Nordafrika: Islamisten sehen rosarot ?

von
Bernard Schmid

12/11

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Neue Frontlinien tun sich in der politischen Landschaft mehrerer nordafrikanischer Länder auf. Bislang bildeten dort die Islamisten eine zwar eher in der rechten als der linken Hälfte der politischen Landschaft angesiedelte, doch durch einen betont „sozialen“ Diskurs, bei gleichzeitiger wirtschaftsliberaler Grundprogrammatik,  auch über Anhänger in den sozialen Unterklassen verfügende Kraft. Demgegenüber rückte ein Teil der Linken stark die soziale Frage in den Vordergrund und betonte, auf die Dauer würden sich die von sozialen Motiven und „Verteilungsgerechtigkeit“ geleiteten Wähler angesichts von ihrer „Realpolitik“ von den wichtigsten islamistischen Partei abwenden. Umgekehrt bauten manche Linken und Liberalen, die sich vor allem aus den Bildungseliten rekrutierten, die Abgrenzung zu den Islamisten absolut in den Vordergrund.

Im Mittelpunkt stand diese Problematik bis vor kurzem besonders auch bei den ex-kommunistischen Parteien im Maghreb. Nach 1989 erlitten diese früher an der Sowjetunion ausgerichteten Parteien in ihrer Mehrheit einen kompletten Orientierungsverlust. Ähnlich wie das Gros der italienischen Ex-Kommunisten führte sie dies in eine ziel- und perspektivlose, ihre sämtliche früheren „Wert“ aufgebende, für Außenstehende oft eher peinlich wirkende Politik.  

Im Falle Algeriens plädierten die Ex-Kommunisten schon nach den ersten freien Wahlen überhaupt - den Kommunalwahlen vom Juni 1990, und mehrere Monate bevor die erstarkende „Islamische Rettungsfront“ (FIS) auch gewalttätig auftrat - dafür, das ganze Land sei „nicht reif für die Demokratie“. Sie bettelten die Militärs förmlich darum, einzugreifen und dem ein Jahr zuvor eingeleiteten Demokratieexperiment Ende zu setzen, das auf die Implosion eines Ein-Parteien-Staats gefolgt war. Dies trug dazu bei, der Wut von Anhängern und Aktivisten der dortigen Islamisten eine wesentlich stärker auch gegen die Linke gerichtete Spitze zu verleihen. Ursächlich für die fast existenzielle Panik der vormaligen „Partei der sozialistischen Avantgarde“ (PAGS), der algerischen Ex-Kommunisten, war ihre haushohe Wahlniederlage 1990. Sie hatten sich nach Jahrzehnten der couragierten Oppositionstätigkeit erhofft, nun eine der stärksten Kräfte zu werden, traten jedoch zum denkbar schlechtesten historischen Zeitpunkt ans Tageslicht - genau während des Zusammenbruchs des Ostblocks. Heute sind noch Reste ihres früheres Kaderpotenzials als Journalisten in der algerischen Presse zu finden. 

Die tunesischen und marokkanischen Ex-Kommunisten wirkten in jüngerer Zeit nicht ganz so erbärmlich. Beide verfügten über eigene Partei, die eher bürgerlich-liberal auftraten, Ettadjid (Erneuerung) in Tunesien und den PPS (Partei für Fortschritt und Sozialismus) in Marokko. Unter dem Ben Ali-Regime nahm selbige am „legalen“ politischen Leben teil, als offiziell tolerierte Oppositionspartei in einem Parlament, dessen Sitze von vornherein zu 80 Prozent den Anhängern Ben Alis reserviert waren. Im Rahmen der Qotla (Block) genannten Regierungskoalition unter Einschluss der marokkanischen Sozialdemokratie in Gestalt der USFP und der bürgerlich-antikolonialen Partei Istiqlal (Unabhängigkeit) reagierte der marokkanische PPS in den letzten Jahren mit. Beide Parteien rechtfertigten ihr politisches Agieren dadurch, dass sie zwar keine klassenpolitischen Veränderungen mehr versprechen, aber für die Verteidigung bürgerlicher Freiheitsrecht gegen die Islamisten einträten. 

