Das Paradox ist mit einfachen
Worten folgendes: Insofern Aufklärung auf den wissenschaftlichen
Kalkül des Nützlichen und damit auf die genaue Einschätzung der
einem Zweck angemessenen Mittel reduzierbar ist, verkehrt sie
sich (das ist die "Dialektik") in ihr Gegenteil, in Technik der
Herrschaft und Unterdrückung mit ihren modernen, alten und
neuen, funktionalen Mythen. "Als ... bloße Konstruktion von
Mitteln ist Aufklärung so destruktiv, wie ihre romantischen
Feinde es ihr nachsagen ... , Aufklärung vollendet sich und hebt
sich auf ..." (1), so lautet die (zumindest in der Form hegelanisierende)
Schlußfolgerung des ersten, dem "Begriff der Aufklärung"
gewidmeten Teils. Und doch hindert diese These von (wie wir
sehen werden) ziemlich brüchiger Konsistenz die Autoren nicht an
der festen Überzeugung, daß "die Aufklärung ... sich auf sich
selbst besinnen (muß), wenn die Menschen nicht vollends verraten
werden sollen", und daß "an Aufklärung geübte Kritik ... einen
positiven Begriff von ihr vorbereiten (soll), der sie aus ihrer
Verstrickung in blinder Herrschaft löst." (2) (Hier und im
ganzen Buch, das zuerst 1944 herausgegeben wurde, halten die
Autoren vor allem das "monstrum horrendum" des Nazismus
gegenwärtig.) Es ist jedoch eine Überzeugung oder Hoffnung, die,
so edel sie ist, kein Fundament hat, wenn dieses in der oben
ausgesprochenen extravaganten These bestehen soll. Der als
Prämisse genommene Begriff der Aufklärung ist nämlich zu
einseitig und arm. Wahr ist: das Kriterium der Berechnung des
menschlichen und gesellschaftlichen Nutzens ist sicherlich eine
Komponente dieser Ideologie, welche jegliches Prinzip
dogmatischer Autorität, beginnend mit dem der
religiös-kirchlichen Autorität, kritisiert und zurückweist und
deshalb dem Individuum sagt (um die klassischen kantischen
Formulierungen zu gebrauchen): Sapere aude! oder "Habe Mut, dich
deines eigenen Verstandes zu bedienen", um dadurch aus dem
Zustand der Unmündigkeit herauszutreten, usw. usw.; dies ist
jedoch nicht die einzige Komponente; für sich oder abstrakt
genommen, abstrahierend, und zwar von der weltlichen
Pflichtenlehre, die sie begleitet, oder auch von der "Toleranz",
der "Achtung" des menschlichen Individuums als Zweck und niemals
Mittel, usw., ist jener Begriff selbst
deformiert oder verstümmelt. Mit anderen Worten, man wird der
Aufklärung weder historisch noch philosophisch gerecht, wenn man
den Baconschen und szien-tivischen Beitrag überbetont, der
demnach darin besteht, die aufgeklärte Vernunft auf eine bloß
"kalkulierende Vernunft" und auf die mit ihr mehr oder weniger
synonyme "formalistische Vernunft", "Naturwissenschaft",
"Technik", "statistische Erhebung" (beispielsweise von bei einem
Pogrom Ermordeten) und so weiter zu reduzieren. Es'ist aber
evident, daß eine solche Verarmung des Begriffs der Aufklärung
sich der (unglaublich) extremen AIIgemeinheit seiner Bedeutung
verdankt, für die die Aufklärung geradezu mit "List" des
Odysseus beginnt ("Wie die Erzählung von den Sirenen die
Verschränktheit von Mythos und rationaler Arbeit in sich
beschließt, so legt die Odyssee insgesamt Zeugnis ab von der
Dialektik der Aufklärung": siehe "Exkurs l, Odysseus oder Mythos
und Aufklärung" (3) ) und - über Bacon und das Aufkommen der
