Zweimal am Brandenburger Tor
Blick zurück und nach vorn zwischen Trauer und Empörung angesichts der zehn Opfer des organisierten neofaschistischen Terrors in Deutschland

von Antonín Dick

12/11

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Vergessen wir es nicht: der Nazismus kam daher als Jugendrevolte, als mobilisierende Kraft einer Jugendbewegung. 1933 war Adolf Eichmann siebenundzwanzig Jahre alt. Am dunklen Abend des 30. Januar in der Mitte Berlins, als die Nazis mit brennenden Fackeln und klingendem Spiel durchs Brandenburger Tor marschierten, fielen sich massenweise Teenager und junge Frauen vor Glück weinend und hysterisch kreischend in die Arme. Solche Bilder kennen wir Nachgeborenen nur von den Beatles-Konzerten.

Heute ist zwar die Nazibewegung keine Massenbewegung, aber die Bedrohung bleibt. Zehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung vertreten rechtsextreme Auffassungen. Der Sarrazinsche Unterbau dieser Ungeheuerlichkeit noch gar nicht mitgerechnet. Der US-amerikanische Faschismus-Forscher Robert O. Paxton dazu, anders als seine deutschen Kollegen: „Die politische Gefahr des Faschismus ist keineswegs überwunden. Auf einer ersten Stufe existiert er auch heute in allen größeren Demokratien.“

Die seelischen Verwüstungen, die das Dritte Reich in uns allen angerichtet hat, sollten wir nicht leugnen. Dort fängt heute der Faschismus an, und dort sollten wir auch beginnen, Antifaschisten zu werden. Der US-amerikanische Autor William H. Gass, der mit seinem analytischen Roman Der Tunnel jahrelang zu diesem Thema gearbeitet hat, spricht vom Faschismus des Herzens. „Was ist das Herz des Menschen!“, ruft entsetzt der vierundzwanzigjährige Sturm-und-Drang-Dichter Goethe gleich im zweiten Satz seines Briefromans Die Leiden des jungen Werther aus, weil er plötzlich an sich selbst einen unüberwindlichen Antagonismus gewahr wird, der erst viel später, mit der Modernen, über uns hereinbrechen sollte: der Antagonismus zwischen Rationalität und Gefühl. Bei der jüngsten Bundestagsdebatte über den immer weiter um sich greifenden Neonaziterror in Deutschland warf die Vorsitzende der Fraktion von Bündnis 90 / Die Grünen Renate Künast der Familienministerin Kristina Schröder (CDU) einen Mangel an Herzensbildung vor, „wenn es ausgerechnet darum geht, Menschen zu unterstützen, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen.“ Die Gesinnungsschnüffelei gegenüber antifaschistischen Initiativen müsse genauso aufhören wie die Mittelkürzung für solche Initiativen, da eine wache Zivilgesellschaft viel besser und effektiver sei als der Verfassungsschutz, forderte Künast von der Ministerin, die diese Restriktionen angeordnet hatte. Wie reagierte die Ministerin? Sie schwieg. Sie verweigerte jede Stellungnahme, nahm die Kritik mal kopfschüttelnd, mal belustigt zur Kenntnis. Warum, Frau Bundesministerin, möchte man ihr zurufen, wenn man es denn könnte, verschließen Sie Ihr Herz gegenüber berechtigten Anfragen aus allen Fraktionen, einschließlich der eigenen, nehmen aber für sich das Recht in Anspruch, in die Herzen anderer Menschen, die sich gegen die neofaschistische Gefahr organisieren wollen, oft unter Einsatz ihres Lebens, hineinleuchten zu dürfen? Warum dieses Beharren auf Ungleichheit? Oder ist vor lauter Helle Ihrer grell aufblitzenden Staatsleuchte, die ohnehin nicht die Herzen erreichen kann, diese Ungleichheit plötzlich aus Ihrem Blickfeld? Und ist, allgemeiner gefragt, dieser unscheinbare Vorfall nicht eine der vielen gescheiterten Wechselwirkungen zwischen Menschen ungleicher sozialer oder politischer Position, die unweigerlich dazu beitragen, die Demokratie der vierten deutschen Republik weiter erodieren zu lassen? Sie erodiert doch, Frau Ministerin, oder wollen Sie das in Abrede stellen?