Am vorvergangenen Wochenende (10./11. Dezember 11) nun kam es zu einer neuen Verschiebung der politischen Frontlinien. Auf einem Kongress in Salé beschloss der marokkanische PPS mit 400 Delegiertenstimmen dafür und 52 dagegen, an einer künftigen Regierungskoalition unter Anführung des islamistischen PJD („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) des designierten Premierministers Abdelila Benkirane teilzunehmen. Dies wurde dadurch gerechtfertigt, dass man „die Interessen der Nation über jene der Partei stellen“ müsse und zudem in einem Regierungsbündnis „die bürgerlichen Freiheitsrechte verteidigen“ werde. 

Auch die bürgerlich-nationalistische Partei Istiqlal stimmte am Sonntag, den 11. Dezember auf einer Tagung einer Koalition zu. Hingegen wird die USFP oder „Sozialistische Union der Volkskräfte“, bislang die führende Regierungspartei, voraussichtlich in die Opposition gehen. 

Die moderat-islamistische Partei kann damit eine Koalition vor allem mit Kräften aus der bisherigen Mitte-Links-Koalition Qotla bilden. Die bisher schon in der Opposition stehenden, und rechts davon befindlichen, konservativen Parteien werden dort auch bleiben. Das gilt besonders für die dem marokkanischen Thron nahe stehende und 2008 aus kleineren konservativen und wirtschaftsliberalen Kräften gebildete Formation „Partei für Authentizität und Moderne“ (PAM). Allein mit der letztgenannten Partei hatten die Islamisten schon bislang eine Koalition ausgeschlossen. 

Die Richtung, in welche sich die Koalitionsverhandlungen in Marokko entwickeln, bestätigt die strategischen Grundsatzentscheidungen der wichtigsten Partei der tunesischen Islamisten, En-Nahdha. Auch sie ging ein Regierungsbündnis mit der sozialdemokratischen Partei Ettatakol („Forum für Arbeit und demokratische Freiheiten“) und dem linksnationalistischen CPR (Kongress für die Republik) ein. Konservative Kräfte, die aus dem früheren Ben Ali-Regime hervorgingen wie L’Initiative des langjährigen Ministers Kamel Morjane, und wirtschaftsliberale Parteien des höheren Bürgertums wie Afek Tunis blieben in der Opposition. Zuvor waren sie durch die Wähler heftig abgestraft worden. Ebenso die ex-kommunistische Ettajdid, wobei deren Generalsekretär Ahmed Brahim jedoch ausdrücklich erklärte, „mit dem Wirtschaftsprogramm von En-Nahdha“ übereinzustimmen, während man kulturellen Fragen und bürgerlichen Freiheiten auseinanderklaffe. Dieses Programm besteht aus Wirtschaftsliberalismus mit einem sozialen Anspruch als Zuckerguss. Ausgerechnet an dieser Stelle den Konsens mit En-Nahdha zu erklären, während gerade hier künftige Brüche mit einem Teil ihrer derzeitigen Anhängerschaft auftreten dürften, ist wohl eine fatale Weichenstellung. 

Einigendes Band zwischen jenen Parteien, die die Wahlen gewannen und sich danach miteinander verbündeten, war vor allem die frühere scharfe Opposition gegen das Ben Ali-Regime. Dies unterschied sie auch von der ex-kommunistischen Ettajdid oder dem liberalen PDP (Demokratische progressive Partei): Beide Parteien hatten noch 24 Stunden vor der Flucht von Präsident Ben Ali mit diesem verhandelt und nahmen an den ersten „Übergangsregierungen“ an den Tagen danach teil. Die Wähler bevorzugten ihnen gegenüber jene Parteien, die sich aus dem früheren institutionellen Spiel stärker heraushielten.  

Bedauernswerte Gefangene der Revolution...  

Gilbert Naccache, ein tunesischer Schriftsteller und früherer Marxist, hat laut eigenen Worten Mitleid mit den Islamisten. „Sie sind im Augenblick vielleicht die bedauernswertesten Leute. Sie haben die Revolution nicht begonnen, haben aber mitgemacht, nachdem sie einmal im Gang war. Jetzt hat dieselbe sie an die Regierung gebracht - und sie müssen eine Politik machen, die ihrer eigenen vielfach entgegengesetzt ist.“ Dies erklärte er am vorvergangenen Mittwoch, den 07. Dezember 11 auf einer Veranstaltung in Paris, bei der er sich sehr optimistisch über die demokratische Dimension der tunesischen Umwälzungen zeigte. 