experimentellen Wissenschaft - mit Sade und Nietzsche endet:
"Das Werk Sades, wie dasjenige Nietzsches ... steigert das
szientivische Prinzip ins Vernichtende" (4) (siehe "Exkurs II,
Juliette oder Aufklärung und Moral"). Der alte Hegel jedoch (der
Schutzheilige unserer Autoren) hatte (abgesehen auch von der
historischen Unzweideutigkeit der "Phänomenologie" in dem
Abschnitt über die kantische "Moralität", in welcher sich für
ihn das aufklärerische Bewußtsein einer unmittelbaren Freiheit
auflöst) auf die historische Substanz der Aufklärung weder in
den "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" Verzicht
getan, in denen es beispielsweise heißt: "Was daher in den
französischen philosophischen Schriften ... bewunderungswürdig
ist, ist die erstaunliche Energie und Kraft des Begriffs gegen
die Existenz, gegen den Glauben, gegen alle Macht der Autorität
seit Jahrtausenden" (5), noch in den "Vorlesungen über die
Philosophie der Geschichte", in denen sich die berühmten Seiten
über die "Tugend" Robespierres usw. finden. So viel steht fest:
die "Dialektik" unserer gebildeten Autoren schwebt über der
Geschichte, schwebt. Das Ende ihres Fluges, wenn wir so sagen
wollen, wäre die Überschreitung der bürgerlichen (mit der
Aufklärung geborenen) Zivilisation oder auch ihre ideologische
Widerlegung, aus Gründen, die jetzt nicht mehr schwer zu erraten
sind: "Aufklärung hatte als bürgerliche^ längst vor Turgot und
d'Alembert sich an ihr positiv! s tisch es /szien-tivischej/
Moment verloren. Sie war vor der Verwechslung der
Freiheit mit dem Betrieb der Selbsterhaltung ,^pder der
Anwendung der Kategorie des Nützlichen
nie gefeit". (6) "Je weiter aber der Prozess der
Selbsterhaltung durch die bürgerliche Arbeitsteilung geleistet
wird, um so mehr erzwingt er die Selbstentäußerung der
Individuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen
Apparatur zu formen haben" (6a) ... . "So bliebe das Verhältnis
der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit bloß quantitativ,
mechanisch, und Natur, ... würde Totalität und absorbierte
die Freiheit ... Mit der Preisgabe des Denkens
/Selbstreflexion oder Selbstbewußtsein/, das in seiner verding
lichten Gestalt als Mathematik, Maschine, Organisation an den
seiner vergessenden Menschen sich rächt, hat Aufklärung ihrer
eigenen Verwirklichung entsagt." (7) Wie man sieht,
handelt es sich um die soundsovielte spiritualistische,
im Grunde romantische, Reaktion gegen die Technik und die
moderne gesellschaftliche Organisation. Worum es diesen
romantischen und folglich der bürgerlichen Welt, die sie aufs
Korn nehmen, verhafteten Kritikern geht, ist tatsächlich die
Versachlichung und Verdinglichung nicht so sehr des menschlichen
Wesens, des wirklichen menschlichen Individuums, sondern eher
des Denkens, des Selbstbewußtseins oder des Geistes:
"Aufklärung", wiederholen sie Schopenhauer, "hat die klassische
Forderung, das Denken zu denken ... beiseitegeschoben, weil sie
vom Gebot, der Praxis zu gebieten, ablenke ... " (8) Und: "Die
Verweisung des Denkens aus der modernen
symbolischen Logik ratifiziert im Hörsaal
die Versachlichung des Menschen in Fabrik und Büro" (9) - hier
wird der Romantizismus konfus und verfährt kontaminierend. Die
Verdinglichung des realen Individuums, des Menschen in der
