Freigegeben für rechtsgerichtete Erziehung?
Aus der Tätigkeit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien

von
Antonín Dick

12/11

trend
onlinezeitung

Am 25. 10. 2010 beantragte die grüne Stadträtin für Jugend, Schule und Umwelt Anke Otto des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf von Berlin bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, das 2009 vom Voggenreiter Verlag Bonn herausgegebene Liederbuch „Unser fröhlicher Gesell“ auf den Index zu setzen. Der Antrag stützt sich auf eine am 2. 10. 2010 unter dem Titel „Auf den Index!“ veröffentlichte Recherche der jungen Welt, in der nachgewiesen wird, dass das Liederbuch rassistisch, antisemitisch und militaristisch kontaminiert ist. Am 1. 12. 2010 entschied das von der Oberregierungsrätin Petra Meier geleitete zwölfköpfige Gremium des Bundesinnenministeriums, den Antrag zurückzuweisen.

Die Begründung dafür ist eine einzige Verharmlosung rechten Gedankenguts. Da heißt es: „Das Gremium sieht die Tatsache, daß einige Texte aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen bzw. von Nationalsozialisten geschrieben wurden, noch nicht als relevant an, eine Verherrlichung dieses Regimes im oben beschriebenen Sinne zu begründen.“ Die Mitgliedschaft in der NSDAP nicht relevant für die Unterstützung bzw. Verherrlichung des Naziregimes? Aber gehen wir weiter, das ganze Ausmaß der Verharmlosung rechten Denkens zeigt sich erst in der konkreten Textanalyse. Da heißt es: „Im Sinne des von der Antragstellerin eingereichten Zeitungsartikels erkennt das Gremium an, dass vor dem Hintergrund der dort ausführlich beschriebenen nationalsozialistischen Autorenschaft einiger Texte und der stets positiv bewerteten Opfer- und Rekrutierungsbereitschaft des Einzelnen eine verbreitete Stimmung zu Zeiten des Nationalsozialismus, aber auch die Kriegsstimmung

zu Beginn des Ersten Weltkrieges widergespiegelt wird (…) An keiner Stelle werden das Wirken und die Ideologie der Nationalsozialisten hervorgehoben. Das Liederbuch vermittelt einen eher unpolitischen Eindruck, spiegelt in den Texten allerdings teilweise die Mentalität der Zeit wider, aus der heraus die Bereitschaft zum Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie der Nationalsozialismus möglich waren.“ Unpolitischer Eindruck? Vor dem Hintergrund einer Erziehung zu Krieg und Zerstörung? Genau um diese Taktik geht es ja beispielsweise den Funktionären von NPD-Jugendlagern und -Heimatabenden, die im Rahmen ihrer rechten Kulturoffensive das Unterbewusste von Heranwachsenden zu besetzen suchen, indem sie Lieder nationalistischen und militaristischen Charakters einstudieren, die eben nicht vornehmlich leitartikelartig daherkommen, sondern, da sie Lieder sind, sich der Stilisierung und Symbolisierung bedienen. Dass diese Propagandatricks von der Bundesprüfstelle im Beschluss nicht nur nicht einer entschiedenen Textkritik ausgeliefert, sondern obendrein apologetisch breitgewalzt werden, ist ein Skandal. So heißt es über ein im Jahre 1935 im „Liederblatt der Hitlerjugend“ erstmals publiziertes und im Jahre 2009 mit diesem Liederbuch erneut publiziertes Machwerk des Aktivisten und Liedermachers der Deutschen Freischar Jürgen Riel in kaum noch zu überbietender Apologetik: „Im Text des Liedes ‚Kameraden, wir marschieren‘ werden Krieg und konkrete Kriegshandlungen nicht ausdrücklich benannt. Der Text ist sehr abstrakt gehalten und einzig die Wörter ‚Marschieren‘ und ‚Kamerad‘ weisen mittelbar einen Kriegsbezug auf. Allerdings ist von keinerlei Kriegshandlungen die Rede. Speere in fremde Meere zu schleudern, um hinter ihnen her zu schwimmen, wird heute nicht als Eroberungsabsicht verstanden. Sollten rezipierende Jugendliche die Formulierungen mit Krieg assoziieren, so dürfte die Beschreibung des In-den-Krieg-Ziehens als Entdeckungsreise und Abenteuer verstanden werden. Der Text ist jedoch sehr unkonkret formuliert und bezöge sich bei dieser Auslegung auf eine Kriegsführung, die auf an Krieg interessierten Jugendlichen heute als unattraktiv erscheinen dürfte.“ Die Autorinnen und Autoren der völkisch-nationalistischen online-Zeitung chemnitzinfos Das Nachrichtenportal aus Chemnitz werden über diese Art von ideologischer Schützenhilfe aus höchstem Staatsmunde sehr dankbar sein: In ihrer aktuellen Ausgabe zitieren und preisen sie den berüchtigten HJ-Marsch „Kameraden, wir marschieren“ als ihren Kampfgesang.