Über diese Einschätzung lässt sich diskutieren. Doch fest steht, dass die gröberen islamistischen Parteien wie der PDJ in Marokko, En-Nahdha in Tunesien oder auch die gespaltenen Muslimbrüder in Ägypten durch die antidiktatorischen Revolutionen zur Neuausrichtung gezwungen worden sind. Die Massenproteste hatten sie tatsächlich nicht ausgelöst. Zumal deren Auslöser - die Selbstverbrennung des 26jährigen Tunesiers Mohammed Bouaziz vor einem Jahr, Mitte Dezember 2010 - in den Augen gläubiger Muslime wie jeder Freitod auberhalb von Kampfhandlungen eine „Todsünde“ darstellte.  

Erst nachdem der Stein ins Rollen gekommen war, hatten viele islamistische Kräfte sich den Demonstrationen und Protesten angeschlossen. Auch hier gab es freilich Unterschiede: Der PDJ in Marokko hielt sich aus den breiten auberparlamentarischen Oppositionsprotesten, die auch zwischen Tanger und Casablanca stattfanden und noch immer wöchentlich stattfinden, gänzlich heraus. Die Partei nahm ihnen gegenüber ein konservatives, pro-monarchistisches Profil ein. Dagegen zog die Partei En-Nahdha in Tunesien, die seit 1991 das Hauptopfer der brachialen Repression unter dem Ben Ali-Regime war, seit Anfang Januar bei den dortigen Demonstrationen mit. In Ägypten zerstritten sich die Muslimbrüder über die Frage einer Teilnahme.   

...oder doch repressive Bedrohung ? 

Die grobe Zahl der Menschen, die die Proteste unterstützten, wünschen sich - wie konkret oder wie vage auch immer ihre Vorstellung davon ausfallen mag - ein besseres Leben. Ein solches versprechen zwar auch die Islamisten, aber wie man dahin kommt, davon haben sie ihre ganz eigene Vorstellung. Ob über „Reform“schritte oder von der Form her „revolutionäre“ Brüche, in jedem Fall steht bei ihnen die Idee einer Wiederherstellung einer gesellschaftlich verbindlichen Moral im Mittelpunkt. Dass ihr politisches Grundanliegen als eine Form von „reaktionärer Utopie“ definiert werden kann, um dies zu verstehen, muss man nicht zwanzig Semester Politikwissenschaft studiert haben. Wie viele Utopien, wird auch diese voraussichtlich „an der un-idealistischen Wirklichkeit scheitern“, und unter anderem mit der wirtschaftsliberalen Realpolitik der künftigen Regierungen kollidieren. 

Die wichtigste tunesische islamistische Partei heibt En-Nahdha, also „Wiedergeburt“, was sich auf die Idee des Wiederanknüpfens an ein früheres Goldenes Zeitalter des  Islam bezieht. Und die Selbstbezeichnung einer rivalisierenden Strömung, der besonders extrem auftretenden Salafisten, bezieht sich auf as-salaf, also „die Vorfahren“. Damit sind konkret die „Weggefährten des Propheten“ zu Lebzeiten Mohammeds gemeint. Anliegen der Salafisten ist es, zur „reinen Botschaft des Islam“ zurückkehren, die im Laufe der Jahrhunderte durch allerlei Phänomene verunreinigt worden sein. Wie durch Heiligenverehrung, Sufiwesen - als Mystizismus -, den Gebrauch der Vernunft bei der Interpretation religiöser Texte, aber auch durch nicht-theologische Wissenschaften, schlieblich durch zur Zeit des Propheten nicht existente Konzepte wie Demokratie, Nationalstaat oder Klassendenken.  

Die Salafisten sind kaum zu Kompromissen mit anderen politischen Kräften in der Lage. Dennoch erstarken sie in manchen Ländern, während sie in Marokko weitgehend auberhalb des politischen Lebens bleiben und in Tunesien zwar durch Aktivismus auffallen, aber eine kleine Minderheit darstellen. In Ägypten erhielten sie nun bei den Parlamentswahlen in neun Gouverneursbezirken über zwanzig Prozent der Stimmen. Dort können sie unter anderem darauf bauen, dass das Mubarak-Regime ihnen erhebliche Freiräume  wie etwa eigene Fernsehkanäle belassen hatte, um den Muslimbrüdern Konkurrenz zu bereiten. Zudem unterstützen Saudi-Arabien und die Golfmonarchien finanziell insbesondere die Salafisten. 

