Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

12/11

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Massen, Spontaneität, Partei
Eine Diskussion zwischen Jean-Paul Sartre und ll Manifesto
(1969)

MANIFESTO: Während der Mai-Ereignisse in  Frankreich und allgemein während der Klassenkämpfe  1968 haben die Basis-Bewegungen  den kommunistischen   Parteien  nicht nur ihre bürokratische   Degeneration oder ihre reformistischen Optionen  vorgeworfen; sie haben den  Begriff der  Partei selber,  als einer durch die Klasse strukturierten politischen Organisation, kritisiert.  Als die  Basis-Bewegung rückläufig wurde,   haben mehrere  "linksradikale"  Gruppen erneut der Organisation gegenüber dem Spontaneismus den Vorzug ge­geben  und die  Rückkehr zu einem  "reinen"  Leninismus pro­pagiert.  Weder die eine noch die andere dieser beiden Ein­stellungen  erscheinen  uns zufriedenstellend.   Aber man kann den  Spontaneismus wohl auch  nur unter der  Bedingung kri­tisieren  - das  lehrt uns das Jahr  1968 -,   daß die subjekti­ve  Reife der  Klasse heutzutage eine neue  Organisationsform verlangt,   weiche den  Erfordernissen  des Kampfes in den Ge­sellschaften  des fortgeschrittenen   Kapitalismus angepaßt ist.

Wir möchten die theoretischen  Grundlagen dieses  Problems zum  Zentrum  unseres Gespräches machen.   Diese  nehmen Raum  in   Ihrem   Denken  ein,   und  zwar seit der  nunmehr klas­sischen   Diskussion  von   1952  ("Les communistes et   la paix") und der darauf folgenden  Polemik mit  Lefort  und  Merleau-Ponty,   über  "Le  Fantome de Staline" (1956)  bis hin zur "Kri­tik  der dialektischen  Vernunft".

1952 hat man  Sie des Hypersubjektivismus beschuldigt,  man hat  Ihnen  vorgeworfen,   der Klasse keine andere   Existenz zu­zusprechen als in  der  Partei;   1956 hat man an  Sie  die  um­gekehrte Anklage gerichtet:  die eines  Objektivismus,    der dazu  tendiert,   den  Stalinismus als ein  unvermeidbares  Pro­dukt einer historischen  Situation  zu erklären.   Tatsächlich scheinen  uns beide  Positionen  eine gemeinsame   Basis in dem Begriff des  "Mangels"   (rarete')  zu besitzen,   des strukturellen Rückstandes des Landes,   in dem sich die  Oktoberrevolution ereignete,   der  "Notwendigkeiten",   die durch die Tatsache, daß die   Revolution noch  nicht  "reif'war  und der Sozialis­mus während einer  Phase der ursprünglichen Akkumulation aufgebaut werden mußte,   aufgezwungen wurden. Sie vertraten die Auffassung,daß in dieser spezifischen  Si­tuation die  Partei  sich notwendigerweise über eine Masse stellen mußte,   die nicht das Niveau des erforderlichen Be­wußtseins erreicht hatte.   Glauben  Sie,   daß dieses  Bild einer  Partei  - das sowohl  das  Ihre wie das unsrige   wäh­rend der fünfziger Jahre war - revidiert werden muß, weil die  Situation sich verändert hat,   oder weil   im  Gegenteil die  Formulierungen von damals theoretische  Unzulänglich­keiten aufwiesen,  die seither viel  klarer zutage getreten sind? 

SARTRE:   Es gab sicherlich  theoretische  Unzulänglichkeiten. Aber man muß sie historisch situieren.   1952,  als ich   "Les communistes et  la paix" geschrieben habe,   bestand die we­sentliche politische  Entscheidung  in  der Verteidigung   der PCF und vor allem der des  Imperialismus angeklagten UdSSR. Entscheidend war,   diese Anschuldigung zurückzuweisen, wenn man  sich  nicht auf der Seite der Amerikaner wiederfinden wollte.   In der  Folge hat sich  herausgestellt,  daß die  UdSSR, während sie  in   Budapest so handelte,   wie  Stalin  - aus po­litischer  Klugheit oder wegen anderer Gründe -  1948 mit Jugoslawien  nicht gehandelt hatte,   während sie dann in der Tschechoslowakei  rückfällig wurde,   sich  in  der Manier einer imperialistischen Großmacht benimmt.  Wenn  ich dies sage, will  ich damit nicht ein moralisches Urteil  sprechen.    Ich behaupte  lediglich,   daß die Außenpolitik  der UdSSR wesent­lich durch  ihr antagonistisches Verhältnis zu  den  Vereinigten Staaten beeinflußt scheint und nicht durch  ein  Prinzip des Respektes,   der Gleichheit gegenüber den anderen  Sozialistschen  Staaten.  Aus dieser  Feststellung ergab sich meine Po­sition von  1956.   Ganz gewiß kam ich,  als ich an diesem Punkt angelangt war,   nicht umhin,   den Widerspruch zu mei­ner  Position von   1952 zu entdecken.   Ich habe versucht, mich dessenthalben  in der  "Kritik der dialektischen Vernunft"   zu erklären.   Es handelt sich allerdings um eine formale Lösung, die mit einer historischen Analyse der UdSSR in der Stalin-Ära hätte fortgesetzt werden müssen - einer bereits skizzier­ten Analyse,   Teil  eines zweiten   Bandes der  "Kritik",  wel­cher vermutlich niemals erscheinen wird. Zusammengefaßt:  Was ich hinsichtlich der Begriffe Masse, Partei,    Spontaneität,    Serialisation,   Kanä­le,    Gruppen   zu zeigen versuchte,  stellt den  Keim einer Antwort auf dieses Problem dar.   Im Grunde habe ich zu zei­gen versucht,  daß die  Partei  im Vergleich zu der Masse eine notwendige   Realität ist,  weil  die Masse aus sich selbst heraus keine Spontaneität   besitzt.Aus sich selbst heraus bleibt die Masse seriell (serielle).  Aber umgekehrt ist die Partei,  sobald sie  zur  Institution wird,   -es sei  denn unter außergewöhnlichen  Umständen  -  reaktionär im Vergleich zu dem,  was sie selber hervorruft oder erzeugt:  der fusionie­renden    Gruppe   (groupe en  fusion).   In anderen   Begriffen formuliert: das  Dilemma Spontaneität/Partei  ist ein falsches Problem.   Unter dem Gesichtspunkt des Selbstbewußtseins er­scheint die  Klasse nicht als homogen,  sondern vielmehr als ein  Komplex von  Elementen,  von  Gruppen,   die ich als "fu­sionierende"  (en fusion) definiere.   Unter   den   Arbeitern finden wir immer fusionierende Gruppen  in der oder jener Fabrik,  wo ein  Kampf stattfindet,   in dessen  Verlauf die In­dividuen Beziehungen der Wechselseitigkeit herstellen, sich im Vergleich zum  Ensemble dessen erfreuen,   was ich  "wil­de   Freiheit"   (liberre'  sauvage)  genannt habe,   und ein prä­zises  Bewußtsein  ihres "Klassenseins"  (etre-de-c lasse) erlan­gen.

