Kritik eines spätromantischen Paradoxes
Über die "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno

von Galvano Della Volpe

12/11

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Das Paradox ist mit einfachen Worten folgendes: Insofern Aufklärung auf den wissenschaftlichen Kalkül des Nützlichen und damit auf die genaue Einschätzung der einem Zweck angemessenen Mittel reduzierbar ist, verkehrt sie sich (das ist die "Dialektik") in ihr Gegenteil, in Technik der Herrschaft und Unterdrückung mit ihren modernen, alten und neuen, funktionalen Mythen. "Als ... bloße Konstruktion von Mitteln ist Aufklärung so destruktiv, wie ihre romantischen Feinde es ihr nachsagen ... , Aufklärung vollendet sich und hebt sich auf ..." (1), so lautet die (zumindest in der Form hegelanisierende) Schlußfolgerung des ersten, dem "Begriff der Aufklärung" gewidmeten Teils. Und doch hindert diese These von (wie wir sehen werden) ziemlich brüchiger Konsistenz die Autoren nicht an der festen Überzeugung, daß "die Aufklärung ... sich auf sich selbst besinnen (muß), wenn die Menschen nicht vollends verraten werden sollen", und daß "an Aufklärung geübte Kritik ... einen positiven Begriff von ihr vorbereiten (soll), der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst." (2) (Hier und im ganzen Buch, das zuerst 1944 herausgegeben wurde, halten die Autoren vor allem das "monstrum horrendum" des Nazismus gegenwärtig.) Es ist jedoch eine Überzeugung oder Hoffnung, die, so edel sie ist, kein Fundament hat, wenn dieses in der oben ausgesprochenen extravaganten These bestehen soll. Der als Prämisse genommene Begriff der Aufklärung ist nämlich zu einseitig und arm. Wahr ist: das Kriterium der Berechnung des menschlichen und gesellschaftlichen Nutzens ist sicherlich eine Komponente dieser Ideologie, welche jegliches Prinzip dogmatischer Autorität, beginnend mit dem der religiös-kirchlichen Autorität, kritisiert und zurückweist und deshalb dem Individuum sagt (um die klassischen kantischen Formulierungen zu gebrauchen): Sapere aude! oder "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen", um dadurch aus dem Zustand der Unmündigkeit herauszutreten, usw. usw.; dies ist jedoch nicht die einzige Komponente; für sich oder abstrakt genommen, abstrahierend, und zwar von der weltlichen Pflichtenlehre, die sie begleitet, oder auch von der "Toleranz", der "Achtung" des menschlichen Individuums als Zweck und niemals Mittel, usw., ist jener Begriff selbst deformiert oder verstümmelt.

