls, durch
den Angriffskrieg des Irak unter Saddam Hussein im September
1980. Khomeini hat den Kriegsbeginn später einmal wörtlich als
„göttliches Geschenk“ bezeichnet. Ab dem
Zeitpunkt, zu dem das Land angegriffen war, konnte das Regime
sich der patriotischen Verteidigungsreflexe in breiten
Bevölkerungsteilen mobilisieren, den Ausnahmezustand
gesellschaftlich legitimieren und durchsetzen. Oppositionskräfte
und politische Konkurrenten wurden ab dem Zeitpunkt mit offener
Gewalt behandelt und als „fünfte Kolonne des Feindes“
abgestempelt. Ohne diesen Qualitätssprung hätten auch die
Khomeini-Anhänger wahrscheinlich schon früh die Macht verloren,
es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen.
Vorläufig
deutet sich nicht an, dass die nordafrikanischen Islamisten über
ein vergleichbares „göttliches Geschenk“ verfügten dürften. Nun
werden sie also die Suppe auslöffeln und sich auf konkrete
Realpolitik einlassen müssen, auch auf die Gefahr, einen Teil
ihrer Anhänger zu enttäuschen.
Reibereien
Dies schliebt
erste Konfrontationen mit widerstreitenden politischen Kräften
nicht aus. In Tunesien kam es in der vorletzten Woche erstmals
zu Auseinandersetzungen zwischen Anhänger unterschiedlicher
orientierter Parteien. Mehrere Hundert Sympathisanten von
Gewerkschaften, streikende Arbeiter aus dem Landesinneren wie
aus dem Bergbaubecken von Gafsa umlagerte dort seit Tagen den
Bardo-Palast, in welchem die frisch gewählte „Verfassungsgebende
Versammlung“ tagt. Ihr Ziel war es, die gewählten Abgeordneten
mit dem Druck „der Zivilgesellschaft“ und ihrer sozialen
Forderungen zu konfrontieren. Ende vergangener Wochen
mobilisierte jedoch erstmals auch die Parteibasis von En-Nahdha
ihre eigenen Anhänger, die zeitweilig in der Überzahl waren und
den Linken entgegen hielten: „Wir sind die Mehrheit!“ Worauf die
solcherart Kritisierten wiederum auf Plakaten antworteten:
„Anderthalb Millionen von sieben Millionen (Wahed millioun
wa nifs min sabaa millioun...) - ist das eine Mehrheit?“
Denn nur fünfzig Prozent der volljährigen Bevölkerung von sieben
Millionen hatten an der Wahl vom 23. Oktober überhaupt
teilgenommen. Von ihnen votierten wiederum 39 Prozent oder 1,5
Millionen für En-Nahdha. Eine Mehrheit der Gesamtgesellschaft
ist dies nicht.
Die
Konkurrenz mit der aktivistischen, minoritären Rechtsopposition
in Gestalt der Salafisten kam En-Nahdha dabei einmal mehr
zugute. Letztere traten ihrerseits bedrohlich mit ihren
schwarzen Djihad-Fahnen auf, beschimpften verbal die Teilnehmer
an der linken und gewerkschaftlichen Kundgebung und stellten das
Prinzip einer „von Menschen statt von Gott gemachten“ Demokratie
überhaupt in Frage. Schon in den Tagen zuvor hatte es seit Ende
November 11 Auseinandersetzungen mit Salafisten an der
Universität von La Manouba - einem Vorort von Tunis - gegeben.
Diese hatten dort Druck ausgeübt, um eine stärkere Trennung von
weiblichen und männlichen Studierenden sowie eine Zulassung des
verbotenen Geschichtsschleiers Niqab durchzusetzen. Am letzten
Montag im November 2011 hatten sie etwa die Durchführung von
Prüfungen verhindert. Ihre Agitation rief aber auch starke
Widerstände hervor.
En-Nahdha
distanzierte sich von ihrem Auftreten. Aber es hat für sie
mindestens einen enormen Vorteil, nämlich jenes, sie moderat
aussehen zu lassen.