Abseits dieser fusionierenden  Gruppen aber gibt es andere Arbeiter,   die - nicht vereint durch einen Kampf - serialisiert bleiben und daher zur Spontaneität unfähig sind,  weil sie mit den anderen  nicht verbunden sind - es sei  denn durch ein Verhältnis der Verdinglichung,   durch ein serielles Ver­hältnis.   Sie sind beständig andere als sie selbst,   da einzig mittels eines  Bezuges zum anderen bestimmt.   Die  Beziehun­gen  der Serialität  (Vermassung usw.) belasten  und beeinträch­tigen  fortdauernd selbst eine fusionierende Gruppe,   z.B. einen streikenden  Betrieb.   Derselbe Arbeiter,  der am Arbeitsplatz sich  in einer fusionierenden  Gruppe befindet,  kann vollstän­dig serialisiert sein,   wenn er bei  sich  zu  Hause oder in an­deren  Situationen seines Lebens ist.  Wir haben also sehr ver­schiedene  Formen von  Klassenbewußtsein vor uns:  einerseits ein  fortgeschrittenes  Bewußtsein,   andrerseits ein quasi inexi­stentes Bewußtsein,   und zwischen  den  beiden eine  Reihe von Vermittlungen.   Daher,  so scheint mir,   kann man nicht   von einer  Klassen-Spontaneität   sprechen; man kann korrekter­weise nur von  Gruppen   sprechen,  die von den  Umständen geschaffen werden,   die sich selbst der jeweiligen  Situation entsprechend erzeugen und,   indem sie sich selbst schaffen, nicht irgendeine unergründliche Spontaneität wiedergewinnen, sondern auf der Basis von spezifischen Ausbeutungssituationen und präzisen  Forderungen die Erfahrung einer spezifischen Be­dingung machen, eine  Erfahrung, in deren Verlauf sie sich selbst mehr oder weniger richtig denken.

Was stellt demnach die  Partei gegenüber der Serie dar?   Ge­wiß eine gute Sache,   da die  Partei  es verhindert,   in die vollständige Serialität zu fallen.  Auch die Mitglieder einer kommunistischen  Partei  würden  isolierte und serialisierte In­dividuen bleiben,  wenn die Partei  sie nicht mittels einer organischen Verbindung als Gruppe konstituieren würde, näm­lich mittels einer Verbindung,  die es dem  Kommunisten aus Mailand erlaubt,   zu einem anderen kommunistischen Arbeiter aus irgendeiner anderen  Region  in  Beziehung zu stehen.  Dar­über hinaus bilden sich dank der Partei  während des  Kam­pfes zahlreiche Gruppen,   da die  Partei die Kommunikation ermöglicht.   Dennoch  befindet sich die  Partei gegenüber der fusionierenden  Gruppe,   zu deren  Entstehung sie selbst bei­getragen  hat,   in der  Regel  unter dem Zwang,  sie zu absor­bieren oder zu verneinen.   Im Verhältnis zur Gruppe,   deren Strukturierung niemals über eine Art wechselseitiger Übereinkunft    hinausgeht,   ist die  Partei  sehr viel stärker struktu­riert.   Eine Gruppe bildet sich in einem heißen  Zustand, zum Beispiel  angesichts eines Ziels ("Stürmt die  Bastille!");   so­fort nach der Aktion  finden sich  die  Individuen,   die die Gruppe ausmachen,   beunruhigt einander gegenüber wieder und versuchen  in  ihrer  Freiheit eine Verbindung herzustel­len,   die die in der Aktion geschaffene unmittelbare Ver­bindung ersetzen könnte,   d.h.  eine Art Übereinkunft oder Schwur,  welche wiederum dazu tendiert,   den  Keim einer Serie zu konstituieren und zwischen  ihnen eine  Beziehung von verdinglichter Kontiguität zu errichten.   Das habe ich "Fraternité-terreur“ genannt.   Im Gegensatz dazu entwickelt sich die  Partei  als ein  Komplex von  Institutionen, also als ein geschlossen es,  statisches und tendenziell  verkalk­tes System.  Aus diesem Grunde ist die  Partei  im Verhältnis zur fusionierenden Masse immer im  Rückstand - selbst wenn sie versucht,   die Masse zu führen  -,  weil sie sie schwächt, weil  sie versucht,  sie sich unterzuordnen  und selbst davor nicht zurückscheut,   sie zu verleugnen,  sich von ihr zu tren­nen.

Denken und Handeln  jeder Gruppe spiegeln notwendigerwei­se diese Struktur wider.   Folgendes ereignet sich also:   das Denken einer fusionierenden  Gruppe - weil  es im  Feuer einer besonderen  Situation  und nicht aufgrund einer x-beliebigen "Spontaneität"  entsteht - hat einen viel stärkeren, kritischeren neueren Auftrag als das einer strukturierten Gruppe.  Als In­stitution weist die  Partei  ein  institutionalisiertes  Denken auf (d.h.   etwas,  was sich von einem  Denken  über die  Reali­tät   entfernt),   ein  ideologisches  Denken also, das im wesentli­chen nur noch die eigene Organisation widerspiegelt.    Die Erfahrung des Kampfes modelliert sich  nach dem  Schema der Partei  und wird damit deformiert; demgegenüber denkt die fusionierende Gruppe die  Erfahrung so,  wie sie sich darstellt, ohne institutionelle Vermittlung.   Darum kann  das  Denken einer Gruppe vage,   unbequem und nicht-theoretisierbar sein - wie es die  Ideen der Studenten  im Mai   1968 waren  -; aber dennoch kann es einen  Reflexionsgrad" erreichen,   der viel    wahrer   ist    weil keine  Institution sich zwischen die Erfahrung und die  Reflexion der  Erfahrung schiebt. Gewiß berühren wir hier einen Widerspruch,  der der  Funk­tion der Partei  selbst inhärent ist.   Die  Partei  entsteht,   um die Arbeiterklasse aus der Serialisation  zu befreien,   aber sie ist zugleich  ein  Reflex -  Reflex eines bestimmten  Typus,  da sie besteht,   um diesen aufzuheben  - der Serialisation und der Vermassung der Massen,  auf die sie einwirkt.   Diese Seriali­sation der Massen spiegelt sich in  ihrer  Institutionalität wi­der; da die  Partei  gezwungen  ist,   Beziehungen  zum Seriel­len zu unterhalten,   ist sie selbst zum  Teil  inert und seriell. Da sie sich  selbst schützen muß,  gelangt sie schließlich da­zu,   sich den fusionierenden  Gruppen entgegenzusetzen, wel­che gleichwohl einen Aspekt  jener Arbeiterklasse darstellen, die sie ausdrücken will  und die sie selbst so oft als erste her­vorgerufen hat.