Fabrik und im Büro, läßt sich durchaus nicht mit der Dekadenz
des Kultes von Geist und Innerlichkeit erklären, sondern, nach
Marx, durch die Ökonomie und die Ethik der bürgerlichen Klasse,
wobei die letztgenannte gerade durch die plato-nisierende oder
idealistische und spiritualistische Auffassung des menschlichen
Wesens konstituiert wurde, in deren Schutz der bürgerliche
Besitzindividualismus und das Ideal seiner "heiligen
Persönlichkeit" und die daraus folgende wirkliche Entäußerung
des Menschen sich verbirgt. Es ist also alles genau umgekehrt:
die bürgerlich ökonomische Struktur mit ihrem spiritualistischen
aristokratischen kulturellen.Überbau erklärt die Versachlichung
des Menschen in Fabrik und Büro usw. und seine Entäußerung: jene
Entäußerung, welche das "sich verhärtende" oder "sich
versachlichende"
selbstbewußte Denken (oder Geist) als "Mathematik, Maschine"
usw. usw. nicht zu erklären vermag, abgesehen von der
voraussehbaren Tatsache, daß die Wissenschaft und ihre
Anwendungen (Früchte der angeblichen "Verhärtung" des Geistes)
einen Teil dessen ausmachen werden, was das Positivere des
bürgerlichen Vermächtnisses an die zukünftige Zivilisation sein
wird. Denn nicht die Maschine, die Technik an sich^ bedroht die
Autonomie des menschlichen Individuums, sondern (und hier kommen
wir auf den wichtigeren Punkt, der deutlicher hervortreten
sollte) der Gebrauch, den die Menschen in ihren
gesellschaftlichen Verhältnissen einer die andere ausbeutenden
und unterdrückenden Klasse davon machen. Die Technik ist in sich
selbst optimal, insofern sie ein unerläßliches Instrument des
forgeschrittenen menschlichen Lebens ist, sie ist jedoch
wesentlich ein gesellschaftliches Instrument und ihre größere
oder geringere menschlich-erzieherische Wirksamkeit hängt
letztlich von der größeren oder geringeren Menschlichkeit der
Gesellschaft ab, welche sie anwendet. Und hier bietet sich die
einzige Möglichkeit der dialektischen Entwicklung und der
Verwirklichung des historischen moralischen Gehalts der
Aufklärung (der "Achtung " vor dem realen menschlichen
Individuum), über den unsere Autoren hinweggegangen sind. Obwohl
sie sich davon unterscheiden wollen, reihen sie sich in eben
jene Schar von "Kritikern der Zivilisation" ein, zu denen
Huizinga, Ortega y Gasset und Jaspers gehören, um die
bedeutenderen zu nennen. Ihnen allen gemeinsam ist nämlich ein
gewisses aristokratisches Nicht-Ertragen-können nicht nur der
Technik, sondern auch (natürlich) der "Massen" (im allgemeinen)
und ihrer "barbarischen" Kultur, die hinter der Technik der
mass-media drängt.
"Die Regression der Massen heute" - so lamentieren unsere
demokratischen Ästheten - "ist die Unfähigkeit, mit eigenen
Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten
zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte
mythische ablöst." (9a)
Unvermeidlich sind diese Kritiker dieser "Krise"
oberflächlich, denn sie sind deren hauptsächliche (mehr oder
weniger berühmten) Patienten. (10)
Abschließend noch eine Detailbeobachtung zu einer typischen
"dialektischen" Vergewaltigung eines Grundgedankens Spinozas: "Com-miseratio
- sagen unsere brillianten Autoren - ist Menschlichkeit in
unmittelbarer Gestalt, aber zugleich 'mala et inutilis' ,/vgl.
