Vergessen wir es nicht: der
Nazismus kam daher als Jugendrevolte, als mobilisierende Kraft
einer Jugendbewegung. 1933 war Adolf Eichmann siebenundzwanzig
Jahre alt. Am dunklen Abend des 30. Januar in der Mitte
Berlins, als die Nazis mit brennenden Fackeln und klingendem
Spiel durchs Brandenburger Tor marschierten, fielen sich
massenweise Teenager und junge Frauen vor Glück weinend und
hysterisch kreischend in die Arme. Solche Bilder kennen wir
Nachgeborenen nur von den Beatles-Konzerten.
Heute ist zwar die Nazibewegung
keine Massenbewegung, aber die Bedrohung bleibt. Zehn Prozent
der bundesdeutschen Bevölkerung vertreten rechtsextreme
Auffassungen. Der Sarrazinsche Unterbau dieser
Ungeheuerlichkeit noch gar nicht mitgerechnet. Der
US-amerikanische Faschismus-Forscher Robert O. Paxton dazu,
anders als seine deutschen Kollegen: „Die politische Gefahr
des Faschismus ist keineswegs überwunden. Auf einer ersten
Stufe existiert er auch heute in allen größeren Demokratien.“
Die seelischen Verwüstungen, die
das Dritte Reich in uns allen angerichtet hat, sollten wir
nicht leugnen. Dort fängt heute der Faschismus an, und dort
sollten wir auch beginnen, Antifaschisten zu werden. Der
US-amerikanische Autor William H. Gass, der mit seinem
analytischen Roman Der Tunnel jahrelang zu diesem Thema
gearbeitet hat, spricht vom Faschismus des Herzens. „Was ist
das Herz des Menschen!“, ruft entsetzt der
vierundzwanzigjährige Sturm-und-Drang-Dichter Goethe gleich im
zweiten Satz seines Briefromans Die Leiden des jungen Werther
aus, weil er plötzlich an sich selbst einen unüberwindlichen
Antagonismus gewahr wird, der erst viel später, mit der
Modernen, über uns hereinbrechen sollte: der Antagonismus
zwischen Rationalität und Gefühl. Bei der jüngsten
Bundestagsdebatte über den immer weiter um sich greifenden
Neonaziterror in Deutschland warf die Vorsitzende der Fraktion
von Bündnis 90 / Die Grünen Renate Künast der
Familienministerin Kristina Schröder (CDU) einen Mangel an
Herzensbildung vor, „wenn es ausgerechnet darum geht, Menschen
zu unterstützen, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen.“
Die Gesinnungsschnüffelei gegenüber antifaschistischen
Initiativen müsse genauso aufhören wie die Mittelkürzung für
solche Initiativen, da eine wache Zivilgesellschaft viel
besser und effektiver sei als der Verfassungsschutz, forderte
Künast von der Ministerin, die diese Restriktionen angeordnet
hatte. Wie reagierte die Ministerin? Sie schwieg. Sie
verweigerte jede Stellungnahme, nahm die Kritik mal
kopfschüttelnd, mal belustigt zur Kenntnis. Warum, Frau
Bundesministerin, möchte man ihr zurufen, wenn man es denn
könnte, verschließen Sie Ihr Herz gegenüber berechtigten
Anfragen aus allen Fraktionen, einschließlich der eigenen,
nehmen aber für sich das Recht in Anspruch, in die Herzen
anderer Menschen, die sich gegen die neofaschistische Gefahr
organisieren wollen, oft unter Einsatz ihres Lebens,
hineinleuchten zu dürfen? Warum dieses Beharren auf
Ungleichheit? Oder ist vor lauter Helle Ihrer grell
aufblitzenden Staatsleuchte, die ohnehin nicht die Herzen
erreichen kann, diese Ungleichheit plötzlich aus Ihrem
Blickfeld? Und ist, allgemeiner gefragt, dieser unscheinbare
Vorfall nicht eine der vielen gescheiterten Wechselwirkungen
zwischen Menschen ungleicher sozialer oder politischer
Position, die unweigerlich dazu beitragen, die Demokratie der
vierten deutschen Republik weiter erodieren zu lassen? Sie
erodiert doch, Frau Ministerin, oder wollen Sie das in Abrede
stellen?
Jugend ist Sehnsucht und Aufbruch.
Ist Verlangen nach Freundschaft, Liebe, nach
Selbstverwirklichung in menschlicher Gemeinschaft. Wozu leben?
Das Gemeinschaftsgefühl ist konstitutiv für Jugend und
Aufbruch zu neuen Ufern. Wird diesem Gefühl der Boden entzogen
oder wird es instrumentalisiert, sterben die Träume.