Hier  liegt der grundlegende Widerspruch der Partei:  entstan­den,   um die Massen aus der Serialität zu befreien,   wurde sie selbst zur Institution.   Die  Partei  trägt als solche  in sich ein so mächtiges Passivum  (ich spiele nicht auf die  Bürokra­tie oder andere  Formen von  Degeneration an,  sondern mei­ne hier die institutionelle Struktur selbst,  die nicht notwen­dig bürokratisch sein muß),   daß sie sich grundsätzlich in al­len  Fällen allen neuen  Kräften entgegenstellen  muß,   sei es, um sich ihrer zu bedienen,  sei  es,   um sie zurückzuweisen. Man hat diese beiden unterschiedenen  Einstellungen an dem Verhalten der französischen  und der italienischen Kommu­nistischen  Partei gegenüber den Studenten  beobachten kön­nen.   Die  PCF hat die Studenten zurückgestoßen,   während die  PCI sich viel subtiler verhält:  sie versucht,  die Stu­denten an sich  zu ziehen und deren  Erfahrungen durch die Bemühung um  Kontakt und  Diskussion zu kanalisieren.   Eine Partei  kann nur zwischen diesen  beiden  Verhaltensweisen wählen; hier  liegt ihre innere Begrenzung. Nennen wir noch ein  Beispiel,  ein klassisches: die Frage des demokratischen  Zentralismus.   Sobald der demokratische Zentralismus in einer sich  in  Bewegung befindlichen Situa­tion praktiziert wird,   zum  Beispiel  in der Clandestinität und während der  Entfaltung  des Kampfes in   Rußland,   d.h. genau zu der Zeit,  als Lenin die Theorie des demokrati­schen  Zentralismus entwickelte,   blieb er ein belebendes Element.   Es gab ein  Moment von  Zentralismus,  weil  er not­wendig war,   und ein Moment von wirklicher  Demokratie, weil  die Leute miteinander sprachen  und die  Entscheidung gemeinsam gefunden wurde.   Kaum hatte er sich  institutio­nalisiert - wie es in allen kommunistischen Ländern der Fall  ist -,  gewann der Zentralismus die Überhand über die Demokratie.   Damit wurde auch die   Demokratie zur  "Insti­tution",   deren eigentümlicher Trägheit  (inertie)  unterwor­fen:  es existiert zum  Beispiel  ein  Rederecht,   aber die allei­nige Tatsache,   daß es ein  Recht ist -  und dies allein -, entleert es seines  Inhalts soweit,   daß es in Wirklichkeit ein Nicht-Recht wird.   Die wirkliche  Frage besteht also darin, zu wissen,  wie man den der Natur der Partei  inhärenten Widerspruch  übersteigen kann,  damit die  Partei   (nicht nur in  ihrer  Beziehung zum Gegner und zu ihren kämpferischen Aufgaben,   sondern gegenüber der Klasse,   die sie repräsen­tiert)  eine aktive Vermittlung mit den serialisierten  und ver-massten  Elementen  im  Hinblick auf einen  Versuch der Ver­einigung  herstellen kann; damit die  Partei  folglich fähig wäre,   die aus den  Bewegungen kommenden  Impulse aufzu­nehmen und,  statt sie führen zu wollen,   die in  ihnen ent­haltene  Erfahrung für die  Bewegung und sich selbst zu ge­neralisieren.

MANIFESTO:   Der wirkliche Ort des revolutionären  Bewußt­seins  liegt also weder in der  Klasse  in ihrer Unmittelbar­keit noch in der Partei,  sondern  im  Kampf.   Die  Partei wäre lebendig,   sofern sie ein  Kampfinstrument ist,  aber sobald sie zur  Institution wird,  verwechselt sie den  Zweck mit den Mitteln und verwandelt sich zum  Selbstzweck.   Der innere Widerspruch der Partei, den Sie offengelegt haben,  wird sich vielleicht in dem Maße auflösen,   in dem man versucht, das Problem der politischen  Organisation der Klasse nicht mehr in seiner Allgemeinheit,   sondern  in der Unmittelbar­keit der besonderen  Situationen anzugehen.   Eine meta-historische  Lösung scheint  unmöglich  zu sein.   Es kommt also darauf an,   die objektiven  Bedingungen,   unter denen die­ses  Dilemma in  jedem  Einzelfall  gelöst werden kann,   ins Auge zu fassen.   Dies impliziert unserer Ansicht nach zwei Voraussetzungen:  die  Klasse muß das Niveau der Serialität überschreiten,   um wirklich in  ihrer Gesamtheit das Subjekt einer kollektiven Aktion zu werden,   fähig zur Hegemonie...

SARTRE:   Das ist eine unmögliche  Bedingung:  die Arbeiter­klasse kann sich als aktives politisches Subjekt niemals voll­ständig ausdrücken; es wird immer  Zonen oder  Regionen oder Randgebiete geben,   die aus historischen  Gründen der  Ent­wicklung serialisiert,   vermasst,  einer  Bewußtwerdung unzu­gänglich  bleiben werden.   Es gibt immer ein   Residuum. Man neigt augenblicklich stark dazu,   die  Begriffe  Klassenbe­wußtsein    und  Klassenkampf   zu  Elementen, die   dem Kampf a priori  vorgegeben  sind,   zu verallgemeinern.  Aber es gibt nur das a priori  der objektiven Situation der Aus­beutung der  Klasse.   Das Bewußtsein entsteht allein  im und durch den  Kampf.   Der  Klassenkampf existiert als solcher nur dann,  wenn es einen  Ort gibt,  wo man sich wirklich schlägt.   Es ist wahr,   daß das Proletariat in sich den Tod der  Bourgeoisie trägt; es ist wahr,   daß das kapitalistische System von  strukturellen Widersprüchen zerrüttet wird; aber dieses impliziert nicht notwendigerweise die  Existenz eines Klassenbewußtseins oder eines Klassenkampfes.   Damit es überhaupt  Bewußtsein   und Kampf  gibt,   muß sich  je­mand schlagen.