Und über ein besonders menschenverachtendes Elaborat eindeutig rassistischer Tradition heißt es: „Eine Indizierung als verhältnismäßig erscheinen lassende sozial-ethische desorientierende Wirkung des Liedes auf Kinder und Jugendliche im Kontext des verfahrensgegenständlichen Buches wurde seitens des Gremiums nicht erkannt. Das Gremium schließt jedoch nicht aus, dass derselbe Inhalt in einem anderen Kontext zu einer anderen Würdigung führen kann.“ Würdigung? Ist die lange Kette ideologischer Verbindungsglieder vom ersten Verbreiten ausländerfeindlichen Gedankenguts bis hin zu Überfällen, Bombenanschlägen und Morden von neonazistischen Terrorzellen, wie sie jetzt gerade aufgedeckt werden, eine Würdigung? In welchem Kontext leben wir? In welchem Land?

„Eine Indizierung war nach alledem nicht auszusprechen“, lautet das abschließende Urteil der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien nach angeblich wissenschaftlichen Textanalysen, um dann eine Begründung nachzuschieben, die die Aufgabenstellung eben dieser Einrichtung schlankweg bestreitet: „Über eine mögliche Beeinträchtigung von Kindern und Jugendlichen aufgrund vorliegender Texte hatte die Bundesprüfstelle nicht zu entscheiden. Insbesondere obliegt es daher im Bereich der Printmedien den Erziehenden, solche Inhalte entsprechende Altersgruppen nicht zugänglich zu machen, denen eine Einordnung der Texte in den historisch-kulturellen Gesamtzusammenhang nicht möglich ist.“ In welchem Land leben wir, dass eine solche Aushöhlung zentraler gesellschaftlicher Anliegen eines demokratischen Gemeinwesens möglich ist?

Angesichts des dramatischen Geschehens, das gegenwärtig die Republik erschüttert, ist die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien gefordert, zum kulturpolitischen Auftrag ihrer Einrichtung zurückzukehren und den defätistischen Beschluss einer rückhaltlosen Selbstkritik zu unterziehen. Kein Appeasement in der geistigen Auseinandersetzung mit Rechts! Keine Kapitulation vor dem Vormarsch der Rechten mit Amtsstempel des Bundesinnenministeriums! Auch 66 Jahre nach Kriegsende gilt für alle staatlichen Institutionen dieser Republik nach wie vor das Befreiungsgesetz gemäß Artikel 139 Grundgesetz: „Die zur ‚Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“

Gefordert ist jetzt – angesichts vor allem der zehn Opfer neonazistischen Terrors – eine konsequente und wissenschaftlich stichhaltige Auseinandersetzung mit rechtem und nazistischem Gedankengut, wie es skandalöserweise dieses Liederbuch ungehindert verbreiten darf. Bisherige Verkaufszahl: Über 100.000 Exemplare.

Deutsche Politiker türkischer Herkunft fordern von der Bundesregierung eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit rechtsextremem Gedankengut. Mehrere Abgeordnete des Europaparlamentes, des Bundestages und verschiedener Landesparlamente haben inzwischen einen parteiübergreifenden Aufruf unterzeichnet, in dem es u. a. heißt: „Weit über zehn Prozent der Bevölkerung vertreten rechtsextreme Meinungen. Dies zu ändern und zu bekämpfen, bedarf es einer deutlichen Ächtung und einer Vielzahl von Maßnahmen.“ Zu den Erstunterzeichnern gehören bisher fast 20 Politiker von SPD, Grünen und Linken, darunter Ekin Deligöz, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90 / Die Grünen im Bundestag, sowie der SPD-Europaparlamentarier Ismail Ertug. Man müsse „das Übel an der Wurzel“ packen, heißt es in dem Aufruf unmissverständlich. Daher sei die Bekämpfung von „rechtsradikalen Tendenzen in Schulen und Jugendeinrichtungen von besonderer Bedeutung.“

Der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien sei das Studium dieses Aufrufes engagierter Demokraten der Bundesrepublik Deutschland hiermit dringend ans Herz gelegt.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom  Autor  für diese Ausgabe.