Mit anderen Worten, man wird der Aufklärung weder historisch noch philosophisch gerecht, wenn man den Baconschen und szien-tivischen Beitrag überbetont, der demnach darin besteht, die aufgeklärte Vernunft auf eine bloß "kalkulierende Vernunft" und auf die mit ihr mehr oder weniger synonyme "formalistische Vernunft", "Naturwissenschaft", "Technik", "statistische Erhebung" (beispielsweise von bei einem Pogrom Ermordeten) und so weiter zu reduzieren. Es'ist aber evident, daß eine solche Verarmung des Begriffs der Aufklärung sich der (unglaublich) extremen AIIgemeinheit seiner Bedeutung verdankt, für die die Aufklärung geradezu mit "List" des Odysseus beginnt ("Wie die Erzählung von den Sirenen die Verschränktheit von Mythos und rationaler Arbeit in sich beschließt, so legt die Odyssee insgesamt Zeugnis ab von der Dialektik der Aufklärung": siehe "Exkurs l, Odysseus oder Mythos und Aufklärung" (3) ) und - über Bacon und das Aufkommen der experimentellen Wissenschaft - mit Sade und Nietzsche endet: "Das Werk Sades, wie dasjenige Nietzsches ... steigert das szientivische Prinzip ins Vernichtende" (4) (siehe "Exkurs II, Juliette oder Aufklärung und Moral"). Der alte Hegel jedoch (der Schutzheilige unserer Autoren) hatte (abgesehen auch von der historischen Unzweideutigkeit der "Phänomenologie" in dem Abschnitt über die kantische "Moralität", in welcher sich für ihn das aufklärerische Bewußtsein einer unmittelbaren Freiheit auflöst) auf die historische Substanz der Aufklärung weder in den "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" Verzicht getan, in denen es beispielsweise heißt: "Was daher in den französischen philosophischen Schriften ... bewunderungswürdig ist, ist die erstaunliche Energie und Kraft des Begriffs gegen die Existenz, gegen den Glauben, gegen alle Macht der Autorität seit Jahrtausenden" (5), noch in den "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte", in denen sich die berühmten Seiten über die "Tugend" Robespierres usw. finden. So viel steht fest: die "Dialektik" unserer gebildeten Autoren schwebt über der Geschichte, schwebt. Das Ende ihres Fluges, wenn wir so sagen wollen, wäre die Überschreitung der bürgerlichen (mit der Aufklärung geborenen) Zivilisation oder auch ihre ideologische Widerlegung, aus Gründen, die jetzt nicht mehr schwer zu erraten sind: "Aufklärung hatte als bürgerliche^ längst vor Turgot und d'Alembert sich an ihr positiv! s tisch es /szien-tivischej/ Moment verloren. Sie war vor der Verwechslung der Freiheit mit dem Betrieb der Selbsterhaltung ,^pder der Anwendung der Kategorie des Nützlichen nie gefeit". (6) "Je weiter aber der Prozess der Selbsterhaltung durch die bürgerliche Arbeitsteilung geleistet wird, um so mehr erzwingt er die Selbstentäußerung der Individuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu formen haben" (6a) ... . "So bliebe das Verhältnis der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit bloß quantitativ, mechanisch, und Natur, ... würde Totalität und absorbierte die Freiheit ... Mit der Preisgabe des Denkens /Selbstreflexion oder Selbstbewußtsein/, das in seiner verding lichten Gestalt als Mathematik, Maschine, Organisation an den seiner vergessenden Menschen sich rächt, hat Aufklärung ihrer eigenen Verwirklichung entsagt." (7) Wie man sieht, handelt es sich um die soundsovielte spiritualistische, im Grunde romantische, Reaktion gegen die Technik und die moderne gesellschaftliche Organisation. Worum es diesen romantischen und folglich der bürgerlichen Welt, die sie aufs Korn nehmen, verhafteten Kritikern geht, ist tatsächlich die Versachlichung und Verdinglichung nicht so sehr des menschlichen Wesens, des wirklichen menschlichen Individuums, sondern eher des Denkens, des Selbstbewußtseins oder des Geistes: "Aufklärung", wiederholen sie Schopenhauer, "hat die klassische Forderung, das Denken zu denken ... beiseitegeschoben, weil sie vom Gebot, der Praxis zu gebieten, ablenke ... " (8) Und: "Die Verweisung des Denkens aus der modernen symbolischen Logik ratifiziert im Hörsaal die Versachlichung des Menschen in Fabrik und Büro" (9) - hier wird der Romantizismus konfus und verfährt kontaminierend. Die Verdinglichung des realen Individuums, des Menschen in der Fabrik und im Büro, läßt sich durchaus nicht mit der Dekadenz des Kultes von Geist und Innerlichkeit erklären, sondern, nach Marx, durch die Ökonomie und die Ethik der bürgerlichen Klasse, wobei die letztgenannte gerade durch die plato-nisierende oder idealistische und spiritualistische Auffassung des menschlichen Wesens konstituiert wurde, in deren Schutz der bürgerliche Besitzindividualismus und das Ideal seiner "heiligen Persönlichkeit" und die daraus folgende wirkliche Entäußerung des Menschen sich verbirgt. Es ist also alles genau umgekehrt: die bürgerlich ökonomische Struktur mit ihrem spiritualistischen aristokratischen kulturellen.Überbau erklärt die Versachlichung des Menschen in Fabrik und Büro usw. und seine Entäußerung: jene Entäußerung, welche das "sich verhärtende" oder "sich versachlichende" selbstbewußte Denken (oder Geist) als "Mathematik, Maschine" usw. usw. nicht zu erklären vermag, abgesehen von der voraussehbaren Tatsache, daß die Wissenschaft und ihre Anwendungen (Früchte der angeblichen "Verhärtung" des Geistes) einen Teil dessen ausmachen werden, was das Positivere des bürgerlichen Vermächtnisses an die zukünftige Zivilisation sein wird. Denn nicht die Maschine, die Technik an sich^ bedroht die Autonomie des menschlichen Individuums, sondern (und hier kommen wir auf den wichtigeren Punkt, der deutlicher hervortreten sollte) der Gebrauch, den die Menschen in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen einer die andere ausbeutenden und unterdrückenden Klasse davon machen. Die Technik ist in sich selbst optimal, insofern sie ein unerläßliches Instrument des forgeschrittenen menschlichen Lebens ist, sie ist jedoch wesentlich ein gesellschaftliches Instrument und ihre größere oder geringere menschlich-erzieherische Wirksamkeit hängt letztlich von der größeren oder geringeren Menschlichkeit der Gesellschaft ab, welche sie anwendet. Und hier bietet sich die einzige Möglichkeit der dialektischen Entwicklung und der Verwirklichung des historischen moralischen Gehalts der Aufklärung (der "Achtung " vor dem realen menschlichen Individuum), über den unsere Autoren hinweggegangen sind. Obwohl sie sich davon unterscheiden wollen, reihen sie sich in eben jene Schar von "Kritikern der Zivilisation" ein, zu denen Huizinga, Ortega y Gasset und Jaspers gehören, um die bedeutenderen zu nennen. Ihnen allen gemeinsam ist nämlich ein gewisses aristokratisches Nicht-Ertragen-können nicht nur der Technik, sondern auch (natürlich) der "Massen" (im allgemeinen) und ihrer "barbarischen" Kultur, die hinter der Technik der mass-media drängt.