In anderen Worten:   Im kapitalistischen  System ist der Klas­senkampf virtuell  überall möglich,  aber real  existiert er nur da,  wo man ihn wirklich führt.  Andrerseits:  selbst da,   wo man den  Klassenkampf führt,   sieht er in Abhängigkeit von der spezifischen Situation  jeweils anders aus.  In  Frankreich z.B.   sind die  Bedingungen  und Typen des Kampfes extrem verschieden:  in  Saint-Nazaire konservieren die sehr gewalt­samen Arbeiterkämpfe die Merkmale des  letzten Jahrhun­derts;  in anderen,  kapitalistisch viel  "fortgeschritteneren" Gebieten besitzen die Arbeiterkämpfe einen anderen  Charakter,  eine vielleicht viel fruchtbarere Artikulation von Forderungen,  aber in einem viel  gemäßigteren  Kontext.  Dar­um  ist es nicht möglich,  von  Vereinigung   (unification) - es sei  denn theoretisch  - zu sprechen,   selbst nicht für je­nen Teil  der Arbeiterklasse,  der sich wirklich  im  Kampf be­findet.   Die von der CGT organisierten 24-stündigen  Ge­neralstreiks sind bestenfalls das Symbol  eines Kampfes. 

MANIFESTO: Aber befinden wir uns nicht in einer  Phase kapitalistischer Vereinheitlichung  (unification)  der Gesell­schaft,  sowohl  vom Gesichtspunkt der  Basis wie des Über­baus (Konsumtionsmodelle,   Lebensweise,   Sprache, Vermas­sung) her?   Entspricht nicht der Parzellierung der individu­ellen  Situationen eine immer evidenter werdende  "Totali­tät" des Systems?  Muß dies nicht zur Konsequenz die Bil­dung einer objektiven materiellen  Basis für die wachsen­de Vereinigung der Klasse und des Klassenbewußtseins ha­ben? 

SARTRE:   Die Struktur bleibt in Wirklichkeit extrem differen­ziert und desequilibriert. 

MANIFESTO: Aber gibt es die Tendenz zur Vereinigung oder nicht? 

SARTRE:  Ja  und   nein.   In  Frankreich z.B.  erhält der Kapi­talismus künstlich tausende von kleinen  Unternehmen am Le­ben,  die vom Gesichtspunkt der ökonomischen  Rationalität aus keine  Existenzberechtigung mehr besitzen,   aber dem Ka­pitalismus nützlich sind,  sei's weil  sie einen politisch kon­servativen  Sektor repräsentieren  (diese  Schichten wählen de Gaulle und  Pompidou),   sei's weil  sie es ihm erlauben, seine Produktionskosten an den  ihrigen - ohne  Rücksicht auf  die Erhöhung der Produktivität - auszurichten.   Die Tendenzen zur Integration heben also nicht die tiefgehenden Verschieden­artigkelten  der strukturellen  Situationen auf. Was die   Bewußtwerdung  der eigenen  Situation  betrifft, muß man  dem  Gesagten  noch hinzufügen,   daß es dem  fortge­schrittenen   Kapitalismus trotz der gewaltigen  Ungleichhei­ten  in  der Verteilung der  Einkommen gelingt,   die elemen­taren   Bedürfnisse der Mehrheit der Arbeiterklasse zu befrie­digen; es bleiben gewiß marginale  Zonen:   15% der Arbei­ter in  den U.S.A.,   Neger  und  Immigranten; es bleibt   die Kategorie der alten  Leute; es bleibt,   im Weltmaßstab,   die Dritte Welt.   Der Kapitalismus befriedigt gewisse primäre Be­dürfnisse,   und er befriedigt weiterhin gewisse  Bedürfnisse, die er künstlich geschaffen hat,   wie z.B.  das  Bedürfnis nach  einem Auto.   Diese Situation  hat mich dazu gebracht, meine  "Theorie der  Bedürfnisse"  zu  überprüfen,   da diese Bedürfnisse  in der Situation  eines fortgeschrittenen   Kapita­lismus nicht mehr in  einer systematischen  Opposition   zum System stehen; sie werden Im Gegenteil  teilweise  in der Hand des Systems zu einem Mittel    der  Integration  des Proletariats in bestimmte,   vom  Profit erzeugte und dirigierte  Prozesse. Der Arbeiter arbeitet sich ab,   um das Auto zu produzieren und das nötige Geld zum  Kauf des Autos zu verdienen; die­se  Erwerbung verleiht ihm das Gefühl,  ein  "Bedürfnis"  be­friedigt zu haben.   Das System,   das ihn ausbeutet,   gibt  ihm zugleich  ein Modell  und die Möglichkeit,   es zu befriedi­gen.   Das  Bewußtsein von der Unerträglichkeit des Systems darf daher nicht mehr in der  Unmöglichkeit,   die elementa­ren  Bedürfnisse zu befriedigen,   gesucht werden,   sondern muß vor allem  in dem  Bewußtsein von  der  Entfremdung gefun­den werden:  d.h.  von  der Tatsache ausgehend,   daß dieses Leben    nicht mehr die Mühe  lohnt,   gelebt zu werden, daß es keinen  Sinn mehr besitzt,   daß der Mechanismus des Sy­stems ein  betrügerischer Mechanismus ist,   daß diese  Bedürf­nisse künstlich geschaffen wurden,   daß sie falsch  sind, daß sie erschöpfen und  lediglich dem  Profit dienen.   Aber die Klas­se von  diesem  Gesichtspunkt aus zu vereinen,   ist noch viel schwieriger; darum stimme ich mit keiner einzigen  jener opti­mistischen,   von den kommunistischen  Parteien oder den lin­ken  Bewegungen hervorgebrachten Visionen  überein, die glau­ben machen,   der Kapitalismus sei  bereits in  die  Enge getrie­ben.   Dessen Mittel  zur Kontrolle der Klassen sind noch mächtig; er ist weit davon entfernt,  sich in der  Defensive zu be­finden.   Einen  revolutionären  Elan hervorzurufen erfordert eine  lange und geduldige Arbeit an der  Bewußtseinsbildung. 