Gleichzeitig
darf man nicht überschätzen, als wie entscheidend die
Differenzen zwischen den einzelnen politischen Kräften vor Ort
betrachtet werden. Für die überwiegende Mehrzahl der Menschen in
Nordafrika bildet die Abgrenzung vom jeweiligen alten Regime,
seinen Profiteuren und seinen Folterknechten bislang die
entscheidende politische Scheidelinie. Und, bisher jedenfalls,
nicht die Frage der Abweichungen in Programmen und Ideologien.
In Ägypten
etwa bestehen zwar Unterschiede zwischen den Grundsatzprogrammen
der verschiedenen politischen Kräfte. Doch kaum jemand
betrachtet diese als so gravierend wie die Kluft zwischen der
Armee und den früheren Parteigängern der
„National-Demokratischen Partei“ des Mubarak-Regimes auf der
einen, allen anderen politischen Kräften auf der anderen Seite.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Diese Grenze wurde mit Blut
gezogen. Eine Repression, die allein während der Umwälzung im
Januar und Februar dieses Jahres laut offiziellen -
möglicherweise untertriebenen - Zahlen 800 Todesopfer und
Abertausende von Verletzten forderte, ist dafür verantwortlich.
Fortgeschrieben wird sie durch eine Militärgerichtsbarkeit, die
nach letzten vorliegenden Zahlen nach dem Sturz Mubaraks bislang
13.000 Zivilpersonen aus politischen Gründen aburteilte, schrieb
ihr Unwesen bis in die Gegenwart fort. Dagegen wurde bislang in
Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen politischen Kräften,
so unterschiedlich ihre ideologischen Vorstellungen auch
ausfallen mögen, kein Blut vergossen.
Anders liegt
der Fall in Algerien, wo es in den Jahren ab 1992/93 zu einem
blutigen Bürgerkrieg kam, in dem nicht nur zwischen der Armee
einerseits und einem Teil der Islamisten andererseits massive
Gewalt zur Anwendung kam. Auch kritische Intellektuelle,
Gewerkschafter, Feministinnen und andere gesellschaftliche
Akteure wurden bedroht und ermordet - vor allem in den ersten
Bürgerkriegsjahren durch die damals noch in den Stadtteilen von
Algier und anderswo verankerten, islamistischen Milizen und
Zellen.
Auch in
Algerien glaubt der moderate, institutionell auftretende
Islamismus in Gestalt der Partei MSP („Bewegung für eine
Gesellschaft des Friedens“, arabisch abgekürzt: Hamas) - die den
Muslimbrüdern nahe stehend - von den Umwälzungen in ganz
Nordafrika profitieren zu können. Doch der historisch lange
Jahre durch den Muslimbruder Mahfoud Nahnah und seit seinem Tod
durch Bougerra Soltani angeführte Partei hat ein wichtiges
Handicap. Seit dem Amtsantritt von Präsident Abdelaziz
Bouteflika im April 1999 hat sie ununterbrochen an allen
Regierungen teilgenommen. Dadurch hat sie an unterscheidbarem
Profil verloren und sich teilweise diskreditiert.
Unklar ist,
ob eine Partei mit radikalerem, oppositionellem Profil und
islamistischer Ideologie davon ihrerseits profitieren könnte.
Doch obwohl es in den letzten Jahren wiederholt Informationen
und Gerüchte über eine mögliche Rückkehr von Führungskadern der
1992 verbotenen „Islamischen Rettungsfront“ (FIS) auf die
politische Bühne gegeben hat: Diese Tür bleibt verschlossen.
Seit dem 23. November stimmen die Abgeordneten über ein neues
Parteiengesetz ab, das kurz vor seiner definitiven Annahme
steht. Es verbietet allen früheren Aktivisten, die „in die
politische Ausbeutung der Religion“ und „die nationale Tragödie
verwickelt“ waren, die politische Wiederbetätigung. Obwohl
führende ehemalige FIS-Funktionär wie Rabah Kébir seit 2005 nach
Algerien zurückgekehrt sind, bleibt eine Wiederbelebung der
verbotenen Partei weiterhin legal unmöglich. .
Editorische Hinweise
Den Artikel erhielten wir vom
Autor für diese Ausgabe.