Anders als die Salafisten haben die stärker etablierten islamistischen Parteien sich strategisch dafür entschieden, an der postrevolutionären politischen Landschaft mitzuwirken. Nun werden sie sich aber in diesem Kontext an den politischen Ergebnissen messen lassen müssen.   

Gleichzeitig scheidet es vorläufig für sie aus, unter Berufung auf ihre von göttlichem Willen abgeleitete Legitimität - was für Islamisten theoretisch immer eine Option bleibt - rein repressiv gegen alle abweichenden Kräfte vorzugehen. Dies ist zwar unter einem islamistischen Regime im Iran spätestens ab 1981, zwei Jahren nach der dortigen Revolution der Fall gewesen. Den Qualitätssprung, welcher es ihnen ermöglichte, unter Einsatz auch offen (staats)terroristischer Mittel alle anderen politischen Kräfte aus dem Feld zu räumen, ermöglichte den Islamisten im iranischen Fall jedoch der Ausnahmezustand. Und diesen wiederum ermöglichte der Eintritt des Kriegsfalls, durch den Angriffskrieg des Irak unter Saddam Hussein im September 1980. Khomeini hat den Kriegsbeginn später einmal wörtlich als „göttliches Geschenk“ bezeichnet. Ab dem Zeitpunkt, zu dem das Land angegriffen war, konnte das Regime sich der patriotischen Verteidigungsreflexe in breiten Bevölkerungsteilen mobilisieren, den Ausnahmezustand gesellschaftlich legitimieren und durchsetzen. Oppositionskräfte und politische Konkurrenten wurden ab dem Zeitpunkt mit offener Gewalt behandelt und als „fünfte Kolonne des Feindes“ abgestempelt. Ohne diesen Qualitätssprung hätten auch die Khomeini-Anhänger wahrscheinlich schon früh die Macht verloren, es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen.  

Vorläufig deutet sich nicht an, dass die nordafrikanischen Islamisten über ein vergleichbares „göttliches Geschenk“ verfügten dürften. Nun werden sie also die Suppe auslöffeln und sich auf konkrete Realpolitik einlassen müssen, auch auf die Gefahr, einen Teil ihrer Anhänger zu enttäuschen.  

Reibereien 

Dies schliebt erste Konfrontationen mit widerstreitenden politischen Kräften nicht aus. In Tunesien kam es in der vorletzten Woche erstmals zu Auseinandersetzungen zwischen Anhänger unterschiedlicher orientierter Parteien. Mehrere Hundert Sympathisanten von Gewerkschaften, streikende Arbeiter aus dem Landesinneren wie aus dem Bergbaubecken von Gafsa umlagerte dort seit Tagen den Bardo-Palast, in welchem die frisch gewählte „Verfassungsgebende Versammlung“ tagt. Ihr Ziel war es, die gewählten Abgeordneten mit dem Druck „der Zivilgesellschaft“ und ihrer sozialen Forderungen zu konfrontieren. Ende vergangener Wochen mobilisierte jedoch erstmals auch die Parteibasis von En-Nahdha ihre eigenen Anhänger, die zeitweilig in der Überzahl waren und den Linken entgegen hielten: „Wir sind die Mehrheit!“ Worauf die solcherart Kritisierten wiederum auf Plakaten antworteten: „Anderthalb Millionen von sieben Millionen (Wahed millioun wa nifs min sabaa millioun...) - ist das eine Mehrheit?“ Denn nur fünfzig Prozent der volljährigen Bevölkerung von sieben Millionen hatten an der Wahl vom 23. Oktober überhaupt teilgenommen. Von ihnen votierten wiederum 39 Prozent oder 1,5 Millionen für En-Nahdha. Eine Mehrheit der Gesamtgesellschaft ist dies nicht. 

Die Konkurrenz mit der aktivistischen, minoritären Rechtsopposition in Gestalt der Salafisten kam En-Nahdha dabei einmal mehr zugute. Letztere traten ihrerseits bedrohlich mit ihren schwarzen Djihad-Fahnen auf, beschimpften verbal die Teilnehmer an der linken und gewerkschaftlichen Kundgebung und stellten das Prinzip einer „von Menschen statt von Gott gemachten“ Demokratie überhaupt in Frage. Schon in den Tagen zuvor hatte es seit Ende November 11 Auseinandersetzungen mit Salafisten an der Universität von La Manouba - einem Vorort von Tunis - gegeben. Diese hatten dort Druck ausgeübt, um eine stärkere Trennung von weiblichen und männlichen Studierenden sowie eine Zulassung des verbotenen Geschichtsschleiers Niqab durchzusetzen. Am letzten Montag im November 2011 hatten sie etwa die Durchführung von Prüfungen verhindert. Ihre Agitation rief aber auch starke Widerstände hervor.  