MANIFESTO:   Immerhin  ist diese Vereinigung im Mai unmit­telbar und evident erfolgt. 

SARTRE:  Ganz gewiß.   Das war einer   der  wenigen   Fälle, wo jeder in  dem  Kampf der Fabrik nebenan das Modell sei­nes eigenen  Kampfes gesehen hat.   Ein  Phänomen gleicher Ordnung,   das aber in anderer Hinsicht weitergehend war, ereignete sich  1936; aber damals spielten die Arbeiterorga­nisationen eine bestimmende Rolle.   Die  Bewegung wurde aus­gelöst,  als Sozialisten  und  Kommunisten bereits an der Macht waren,  wodurch sie gewissermaßen ein  Modell  anboten,   das der Klasse eine schnelle  Bewußtwerdung,   die  Fusion  zur Gruppe und die Vereinigung erlaubte. Im Mai  dagegen waren die  Parteien und Gewerkschaften nicht nur nicht an der Macht,  sondern sie waren darüber-hinaus weit davon entfernt,  eine vergleichbare  Rolle   zu spielen.   Das Element,   das den Kampf vereint hat, ist nach meiner Ansicht etwas,  das von weit her kommt.   Es ist eine Idee,   die zu uns aus Vietnam kommt,   und die die Studen­ten mit der  Formel  "L'imagination   au   pouvoir" aus­gedrückt haben.   In anderen Worten:  das Feld des Möglichen ist sehr viel weiter,   als die herrschenden  Klassen  uns zu glau­ben angewöhnt haben.  Wer hätte gedacht,   daß  14 Millionen Bauern sich erfolgreich der größten   Industrie-  und Militärmacht der Welt entgegenstellen können?   Und dennoch war es mög­lich.   Vietnam hat uns gelehrt,   daß das Feld des Möglichen unermeßlich  ist,   daß man nicht resignieren muß.   Genau das war der Hebel  der Studentenrevolte,   und die Arbeiter haben es verstanden.   In der gemeinsamen   Demonstration vom   13. Mai  wurde diese  Idee plötzlich beherrschend.   "Wenn einige tausend  junge Leute die Universitäten  besetzen  und die Re­gierung  in  Schach halten,   warum können wir das dann nicht auch machen?"  So kam es,  daß seit dem  13.Mai  die Arbeiter,   einem Modell  folgend,  das in  diesem Moment   von außen  zu ihnen kam,   zu streiken  begannen  und die  Fabri­ken besetzten. Das Element,  das sie mobilisierte und verein­te,  war nicht eine  Plattform von  Forderungen; diese kam da­nach,   als es zu spät war -  und um den  Streik zu  rechtfer­tigen.  Auch wenn Motive traditioneller  Forderungen   nicht fehlten,   so ist es doch  interessant festzustellen,   daß die For­derungen  später kamen,   als die  Fabriken bereits besetzt waren. 

MANIFESTO: Ursprung des Mai scheint also kein unmittel­bar materielles Element, kein besonders explosiver Struktur­widerspruch gewesen zu sein? 

SARTRE:   Im Herbst  1967 hat etwas eine allgemeine  Unzufrie­denheit unter den Arbeitern hervorgerufen,   und zwar die re­aktionären  Maßnahmen der  Regierung hinsichtlich der Sécurité Sociale (staatliche Sozialversicherung).   Diese Maßnahmen ha­ben die gesamte werktätige  Bevölkerung betroffen,  gleich wel­cher Kategorie.   Die  Gewerkschaften kamen nicht dazu,   sich diesen Maßnahmen zu widersetzen,   sei's weil  sie von ihnen überrascht wurden,  sei's weil  sie sich  nicht zu sehr engagie­ren wollten.   Es fand,  wenn ich micht dessen recht erinnere, ein eintägiger Generalstreik statt; dabei  blieb es dann. Aber ein tiefes und unartikuliertes Unbehaben blieb bestehen; es brach dann aufs neue mit Macht während der Mai-Versamm­lungen aus.   Es gibt heute ein neues,   mögliches Element der Vereinigung:  d.i.  der absolut vergebliche Charakter,   den die damals erzwungenen  Lohnerhöhungen durch die seitherige Preis­erhöhung  und  Entwertung erhalten haben.  Aber es ist nicht einfach,   im voraus zu wissen,  ob und v/ann  diese einenden Elemente von Unzufriedenheit zu einer gemeinsamen  Revolte führen.   Im Mai  dagegen fand diese  Revolte statt; meiner Mei­nung nach  lag das zündende  Element weniger darin,   daß die Arbeiter sich ihrer Ausbeutung bewußt wurden,   sondern viel­mehr darin,   daß sie sich ihrer Stärke und ihrer eigenen Mög­lichkeiten bewußt wurden. 

MANIFESTO:   Dennoch war diese Mai-Revolte   eine  Nieder­lage; auf sie folgte ein  Sieg der  Reaktion.   Lag es daran, daß sie in sich keine  Elemente aufwies,   die fähig gewesen wären,  die  Revolution bis an  ihr  Ende zu fuhren,   oder daran, daß ihr eine politische  Führung fehlte? 

SARTRE:  Es fehlte ihr eine politische  Führung,   die fähig ge­wesen wäre,   ihr jene politische und theoretische  Dimension zu verleihen,   ohne die die  Bewegung einfach erlöschen muß­te - wie das ja in der Tat der  Fall  war.   Es fehlte ihr   eine Partei,  die vollständig hätte die  Bewegung und deren   Mög­lichkeiten verantwortungsvoll auf sich nehmen können.    Frei­lich,  wie könnte eine institutionalisierte  Struktur,  wie die kommunistische  Parteilich  einer Sache zur Verfügung stellen, von der sie überrumpelt wird?Wie könnte sie in sich selbst die notwendige  Disponibllität aufweisen,   um nicht durch ein "Versuchen wir,  die Kastanien aus dem  Feuer zu holen" oder ein  "Versuchen wir,   die  Bewegung an  uns zu ziehen,   damit sie uns nicht entgleitet"  zu reagieren,   sondern  indem sie sagt: "Das ist die  Realität,   diese muß ich auf mich nehmen,   und ich muß mich anstrengen,   sie theoretisch  und praktisch zu ver­allgemeinern,   um sie wachsen zu  lassen  und sie voranzutrei­ben"?   Eine kommunistische  Partei,   die unfähig  ist,   sich so zu verhalten,  wird zu dem,   was seit 25 Jahren praktisch   die französische  Kommunistische Partei  ist:  eine  Bremse  jeglichen revolutionären  Versuchs in  Frankreich.  Alles,  was nicht von ihr allein kommt,  verneint oder unterdrückt sie. 