Die Verfolgte des Naziregimes Hannah Arendt trug, als sie aus
Nazideutschland floh, sowohl die bedrückende individuelle
Verfolgungserfahrung als auch die bedrückende kollektive
Erfahrung, daß eine „allenthalben zunehmende Verlassenheit“
die Menschen für den Faschismus vorbereitet hatte, in ihrem
Herzen. Meine Mutter, eine einfache Arbeiterin, ebenfalls
jüdisch und aktiv antifaschistisch, ebenfalls im Sommer 1933
nach Paris fliehend, trug in ihrem gehetzten Herzen ebenfalls
diese Doppelerfahrung. Sie sprachen darüber tagtäglich und
ausführlich in ihren Emigrantenkreisen und mit ihren Freunden
des aufnehmenden Gastlandes. Die Politikwissenschaftlerin
Hannah Arendt entwickelte aus diesen Gesprächen, aus diesen
bedrückenden Erfahrungen und Analysen von
Anti-Nazi-Flüchtlingen ein theoretisches Werk – das
Widerstandswerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Sie
hielt ein authentisches Lebensgefühl fest, daß viele Menschen
in ihrem unglücklichen Heimatland ergriffen hatte: „Es ist,
als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der
Krise zusammen, so daß jeder von jedem verlassen und auf
nichts mehr Verlaß ist.“
Heute leben wir ebenfalls in einer
Krise, und wir erleben ebenfalls, wenn auch bei weitem nicht
in diesem Ausmaß, einen Zerfallsprozeß dieses lebenswichtigen
Gemeinschaftsgefühls. Und wir erleben ihn ebenfalls mit dem
gefährlichen Nebenprodukt einer marktschreierischen
Zurschaustellung eines hier und da verlockenden Allheilmittels
gegen den Zerfall und einer aggressiven Überrumplung der
Angelockten. Die Redakteure der völkisch-nationalistischen
online-Zeitung chemnitzinfos Das Nachrichtenportal aus
Chemnitz annoncieren, daß sie jetzt ihr Publikationsorgan in
Mauerblümchen umzubenennen gedenken, was unschwer zu
dechiffrieren ist: eine Metapher für eine Reihe von
Enttäuschungen, die der DDR-Sozialismus hinterlassen hat. Der
Rückgriff auf das Nationale soll retten. Immer dann, wenn in
Europa die Früchte einer sozialistischen Bewegung nicht reifen
konnten – nach dem von den europäischen Sozialdemokratien
gutgeheißenen völkermassakrierenden Freiwilligenkrieg von 1914
bis 1918 und nach dem aus diesem Wahnsinn resultierenden
Zwangsfrieden von 1945 bis 1989 in den staatssozialistischen
Ländern – , meldete sich der nationalistische Wahn als Retter
zurück und amalgamierte mit den sozialistischen Sehnsüchten
des arbeitenden Volkes. Es ist kein Zufall: Strategisch
denkende Neonazis mischen sich in diesen Tagen immer häufiger
unter die machtvollen Demonstrationen der antikapitalistischen
occupy-Bewegung und der Globalisierungskritiker, unter die der
Studenten- und Bürgerproteste, unter die der um Lohn und
Arbeitsplatz kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter. Und sie
tun dies mit einem erstaunlichen mimetischen Aufwand, um dicht
bei den Suchenden zu sein. Teilweise maskiert, karnevalesk,
nicht ohne schauspielerisches Raffinement. Unerkannt
eingetaucht in die aufbegehrende Masse, gelingt es ihnen immer
wieder zu täuschen und zu verwirren, die Demokratie, die,
vergessen wir es bitte nicht, die Alliierten der
Anti-Hitler-Koalition für uns erkämpft haben, vorzuführen, bis
diese Mimikry als heruntergekommenes Schmierentheater von
Rechts enttarnt werden kann. Was die Unbelehrbaren indessen
nicht hindert, ganz ungeniert weiter öffentlich zu verkünden,
ihren Marsch durch die Gesellschaft fortsetzen zu wollen. Als
Abenteuer, versteht sich. Es sind die gleichen politischen
Abenteurer am Werk wie 1933.
Oder wie bereits 1851? Der
US-amerikanische Geisteswissenschaftler John Dewey, der in den
dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
scharfsinnige Analysen der NS-Ideologie vorgelegt hatte,
bescheinigte Hitler die Urheberschaft an dem todbringenden
Amalgam von Nationalismus und Sozialismus. Ein Fehlbefund. Der
abgebrochene Kunststudent und Reichswehrspitzel Hitler
kopierte auch hier, vor allem hier, besser, ließ
höchstwahrscheinlich kopieren. Von Frankreich. Die perfide
Idee, Nationalismus und Sozialismus zu einem Ideologem zu
verbinden, um einem Sieg der revolutionären Massen
zuvorzukommen, stammt aus den Tagen der Klassenkämpfe in
Frankreich von 1848 bis 1851, die mit einem Staatsstreich
einer Handvoll politischer Abenteurer endeten, um die
Demokratie zu ersticken, und dies über keinen anderen Weg als
über den, ein Blutbad unter den Revolutionären anzurichten.