Spinoza, Ethik/, nämlich als das Gegenteil der männlichen
Tüchtigkeit", der "römischen virtus" . "Weibisch und kindisch
nennt Clairwil /vgl. Sade/ das Mitleid." (11)
Nun sagt Spinoza gerade an der zitierten Stelle, im
Fünfzigsten Lehrsatz des vierten Teils: "Mitleid ist bei einem
Menschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt, an und für
sich schlecht und unnütz"; (12) im Beweis erklärt er, daß
"Mitleid ... Unlust (ist) /also ein besonderer(Affekt6 oder
Passivität bzw. Irrationalität/ und daher an und für sich
schlecht" und "das Gute ... , das aus ihm folgt, daß wir nämlich
den bemitleideten Menschen von seinem Leid zu befreien suchen
..., suchen wir nachdem bloßen Gebot der Vernunft zu tun ...;
und nur von dem, was wir nach dem Gebot der Vernunft tun, können
wir gewiß wissen, daß es gut ist .... Daher ist Mitleid bei
einem Menschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt, an und
für sich schlecht und unnütz." Und er schließt die Anmerkung:
"Denn wer weder durch die Vernunft noch durch Mitleid bewegt
wird, anderen Hilfe zu leisten, der wird mit Recht unmenschlich
genannt, denn er scheint . . . mit eir em Menschen keine
Ähnlichkeit zu haben." (13)
Was hat also der heilige Spinoza - für den ebenfalls
derjenige, der sich bemüht, die anderen nach der Vernunft zu leiten,
nicht aus Affekt, sondern menschlich und gütig handelt - mit dem
römischen virtus und - geradezu unaussprechlich - mit dem
skrupellosen, verbrecherischen Kalkül der Lehrerin und Komplizin
im Sadismus von "Juliette" zu tun? Wie kann man übersehen, daß
Spinozas Vorbehalte gegen das "Mitleid " durch den ehtischen
Rigorismus seines Rationalismus bedingt sind , dem gegenüber das
Gefühl des Mitleids nicht bestehen kann, es sei denn
faute-de-mieux? Mißgriffe dieser Art
lassen sich - in ernsthaften Untersuchungen - nur mit den Flügen
einer unbefangen phantasierenden Dialektik erklären: das
bestätigt im übrigen, was oben über das antiaufklärerische und
antirationalistische Paradox dieser beiden spätromantischen
Ideologen gesagt wurde.
Anmerkungen
(1) "Dialektik der Aufklärung", Amsterdam 1947, S. 56
(2) Ebd., S. 9 und S. 10
(3) Ebd., S. 58
(4) Ebd., S. 114
(5) Hegel, "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie",
Theorie-Werkausgabe Bd. 20, S. 291
(6) "Dialektik der Aufklärung", a.a.O. S. 55 (Sperrung G.d.V.)
(6a) Ebd., S. 43
(7) Ebd., S. 56
(8) Ebd., S. 38
(9) Ebd., S. 44 (9a) Ebd., S. 50
(10) In einem interessanten Aufsatz in den "Quadern!
piacentini", vom Januar 1967 versucht Cesare Pianciola eine
Verteidigung der beiden Autoren gegen meine (bereits Juni 1966
in "Ri-nascita", Rom, erschienene) Kritik:nachdem er unter
anderem versichert hat, daß es "gewiß nicht 'die Maschine, die
Technik an sich1 Ist, die, um die Sprache der philosophischen
Anthropologie zu gebrauchen, das Menschliche am Menschen
bedroht, und auch nicht der bloße, von dem kapitalistischen
verschiedene Gebrauch, der es garantiert, wie Della Volpe
voreilig schließt", sieht er sich jedoch gezwungen, dem
Verfasser dieses zuzugestehen, wieviel er ihm entnommen hat, als
er anläßlich Horkheimers und Adornos in seiner Schlußbemerkung
von einer "neuen emotionalen Tönung der utopistischen Hoffnung"
(gesperrt von mir) spricht. Im Wesentlichen sind wir einig! Vgl.
auch G.d.V., "Marcuses Moralismus und Utopismus", in diesem Band
S.91-99
(11) "Dialektik der Aufklärung", a.a.O., S. 123
(12) Spinoza, "Ethik", übers, von Jakob Stern, hrsg. von
Helmut Seidel, Röderberg Verlag 1972, S. 312 (Sperrung, G.d.V.)
(13) Ebd., S. 313
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus: Galvano Della
Volpe, Für eine materialistische Methodologie, Westberlin
1973, S. 117-122
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