MANIFESTO: Wenn  Sie die kommunistischen  Parteien,   so wie sie sind,  kritisieren,   so behaupten  Sie gleichwohl   die Notwendigkeit von Vereinigung und  Organisation der  Bewe­gung? 

SARTRE:  Gewiß; hier  liegt genau das Problem.  Wir stehen einer  Reaktion  gegenüber,   einer starken  und komplexen ka­pitalistischen  Herrschaft,   die enorme Möglichkeiten der  Re-pression  und   Integration  besitzt.   Dies erfordert natürlich eine Gegenorganisation von selten der Klasse. Das Problem ist nur, wie man diese Gegenorganisation hindern kann, da­durch zu zerfallen, daß sie zu einer "Institution" wird. 

MANIFESTO: Einverstanden.   Es ist immerhin  interessant fest­zustellen,   daß die Notwendigkeit einer politischen  Organi­sation der Klasse einer Vorhersage von Marx zu widerspre­chen scheint,   nach der - mit der Entwicklung des Kapitalis­mus einhergehend - das Proletariat sich unmittelbar in einer revolutionären  Bewegung ausdrücken würde,   also ohne die Hil­fe einer politischen Vermittlungsinstanz.   Dieser These  lag die Überzeugung zugrunde,   daß eine  Krise des Kapitalismus binnen kurzer Zeit auftreten würde und daß in seinem  Schoße mit dem System unvereinbare Zwänge entstehen würden  - z.B., daß die  Entwicklung der Produktivkräfte in Widerspruch zu dem Mechanismus der kapitalistischen  Entwicklung  treten wür­de.   Später sah  Lenin  in der Sozialisierung des  Eigentums ein Element,   das in gewissem Maße fähig wäre,   nachdem erst einmal  der politische Apparat des bürgerlichen  Staates   zer­schlagen  ist,   den  Umschlag in die sozialistische Verwaltung vorzubereiten.   Wir müssen heute einsehen,  daß diese Thesen unzureichend sind.   Die Produktivkräfte treten nicht direkt in Widerspruch  zu dem System,  weil sie nicht etwas Neutrales und  Objektives,  sondern ein  Produkt des Systems sind,  weil sie sich an den  Prioritäten des Systems ausgerichtet haben und von diesem geprägt sind... 

SARTRE:  Ja,   diese  Kräfte müssen sich nicht notwendig be­kämpfen; sie wurden  von diesem  Entwicklungstypus hervor­gebracht - was man  im wissenschaftlichen  Bereich an den Forschungsprioritäten  (wie z.B.   der Weltraumforschung) sehen kann.   Und was die Sozialisierung des  Eigentums betrifft: selbst wenn es inkorrekt ist,   hier von  "Klasse"  zu sprechen, so muß man  doch zugestehen,   daß sie die  Bürokratie und eine bestimmte Technokratie hervorgebracht hat und diesen die zweifelhafte Macht verlieh,   die Massen zu kontrollie­ren  und sie  in eine autoritäre Gesellschaft zu  integrieren. 

MANIFESTO:   Der  Übergang vom  Kapitalismus zum Sozialismus weist nicht dieselben Merkmale auf wie der Übergang vom Feudalismus zur  Bourgeoisie.   Die kapitalistischen  Produktions­verhältnisse haben sich progressiv im  Innern der feudalen Ge­sellschaft herausgebildet,   und zwar so weit,   daß die feudale Gesellschaft,   als sie zusammenbrach,   nur noch die leere Hül­le einer  strukturell  verschiedenen Wirklichkeit,  die in  ihrem Schöße bereits ausgereift war,   darstellte.   Genau dies kann für das Proletariat nicht zutreffen; das  Proletariat kann sich im  Innern des Kapitalismus nicht embryonal  als eine alterna­tive sozialistische  Organisation ausdrücken...

SARTRE:  Weder von der Struktur,   den  Produktionsverhältnis­sen, noch von  den  Ideen her.   Seit der  Renaissance war die Kultur schon nicht mehr feudal,  sondern bereits bürgerlich; neue soziale Gruppen,  wie die  "noblesse de robe",  waren bürgerlich.   Dieser Prozeß begleitete die  Errichtung kapitalisti­scher Produktionsverhältnisse und ging  ihr voraus.   Das Schwan­gergehen  mit der  Bourgeoisie dauerte Jahrhunderte und drückte sich in der vorhergehenden  Gesellschaft in einer gegenwär­tigen   Alternative aus.   Das kann  sich   für das Proletariat nicht wiederholen  - nicht einmal vom  Gesichtspunkt der Kul­tur aus.   Denn das Proletariat besitzt keine ihm eigene   Kul­tur:  entweder benutzt es die  Elemente der bürgerlichen  Kul­tur,  oder es weist jegliche Kultur total  zurück  - wodurch es die  Inexistenz seiner eigenen  Kultur bestätigt.   Man wendet jedoch ein,   daß das  Proletariat eine  "Wertskala"  besitze, die nur ihm selbst eigen  ist.   Gewiß will  das  Proletariat,   da es die  Revolution will,   etwas anderes als das,  was ist. Aber ich mißtraue solchen Ausdrücken wie  "Wertskala",   da  sie sich sehr  leicht in  ihr Gegenteil  verkehren.   Die Studentenrevolte ist ein typischer Ausdruck  für diese  Schwierigkeit einer Ge­genkultur:  eine Verweigerur;,,   die wegen  der fehlenden eige­nen  Entfaltung  damit endet,   eine  Reihe von  Ideologismen des Gegners (begriffliche Vereinfachung,   Schematismus,   Gewalt usw.)  zu  übernehmen; und dieser Charakter von Anleihe bleibt auch dann erhalten,  wenn  diese  Ideologismen mit einem entgegengesetzten  Vorzeichen  versehen werden. 

MANIFESTO:   Die antikapitalistische  Revolution  ist also zu­gleich  reif und nicht reif.   Der Klassenantagonismus bringt den Widerspruch hervor,   aber er besitzt nicht aus sich selbst heraus die  Kraft,   die Alternative zu produzieren.   Dennoch, wenn  man  die  Revolution  nicht auf einen  reinen  Voluntaris­mus,  auf reine,   revolutionäre Subjektivität,   reduzieren will, oder,   im umgekehrten  Sinne,   nicht in  den  Evolutionismus zu­rückfallen will,  auf welcher objektiven   materiellen Basis kann man  dann  eine revolutionäre Alternative  rekonstruieren? 