Der dies klarsichtig diagnostizierte, war der junge Marx, ein
aus Deutschland Geflohener. Im zweiten Kapitel seines
„Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ lesen wir über die
Machinationen der damaligen Konservativen: „Ebenso brutal, wie
diese reinen Republikaner dem Volke gegenüber die physische
Gewalt mißbraucht hatten, ebenso feig, kleinlaut, mutlos,
gebrochen, kampfunfähig wichen sie jetzt zurück, wo es galt,
der exekutiven Gewalt und den Royalisten gegenüber ihr
Republikanertum und ihr gesetzgeberisches Recht zu behaupten.“
Um dann etwas über die Geburtsstunde jener perfiden Idee zu
erfahren: „Ich bemerke im Vorbeigehen, daß das Journal,
welches dieser Partei ihren Namen gab, der ‚National‘, sich in
der folgenden Periode zum Sozialismus bekehrt.“
Paris mit den allerersten, noch nicht systematisierten
Anfängen, später Helsinki und Budapest, dann München,
schließlich Rom, Wien, Berlin, Madrid – die lange Blutspur des
europäischen Faschismus, die offenbar nicht enden will.
Und nun, Jahrzehnte später, es ist
der 26. November 2011, von politischen Entwicklungen gleichen
Ursprungs erneut aufgewühlte Menschen am Brandenburger Tor.
Aber diesmal aus völlig entgegengesetztem Grund
hierhergekommen. Und in völlig friedfertiger Absicht. Und
nicht lärmend, sondern schweigend. Und nicht an einem
düsteren, verhängnisvollen Winterabend, sondern an einem
sonnigen, milden, irgendwie Ermutigendes ausstrahlenden
Herbstmittag. Eine zufällige Ansammlung von Frauen und Männern
unterschiedlichsten Alters und unterschiedlichster ethnischer
Herkunft, zweihundert vielleicht an der Zahl, obwohl Zahlen
bei sozialen Ereignissen dieser Art kaum relevant sein
dürften, aufmerksam gemacht von einer Internet-Initiative, die
zu einem gemeinsamen Schweigen gegen das Schweigen am
Brandenburger Tor aufgerufen hatte, zu einem silent mob, der
in den nervösen Strömen tagtäglicher Betriebsamkeit und
Selbstbezogenheit ein sichtbares Zeichen des Politischen
setzen sollte, hier und gleichzeitig auf vielen anderen
Plätzen vieler anderer Städte dieses geschockten Landes. Es
waren bewegende Augenblicke eines öffentlichen Innehaltens.
Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer hielt eine weiße Rose
in der Hand, Symbol des Friedens, geheimes Zeichen der „Weißen
Rose“, der unvergessenen Widerstandsbewegung im Dritten Reich.
Weiße Blätter mit den Namen der von der Terrororganisation
„Nationalsozialistischer Untergrund“ ermordeten Menschen
wurden hochgehalten, auf daß sie niemals vergessen werden:
Theodoros Boulgarides, Michéle Kiesewetter, Habil Kılıҫ,
Mehmet Kubaᶊık, Abdurrahim Özüdoğru, Enver Șimᶊek, Süleyman
Taşköprü, Yunus Turgut, İsmail Yaᶊar, Halit Yozgat.
Die Herbeigeströmten wollten
aufrütteln. Eine Frau wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Das schweigende Gedenken von wenigen Minuten erweckte u. a.
deshalb, weil man unter den Schweigenden war, nicht außerhalb,
den Eindruck von Dauer einer Ewigkeit. Es mögen andere anders
gedenken und mahnen. Hier war es so.
„Wir schweigen, damit Du Dein Schweigen brichst! Wir
schweigen, weil wir ein Teil dieser Gesellschaft sind! Wir
schweigen, damit etwas gegen Rassismus getan wird! Wir
schweigen, weil wir der Opfer rechter Gewalt gedenken! Wir
schweigen, weil ein Schweigen mehr als tausend Worte sagt! Wir
schweigen, denn alles, was wir sagen, wurde bereits gesagt!
Wir schweigen, weil wir rassistischem Terror keine Chance
geben! Wir schweigen, weil uns nicht egal ist, was in unserer
Gesellschaft passiert! Wir schweigen, weil schon über sechs
Millionen Menschen getötet worden sind! Wir schweigen, weil
wir Gewalt nicht mit Gegengewalt, sondern mit Liebe begegnen
wollen! Wir schweigen, damit die schweigende Mehrheit endlich
ihre Augen öffnet und in den Spiegel sieht! Und wenn wir nicht
aufhören zu schweigen, dann könnten wir die nächsten sein. Wir
schweigen, um unsere Sinne für die unmenschlichen Taten zu
schärfen. Wir schweigen, denn unser Herz spricht eine
universelle Sprache und ermöglicht uns über nationale,
kulturelle, soziale, religiöse und ethnische Grenzen hinweg,
uns miteinander zu verbinden. Es geht nicht nur um Solidarität
mit den Opfern. Es geht nicht nur um gewaltlosen Protest. Es
geht vielmehr darum auszudrücken, wie wir uns diese
Gesellschaft vorstellen. Demokratischer und solidarischer. Wir
brauchen positive Zeichen zu negativen Taten.“
So der Aufruf zur bundesweiten
Aktion „Schweigen gegen das Schweigen“, der von mehreren
demokratischen Organisationen dieses Landes verbreitet wurde,
u. a. vom Bundesbüro der Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.
V.
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