En-Nahdha distanzierte sich von ihrem Auftreten. Aber es hat für sie mindestens einen enormen Vorteil, nämlich jenes, sie moderat aussehen zu lassen.

Gleichzeitig darf man nicht überschätzen, als wie entscheidend die Differenzen zwischen den einzelnen politischen Kräften vor Ort betrachtet werden. Für die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Nordafrika bildet die Abgrenzung vom jeweiligen alten Regime, seinen Profiteuren und seinen Folterknechten bislang die entscheidende politische Scheidelinie. Und, bisher jedenfalls, nicht die Frage der Abweichungen in Programmen und Ideologien. 

In Ägypten etwa bestehen zwar Unterschiede zwischen den Grundsatzprogrammen der verschiedenen politischen Kräfte. Doch kaum jemand betrachtet diese als so gravierend wie die Kluft zwischen der Armee und den früheren Parteigängern der „National-Demokratischen Partei“ des Mubarak-Regimes auf der einen, allen anderen politischen Kräften auf der anderen Seite. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Diese Grenze wurde mit Blut gezogen. Eine Repression, die allein während der Umwälzung im Januar und Februar dieses Jahres laut offiziellen - möglicherweise untertriebenen - Zahlen 800 Todesopfer und Abertausende von Verletzten forderte, ist dafür verantwortlich. Fortgeschrieben wird sie durch eine Militärgerichtsbarkeit, die nach letzten vorliegenden Zahlen nach dem Sturz Mubaraks bislang 13.000 Zivilpersonen aus politischen Gründen aburteilte, schrieb ihr Unwesen bis in die Gegenwart fort. Dagegen wurde bislang in Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen politischen Kräften, so unterschiedlich ihre ideologischen Vorstellungen auch ausfallen mögen, kein Blut vergossen. 

Anders liegt der Fall in Algerien, wo es in den Jahren ab 1992/93 zu einem blutigen Bürgerkrieg kam, in dem nicht nur zwischen der Armee einerseits und einem Teil der Islamisten andererseits massive Gewalt zur Anwendung kam. Auch kritische Intellektuelle, Gewerkschafter, Feministinnen und andere gesellschaftliche Akteure wurden bedroht und ermordet - vor allem in den ersten Bürgerkriegsjahren durch die damals noch in den Stadtteilen von Algier und anderswo verankerten, islamistischen Milizen und Zellen.  

Auch in Algerien glaubt der moderate, institutionell auftretende Islamismus in Gestalt der Partei MSP („Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens“, arabisch abgekürzt: Hamas) - die den Muslimbrüdern nahe stehend - von den Umwälzungen in ganz Nordafrika profitieren zu können. Doch der historisch lange Jahre durch den Muslimbruder Mahfoud Nahnah und seit seinem Tod durch Bougerra Soltani angeführte Partei hat ein wichtiges Handicap. Seit dem Amtsantritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika im April 1999 hat sie ununterbrochen an allen Regierungen teilgenommen. Dadurch hat sie an unterscheidbarem Profil verloren und sich teilweise diskreditiert.  

Unklar ist, ob eine Partei mit radikalerem, oppositionellem Profil und islamistischer Ideologie davon ihrerseits profitieren könnte. Doch obwohl es in den letzten Jahren wiederholt Informationen und Gerüchte über eine mögliche Rückkehr von Führungskadern der 1992 verbotenen „Islamischen Rettungsfront“ (FIS) auf die politische Bühne gegeben hat: Diese Tür bleibt verschlossen. Seit dem 23. November stimmen die Abgeordneten über ein neues Parteiengesetz ab, das kurz vor seiner definitiven Annahme steht. Es verbietet allen früheren Aktivisten, die „in die politische Ausbeutung der Religion“ und „die nationale Tragödie verwickelt“ waren, die politische Wiederbetätigung. Obwohl führende ehemalige FIS-Funktionär wie Rabah Kébir seit 2005 nach Algerien zurückgekehrt sind, bleibt eine Wiederbelebung der verbotenen Partei weiterhin legal unmöglich. .

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.