SARTRE:   Ich wiederhole:  eher über die  Entfremdung als über die  "Bedürfnisse".   In einem Wort:  über die Wiederherstellung der Person  und der Freiheit.   Diese  Notwendigkeit ist so   ge­genwärtig,   daß selbst die raffiniertesten  Integrationstechniken nicht umhin kommen,  sie zu berücksichtigen,  weshalb sie ver­suchen,   sie  in  einer Scheinwelt zu  befriedigen.   Jedes human engineering   beruht auf der  Idee,   daß der Herr sich zu sei­nem  Knecht verhält,  als   wenn   dieser ihm gleich wäre, da ja kein Mensch diesem  Recht auf Gleichheit entsagen kann. Und der Arbeiter,  der in die  Falle der  "human  relations" des Paternalismus geht,  wird zum  Opfer dieser  Idee,   genau in dem Maße,   in dem er eine wirkliche Gleichheit wollte. 

MANIFESTO:   Das ist   wahr.  Aber wie kann man  dann auf­zeigen,   daß diese neuen  Bedürfnisse vom fortgeschrittenen Kapitalismus produziert werden  und nicht einfach die  Resi­duen eines  "Humanismus"  der präkapitalistischen  Gesellschaft sind?   Vielleicht muß man die Antwort gerade in  den der Ent­wicklung des Kapitals inhärenten Widersprüchen suchen, - denn die  Entwicklung des  Kapitals erfordert z.B.  gleichzeitig eine Parzellierung der Arbeit wie eine Allgemeinbildung,   die viel umfassender ist,  als es die  Rolle,   die der Arbeiter spielen muß,   erfordert; sie erfordert gleichzeitig  die quantitative und qualitative  Fortentwicklung der Ausbildung wie den Mangel an  Berufsmöglichkeiten,   die  Erhöhung der Ansprüche wie die Unmöglichkeit,  sie zu befriedigen -  in einem Wort:  die per­manente   Frustration der fundamentalen   Produktivkraft, die der Mensch selbst ist. 

SARTRE:   Die  Entwicklung des Kapitals vergrößert also die Proletarisierung.   Nicht im  Sinne der absoluten  Pauperisierung,   sondern durch die beständige  Erniedrigung, die in der Beziehung zwischen den neuen  Bedürfnissen und den von den Arbeitern gespielten  Rollen  liegt; eine  Erniedrigung,   die nicht durch die Krise,  sondern  durch die  Entwicklung hervorgerufen wird. 

MANIFESTO:   Die revolutionäre politische Organisation   der Klasse beinhaltet also nicht nur die  Individuation der Wider­sprüche und die Vereinheitlichung des Kampfes,   sondern auch die Ausarbeitung einer Alternative.   Es scheint uns,  daß die­ses Problem im Mai  unterschätzt worden  ist.   Diejenigen,   de­ren  Positionen von Marcuse oder vom  Spontaneismus Cohn-Bendits inspiriert waren,   jammerten ausschließlich  über die Negation; aber es gelang ihnen auch nicht,   den  Fortgang des Kampfes zu sichern,   da in einer komplexen  und entwickelten  Gesellschaft eben der größte Teil  der Menschen sich das Problem des  Danach   stellen kann.   Obwohl  die Arbei­terklasse unterdrückt und entfremdet ist,   besitzt sie tatsäch­lich ihre  Subsistenzmittel,   was sie dazu  zwingt,   sich  zu fra­gen,  wie man sie erhalten kann  und wodurch man das,   was zerstört worden  ist,  ersetzt  (was den Wechsel  zwischen Kampf und Angst vor den  Konsequenzen  erklären könnte). Andererseits sehen auch die Cohn-Bendit entgegengesetzten Positionen  -  z.B.   die von  Touraine  und Mallet -  nicht   die Notwendigkeit,  eine Alternative vorzuschlagen,  weil   nach ihrer Ansicht die  Entwicklung  der  Produktivkräfte  und die subjektive  Reifung  der Massen eine  Selbstorganisation   und Selbstverwaltung  der Gesellschaft  unmittelbar möglich ge­macht hätten. Auch  dies scheint uns unrichtig zu sein; denn wenn  es wahr ist,   daß die  Entwicklung  des Kapitalismus die Möglichkeit der Revolution reifen   läßt,  während   sie neue  Bedürfnisse und neue  Kräfte schafft,  so ist ebenso wahr,   daß diese das System/ das sie hervorruft,   widerspie­geln.   Das ist der Grund,  warum die plötzliche Aufhebung des Mechanismus notwendig einen  Produktionssturz nach sich zieht; es ist illusorisch zu glauben,   daß der Sozialismus das vom  Kapitalismus vererbte,   aber selbstverwaltete  Produktiv­system wäre.   Es handelt sich bestimmt um ein verschieden aufgebautes System,   in  einem nationalen  und internationalen Kontext,   der handelt und auf es einwirkt.  Man muß daher auf die  Notwendigkeit eines Übergangsplanes,   eines Entwurfs der Alternative,  eines revolutionären  Projektes,   das eine Idee der neuen  Gesellschaft wäre,  schließen.   Wir kommen also nochmals auf das Problem der Vereinigung,   der politi­schen Antizipation und der Partei  zurück. 

SARTRE:  Ganz gewiß ist eine Theorie des Übergangs zum So­zialismus vonnöten.   Nehmen wir an,   daß in  Frankreich oder in  Italien die Situation  sich verschärft und zur Machtüber­nahme führt.  Welche  Ideen hat man darüber,   wie ein hoch­industrialisiertes Land auf einer sozialistischen  Basis ökono­misch wiederaufgebaut werden kann,  während es gleichzeitig dem  Boykott von außen  unterliegt,   die plötzliche  Entwertung des Geldes und die  Blockierung des Exportes über sich erge­hen   lassen muß?   Die UdSSR befand sich nach der  Revolution in  einer ähnlichen  Lage.   Trotz der schrecklichen  Opfer   und der enormen  Kosten,   die der Sowjetunion  durch den Bürger­krieg auferlegt wurden,   trotz der politischen und ökonomi­schen  Umzingelung,   die sie zu erwürgen drohte,   waren den­noch die  Probleme,   die sie  zu  lösen  hatten,  weniger komplex als die  Probleme,   die sich heute in einer fortgeschrittenen Gesellschaft stellen würden.   Darauf ist niemand -  und am al­lerwenigsten  die kommunistischen  Parteien  - vorbereitet.   Sie sprechen von der Notwendigkeit einer politischen  Perspektive für den  Übergang.   Mag sein.  Aber welche unter den vielen kommunistischen  Parteies hat denn eine Theorie des revolu­tionären  Übergangs für ein nicht-autarkes Land des fortgeschrittenen  Kapitalismus erarbeitet? 