Jugend ist Sehnsucht und Aufbruch. Ist Verlangen nach Freundschaft, Liebe, nach Selbstverwirklichung in menschlicher Gemeinschaft. Wozu leben? Das Gemeinschaftsgefühl ist konstitutiv für Jugend und Aufbruch zu neuen Ufern. Wird diesem Gefühl der Boden entzogen oder wird es instrumentalisiert, sterben die Träume.
Die Verfolgte des Naziregimes Hannah Arendt trug, als sie aus Nazideutschland floh, sowohl die bedrückende individuelle Verfolgungserfahrung als auch die bedrückende kollektive Erfahrung, daß eine „allenthalben zunehmende Verlassenheit“ die Menschen für den Faschismus vorbereitet hatte, in ihrem Herzen. Meine Mutter, eine einfache Arbeiterin, ebenfalls jüdisch und aktiv antifaschistisch, ebenfalls im Sommer 1933 nach Paris fliehend, trug in ihrem gehetzten Herzen ebenfalls diese Doppelerfahrung. Sie sprachen darüber tagtäglich und ausführlich in ihren Emigrantenkreisen und mit ihren Freunden des aufnehmenden Gastlandes. Die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt entwickelte aus diesen Gesprächen, aus diesen bedrückenden Erfahrungen und Analysen von Anti-Nazi-Flüchtlingen ein theoretisches Werk – das Widerstandswerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Sie hielt ein authentisches Lebensgefühl fest, daß viele Menschen in ihrem unglücklichen Heimatland ergriffen hatte: „Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so daß jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlaß ist.“

Heute leben wir ebenfalls in einer Krise, und wir erleben ebenfalls, wenn auch bei weitem nicht in diesem Ausmaß, einen Zerfallsprozeß dieses lebenswichtigen Gemeinschaftsgefühls. Und wir erleben ihn ebenfalls mit dem gefährlichen Nebenprodukt einer marktschreierischen Zurschaustellung eines hier und da verlockenden Allheilmittels gegen den Zerfall und einer aggressiven Überrumplung der Angelockten. Die Redakteure der völkisch-nationalistischen online-Zeitung chemnitzinfos Das Nachrichtenportal aus Chemnitz annoncieren, daß sie jetzt ihr Publikationsorgan in Mauerblümchen umzubenennen gedenken, was unschwer zu dechiffrieren ist: eine Metapher für eine Reihe von Enttäuschungen, die der DDR-Sozialismus hinterlassen hat. Der Rückgriff auf das Nationale soll retten. Immer dann, wenn in Europa die Früchte einer sozialistischen Bewegung nicht reifen konnten – nach dem von den europäischen Sozialdemokratien gutgeheißenen völkermassakrierenden Freiwilligenkrieg von 1914 bis 1918 und nach dem aus diesem Wahnsinn resultierenden Zwangsfrieden von 1945 bis 1989 in den staatssozialistischen Ländern – , meldete sich der nationalistische Wahn als Retter zurück und amalgamierte mit den sozialistischen Sehnsüchten des arbeitenden Volkes. Es ist kein Zufall: Strategisch denkende Neonazis mischen sich in diesen Tagen immer häufiger unter die machtvollen Demonstrationen der antikapitalistischen occupy-Bewegung und der Globalisierungskritiker, unter die der Studenten- und Bürgerproteste, unter die der um Lohn und Arbeitsplatz kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter. Und sie tun dies mit einem erstaunlichen mimetischen Aufwand, um dicht bei den Suchenden zu sein. Teilweise maskiert, karnevalesk, nicht ohne schauspielerisches Raffinement. Unerkannt eingetaucht in die aufbegehrende Masse, gelingt es ihnen immer wieder zu täuschen und zu verwirren, die Demokratie, die, vergessen wir es bitte nicht, die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition für uns erkämpft haben, vorzuführen, bis diese Mimikry als heruntergekommenes Schmierentheater von Rechts enttarnt werden kann. Was die Unbelehrbaren indessen nicht hindert, ganz ungeniert weiter öffentlich zu verkünden, ihren Marsch durch die Gesellschaft fortsetzen zu wollen. Als Abenteuer, versteht sich. Es sind die gleichen politischen Abenteurer am Werk wie 1933.

Oder wie bereits 1851? Der US-amerikanische Geisteswissenschaftler John Dewey, der in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts scharfsinnige Analysen der NS-Ideologie vorgelegt hatte, bescheinigte Hitler die Urheberschaft an dem todbringenden Amalgam von Nationalismus und Sozialismus. Ein Fehlbefund. Der abgebrochene Kunststudent und Reichswehrspitzel Hitler kopierte auch hier, vor allem hier, besser, ließ höchstwahrscheinlich kopieren. Von Frankreich. Die perfide Idee, Nationalismus und Sozialismus zu einem Ideologem zu verbinden, um einem Sieg der revolutionären Massen zuvorzukommen, stammt aus den Tagen der Klassenkämpfe in Frankreich von 1848 bis 1851, die mit einem Staatsstreich einer Handvoll politischer Abenteurer endeten, um die Demokratie zu ersticken, und dies über keinen anderen Weg als über den, ein Blutbad unter den Revolutionären anzurichten. Der dies klarsichtig diagnostizierte, war der junge Marx, ein aus Deutschland Geflohener. Im zweiten Kapitel seines „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ lesen wir über die Machinationen der damaligen Konservativen: „Ebenso brutal, wie diese reinen Republikaner dem Volke gegenüber die physische Gewalt mißbraucht hatten, ebenso feig, kleinlaut, mutlos, gebrochen, kampfunfähig wichen sie jetzt zurück, wo es galt, der exekutiven Gewalt und den Royalisten gegenüber ihr Republikanertum und ihr gesetzgeberisches Recht zu behaupten.“ Um dann etwas über die Geburtsstunde jener perfiden Idee zu erfahren: „Ich bemerke im Vorbeigehen, daß das Journal, welches dieser Partei ihren Namen gab, der ‚National‘, sich in der folgenden Periode zum Sozialismus bekehrt.“
Paris mit den allerersten, noch nicht systematisierten Anfängen, später Helsinki und Budapest, dann München, schließlich Rom, Wien, Berlin, Madrid – die lange Blutspur des europäischen Faschismus, die offenbar nicht enden will.