"Die Regression der Massen heute" - so lamentieren unsere demokratischen Ästheten - "ist die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst." (9a)

Unvermeidlich sind diese Kritiker dieser "Krise" oberflächlich, denn sie sind deren hauptsächliche (mehr oder weniger berühmten) Patienten. (10)

Abschließend noch eine Detailbeobachtung zu einer typischen "dialektischen" Vergewaltigung eines Grundgedankens Spinozas: "Com-miseratio - sagen unsere brillianten Autoren - ist Menschlichkeit in unmittelbarer Gestalt, aber zugleich 'mala et inutilis' ,/vgl. Spinoza, Ethik/, nämlich als das Gegenteil der männlichen Tüchtigkeit", der "römischen virtus" . "Weibisch und kindisch nennt Clairwil /vgl. Sade/ das Mitleid." (11)

Nun sagt Spinoza gerade an der zitierten Stelle, im Fünfzigsten Lehrsatz des vierten Teils: "Mitleid ist bei einem Menschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt, an und für sich schlecht und unnütz"; (12) im Beweis erklärt er, daß "Mitleid ... Unlust (ist) /also ein besonderer(Affekt6 oder Passivität bzw. Irrationalität/ und daher an und für sich schlecht" und "das Gute ... , das aus ihm folgt, daß wir nämlich den bemitleideten Menschen von seinem Leid zu befreien suchen ..., suchen wir nachdem bloßen Gebot der Vernunft zu tun ...; und nur von dem, was wir nach dem Gebot der Vernunft tun, können wir gewiß wissen, daß es gut ist .... Daher ist Mitleid bei einem Menschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt, an und für sich schlecht und unnütz." Und er schließt die Anmerkung: "Denn wer weder durch die Vernunft noch durch Mitleid bewegt wird, anderen Hilfe zu leisten, der wird mit Recht unmenschlich genannt, denn er scheint . . . mit eir em Menschen keine Ähnlichkeit zu haben." (13)

Was hat also der heilige Spinoza - für den ebenfalls derjenige, der sich bemüht, die anderen nach der Vernunft zu leiten, nicht aus Affekt, sondern menschlich und gütig handelt - mit dem römischen virtus und - geradezu unaussprechlich - mit dem skrupellosen, verbrecherischen Kalkül der Lehrerin und Komplizin im Sadismus von "Juliette" zu tun? Wie kann man übersehen, daß Spinozas Vorbehalte gegen das "Mitleid " durch den ehtischen Rigorismus seines Rationalismus bedingt sind , dem gegenüber das Gefühl des Mitleids nicht bestehen kann, es sei denn faute-de-mieux? Mißgriffe dieser Art lassen sich - in ernsthaften Untersuchungen - nur mit den Flügen einer unbefangen phantasierenden Dialektik erklären: das bestätigt im übrigen, was oben über das antiaufklärerische und antirationalistische Paradox dieser beiden spätromantischen Ideologen gesagt wurde.

Anmerkungen

(1) "Dialektik der Aufklärung", Amsterdam 1947, S. 56

(2) Ebd., S. 9 und S. 10

(3) Ebd., S. 58

(4) Ebd., S. 114

(5) Hegel, "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", Theorie-Werkausgabe Bd. 20, S. 291

(6) "Dialektik der Aufklärung", a.a.O. S. 55 (Sperrung G.d.V.) (6a) Ebd., S. 43

(7) Ebd., S. 56

(8) Ebd., S. 38

(9) Ebd., S. 44 (9a) Ebd., S. 50

(10) In einem interessanten Aufsatz in den "Quadern! piacentini", vom Januar 1967 versucht Cesare Pianciola eine Verteidigung der beiden Autoren gegen meine (bereits Juni 1966 in "Ri-nascita", Rom, erschienene) Kritik:nachdem er unter anderem versichert hat, daß es "gewiß nicht 'die Maschine, die Technik an sich1 Ist, die, um die Sprache der philosophischen Anthropologie zu gebrauchen, das Menschliche am Menschen bedroht, und auch nicht der bloße, von dem kapitalistischen verschiedene Gebrauch, der es garantiert, wie Della Volpe voreilig schließt", sieht er sich jedoch gezwungen, dem Verfasser dieses zuzugestehen, wieviel er ihm entnommen hat, als er anläßlich Horkheimers und Adornos in seiner Schlußbemerkung von einer "neuen emotionalen Tönung der utopistischen Hoffnung" (gesperrt von mir) spricht. Im Wesentlichen sind wir einig! Vgl. auch G.d.V., "Marcuses Moralismus und Utopismus", in diesem Band S.91-99

(11) "Dialektik der Aufklärung", a.a.O., S. 123

(12) Spinoza, "Ethik", übers, von Jakob Stern, hrsg. von Helmut Seidel, Röderberg Verlag 1972, S. 312 (Sperrung, G.d.V.)

(13) Ebd., S. 313

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Galvano Della Volpe, Für eine materialistische Methodologie, Westberlin 1973, S. 117-122