Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

12/11

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Über den revolutionären "Bruch als Phrase"
von Karl-Heinz Schubert (4.12.2011)

Lukacs schreibt 1922 in seiner Verteidigung Lenins gegen die Kritik von Rosa Luxemburg an dessen Partei- und Revolutionskonzept:

„Es wäre eine völlig undialektische, unhistorische Denkungsweise, die aus der Feststellung, daß der Sozialismus nur als bewußte Umwandlung der ganzen Gesellschaft verwirklicht werden kann, zu der Forderung käme, dies müsse auf einen Schlag und nicht prozeßartig geschehen. Dieser Prozeß ist aber von der Umwandlung der feudalen Gesellschaft in die bürgerliche qualitativ verschieden. Und eben diese qualitative Verschiedenheit drückt sich in der qualitativ verschiedenen Funktion, die dem Staate, der deshalb, wie Engels sagt, „schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr ist“, in der Revolution zukommt; in der qualitativ verschiedenen Beziehung der Politik zur Ökonomie am klarsten aus.“

Soll heute die parlamentarisch-demokratische Republik aufhören ein „Staat im eigentlichen Sinne“ zu sein, damit die kapitalistische Produktionsweise durch bewusste Eingriffe der lohnabhängigen Massen unter dem Primat der Politik in eine sozialistische verwandelt werden kann, dann wären die politischen Formen und Strukturen, in denen sich dies vollziehen wird, nicht aufgrund eines „Blickes zurück nach vorn“ zu bestimmen.

Die neoleninistische Phrase vom „vom revolutionären Bruch“ wird der Problemstellung Revolution als Prozess in keiner Weise gerecht, erfüllt sie nicht einmal die theoretischen Grundvoraussetzungen dessen, was die wesentlichen Voraussetzungen der Leninschen Staats-, Revolutions- und Parteitheorie waren: Nämlich die Analyse der Klassenstrukturen und der damit zusammenhängenden Bündnisfragen, der Rolle des Staates unter diesen Bedingungen, der Verflechtungen des internationalen Kapitals und ihrer Brüchigkeit sowie schlussendlich die Untersuchungen des subjektiven Faktors (damalige Bedeutung und Wirkung von Ökonomismus, Opportunismus und Reformismus).

Wenn wir mit Lukacs darin übereinstimmen, dass die proletarische Revolution, d.h. die Aufhebung des Kapitalismus, ein Prozess ist, der durch die Dialektik von Intervention der Klasse und der Verarbeitung von solchen Erfahrungen geprägt und vorangetrieben wird, dann können wir sehr viel von Lenin lernen, indem wir seine Methode studieren, wie er strategische und politisch-organisatorische Konzepte aus seiner (damaligen) gesellschaftlichen Wirklichkeit ableitete.

Die Phrase vom „vom revolutionären Bruch“ ist dagegen ein Blick zurück auf die erfolgreichen Resultate der Leninschen Politik und der Versuch, diese Resultate in der Form eines Glaubensbekenntnis (Leninismus) auf heute zu übertragen. Die Anwendung der Leninschen Methode erfordert jedoch gerade den Bruch mit dem Leninismus, so wie Lenin seinerzeit den Bruch mit den ehernen Prinzipien der II. Internationale vollzog.

Heute – angesichts des Zustands der revolutionären Linken in der BRD – muss es mehr den je heißen, das Gesicht der Wirklichkeit zuzuwenden, d.h. theoretische Mühen auf sich zu laden, um die derzeitigen klassenpolitischen und kapitalstrukturellen Entwicklungslinien zu verstehen und um dadurch bewusst in sie eingreifen zu können. Über diese Aufgabenstellung gilt es, sich unter den „subjektiven RevolutionärInnen“ zu verständigen. Und nicht nur unter diesen, sondern auch mit den Kräften, die ihre Politik bewusst auf dem Boden des Klassenkampfes stellen, muss die Verständigung gesucht werden. Ich nenne dies (in Anlehnung an Il Manifesto) die „Einheit der Klassenlinken“ herstellen.

Die „Bochumer“ schreiben in ihrem „Programm“, dass sie für eine revolutionäre Reformpolitik eintreten – auch wenn sie es sprachlich so nicht fassen. Sie schreiben nämlich, dass sie nur für solche Reformen kämpfen, die „die Fähigkeit geben, die Bedingungen unseres Lebens und unserer Arbeit zunehmend selbst zu gestalten“.

Ich interpretiere dies so: Erstens, für die „Bochumer“ ist der Kampf um Reformen nicht ein reiner Verteidigungskampf der Ware Arbeitskraft gegen ihre Vernutzung, sondern zweitens vor allem ein Kampf der Klasse – gerade auch unter den Bedingungen der Krise, der die Klasse in die Offensive bringt. Offensive heißt ganz klar, einen revolutionären Prozess einzuleiten, der auf die Frage „Sozialismus oder Barbarei?“ focussiert. Ein Prozess also, in dem sich die Klasse qualifiziert, nicht nur irgendwann die politische Macht zu erobern, sondern sie auch dann in Formen ausüben und transformieren kann, die bereits zuvor – noch unter kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsbedingungen – erobert und installiert wurden.

Ein Blick nach Venezuela zeigt, dass eine solche strategische Überlegung nicht irgendeine beliebige Option für klassenpolitische Interventionen darstellt, die sich unsere „Bochumer“ mal so ausgedacht haben, sondern dass dafür bereits relevante klassenpolitische Erfahrungen eines aktuellen revolutionären Prozesses vorliegen. Seit 2006 sind nämlich in Venezuela weit über 30.000 Räte in den Kommunen entstanden, die gleichsam als eine Form der Doppelherrschaft neben den bürgerlich-parlamentarischen Vertretungsstrukturen politische Macht ausüben.

Von daher ist das „Bochumer Programm“ – trotz aller Unzulänglichkeiten (z. B. fehlen substantielle Aussagen zu den patriarchalischen Strukturen und ihrer Aufhebung und es mangelt an einer qualifizierende Bestimmung des BRD-Staates und der Behandlung der ökologischen Frage), viel eher ein Schritt in die richtige Richtung als das noch so ehrliche Bemühen, an einem Prinzip festzuhalten, dessen inhaltliche Substanz heute einem wehenden Vakuum gleichkommt. Denn es gilt nach wie vor: „Es ist die Pflicht eines jeden Revolutionärs, die Revolution zu machen!“ Che Guevara 1967

Editorischer Hinweis

Quelle: http://arschhoch.blogsport.de/2011/12/04/ueber-den-revolutionaeren-bruch-als-phrase/