Und nun, Jahrzehnte später, es ist der 26. November 2011, von politischen Entwicklungen gleichen Ursprungs erneut aufgewühlte Menschen am Brandenburger Tor. Aber diesmal aus völlig entgegengesetztem Grund hierhergekommen. Und in völlig friedfertiger Absicht. Und nicht lärmend, sondern schweigend. Und nicht an einem düsteren, verhängnisvollen Winterabend, sondern an einem sonnigen, milden, irgendwie Ermutigendes ausstrahlenden Herbstmittag. Eine zufällige Ansammlung von Frauen und Männern unterschiedlichsten Alters und unterschiedlichster ethnischer Herkunft, zweihundert vielleicht an der Zahl, obwohl Zahlen bei sozialen Ereignissen dieser Art kaum relevant sein dürften, aufmerksam gemacht von einer Internet-Initiative, die zu einem gemeinsamen Schweigen gegen das Schweigen am Brandenburger Tor aufgerufen hatte, zu einem silent mob, der in den nervösen Strömen tagtäglicher Betriebsamkeit und Selbstbezogenheit ein sichtbares Zeichen des Politischen setzen sollte, hier und gleichzeitig auf vielen anderen Plätzen vieler anderer Städte dieses geschockten Landes. Es waren bewegende Augenblicke eines öffentlichen Innehaltens. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer hielt eine weiße Rose in der Hand, Symbol des Friedens, geheimes Zeichen der „Weißen Rose“, der unvergessenen Widerstandsbewegung im Dritten Reich. Weiße Blätter mit den Namen der von der Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ ermordeten Menschen wurden hochgehalten, auf daß sie niemals vergessen werden: Theodoros Boulgarides, Michéle Kiesewetter, Habil Kılıҫ, Mehmet Kubaᶊık, Abdurrahim Özüdoğru, Enver Șimᶊek, Süleyman Taşköprü, Yunus Turgut, İsmail Yaᶊar, Halit Yozgat.

Die Herbeigeströmten wollten aufrütteln. Eine Frau wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Das schweigende Gedenken von wenigen Minuten erweckte u. a. deshalb, weil man unter den Schweigenden war, nicht außerhalb, den Eindruck von Dauer einer Ewigkeit. Es mögen andere anders gedenken und mahnen. Hier war es so.
„Wir schweigen, damit Du Dein Schweigen brichst! Wir schweigen, weil wir ein Teil dieser Gesellschaft sind! Wir schweigen, damit etwas gegen Rassismus getan wird! Wir schweigen, weil wir der Opfer rechter Gewalt gedenken! Wir schweigen, weil ein Schweigen mehr als tausend Worte sagt! Wir schweigen, denn alles, was wir sagen, wurde bereits gesagt! Wir schweigen, weil wir rassistischem Terror keine Chance geben! Wir schweigen, weil uns nicht egal ist, was in unserer Gesellschaft passiert! Wir schweigen, weil schon über sechs Millionen Menschen getötet worden sind! Wir schweigen, weil wir Gewalt nicht mit Gegengewalt, sondern mit Liebe begegnen wollen! Wir schweigen, damit die schweigende Mehrheit endlich ihre Augen öffnet und in den Spiegel sieht! Und wenn wir nicht aufhören zu schweigen, dann könnten wir die nächsten sein. Wir schweigen, um unsere Sinne für die unmenschlichen Taten zu schärfen. Wir schweigen, denn unser Herz spricht eine universelle Sprache und ermöglicht uns über nationale, kulturelle, soziale, religiöse und ethnische Grenzen hinweg, uns miteinander zu verbinden. Es geht nicht nur um Solidarität mit den Opfern. Es geht nicht nur um gewaltlosen Protest. Es geht vielmehr darum auszudrücken, wie wir uns diese Gesellschaft vorstellen. Demokratischer und solidarischer. Wir brauchen positive Zeichen zu negativen Taten.“

So der Aufruf zur bundesweiten Aktion „Schweigen gegen das Schweigen“, der von mehreren demokratischen Organisationen dieses Landes verbreitet wurde, u. a. vom Bundesbüro der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e. V.

Editorische Hinweise

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