MANIFESTO:  Seit den  zwanziger Jahren wurde das Problem des Übergangs zum Sozialismus von den kommunistischen Par­teien  in den  Ländern des fortgeschrittenen  Kapitalismus kein einziges Mal auf die Tagesordnung gesetzt. 

SARTRE:  Ganz richtig.   Vor allem nicht nach dem Krieg und den  Jalta-Verträgen.   Man hat also nicht wirklich  über die Alternative nachgedacht.   Und diese Tatsache  ist nicht sekun­där,  wenn man verstehen will,  was aus den kommunistischen Parteien geworden ist.   In dem  Buch  "Les Communistes fran9ais" von Annie Kriegel  fällt das Urteil  über die französische Kom­munistische  Partei  insgesamt sehr hart aus.   Dennoch bleibt stillschweigend der Eindruck bestehen,   daß die  Partei als sol­che,   für Annie Kriegel,   trotz all  der  Fehler und Mängel, die sie aufgezählt hat,   und wenn  man von ihrer  Politik ab­sieht,   eine Alternative darstellt, - mehr noch:  die proleta­rische Alternative zur kapitalistischen  Gesellschaft in  Frank­reich.   Diese Argumentation hat überhaupt keinen  Sinn.    In dem Moment,  wo wir darin  Übereinstimmung erzielen,  daß die politische Organisation der Klasse notwendig  ist, müssen wir uns gleichzeitig darüber Rechenschaft ablegen,   daß die "historischen"   Institutionen  der KP den Aufgaben,   die   wir ihnen  zusprechen wollen,  völlig  inadäquat sind.  Wir sagten soeben,   daß ohne ein  Moment von Vereinigung des Kampfes, ohne kulturelle Vermittlung  und positive Antwort,   man über die  Revolte nicht hinauskomme - und die  Erfahrung zeigt, daß die  Revolte  immer politisch geschlagen wurde.   Nun gut; aber das ändert nichts an der Tatsache,   daß eine institutionalisier­te  Partei  nicht in  der Lage ist,  eine vermittelnde  Funktion zwischen  Kultur und Kampf auszuüben; sie vermag dies nicht, weil das,  was noch verworren,   nicht systematisiert,   aber wahr    (da  Reflex der  Erfahrung) von den Massen gedacht wird,   vollständig entstellt wird,   sobald es durch  die ideolo­gischen Mechanismen der Partei  übersetzt wird und einen völ­lig verschiedenen  Bezug zu dem,  was wir Kultur nennen, auf­weist.   Damit das Schema,   das Sie vorschlagen,   funktioniert, müßte  die  Partei beständig in der  Lage sein,   gegen   ihre eige­ne  Institutionalität anzukämpfen.   Ohne dies wäre die gesam­te Argumentation schon  verfälscht.   Wenn  der kulturelle Appa­rat der kommunistischen   Parteien  nahezu gleich   Null   ist, dann nicht,   weil  es an   Intellektuellen  von   Rang mangelt,   sondern weil  die   Existenzweise der  Partei  deren kollektive Anstren­gung  des  Gedankens paralysiert.   Aktion  und   Denken  können von  der  Organisation  nicht abgetrennt werden;  man  denkt so, wie man  strukturiert  ist;  man  handelt so,   wie man  organisiert ist.   Aus diesem  Grunde  hat sich  das   Denken der kommunisti­schen  Parteien völlig verknöchert. 

MANIFESTO:  Trennen wir für einen Moment die theoretische Hypothese  - wie soll die revolutionäre politische  Organisa-tion der  Klasse aussehen  - von der Lage der Tatsachen.   Hi­storisch gesehen haben sich die kommunistischen  Parteien an­gesichts der  III. Internationale, der politischen  und  ideologi­schen   Ereignisse  in der  Sowjetunion  und  im sozialistischen La­ger gebildet.   Sie stellen  eine Wirklichkeit dar,   die auf   die Bildung der  Klasse eingewirkt und Seinsweisen,   Ideologien, Verlagerungen der Kräfte induziert hat.   Heute dagegen haben wir eine  Klassenbewegung vor uns,  die,   zum ersten Mal  in Europa,   danach strebt,   sich  in ein  dialektisches Verhältnis zu den kommunistischen  Parteien  zu stellen  und sich,   wenn über­haupt,  partiell  mit ihnen  identifiziert.   Diese  Bewegung  lastet schwer auf den  kommunistischen   Parteien,   und sie  ist dazu auf­gerufen,   entweder von  ihnen  zurückgestoßen  zu werden   oder sie zu verändern.  Die Hypothese,   daß sie ganz einfach durch die  Parteien absorbiert werden könne,   scheint uns nicht   an­nehmbar zu sein; das  Beispiel  der Studenten beweist   das wohl.   In  beiden  Fällen stellt sich das  Problem einer   neuen Seinsweise der Partei   -   entweder durch die  Krise  und  Er­neuerung der existierenden  Parteien oder durch  eine neue Or­ganisation  des einheitlichen  politischen Ausdrucks der  Klas­se.   Ist eine solche neue Seinsweise möglich?   Ist eine  Partei dazu verdammt,   sich  zunehmend zu  institutionalisieren  und sich von der  Bewegung,   von der sie doch hervorgebracht wur­de,   zu  lösen  - so wie Sie es vorhin aufzeigten  -, oder kann man sich  eine  Organisation vorstellen,   die fähig wäre, per­manent gegen  die   Begrenzungen,   die  Sklerose und die Insti­tutionalisierung,   welche sie von  innen  her bedrohen, zu käm­pfen? 

SARTRE: Obwohl ich die Notwendigkeit einer Organisation anerkenne, sehe ich nicht, wie sich die Probleme, die sich jeder stabilisierten Struktur stellen, lösen ließen. 

MANIFESTO:   Das,  was Sie gerade behaupteten,   ließe sich so resümieren:  die politische  Partei  müßte das Aufblühen  und die Autonomie der Massenkämpfe sichern,   statt sie zu bremsen; sie müßte ebenso die  Entwicklung einer Gegenkultur sichern, und schließlich müßte sie der permanenten  Dialektik,  dem Ty­pus der Rationalität und der sozialen  Beziehungen,  auf denen die Gesellschaft ruht,  eine globale,  synthetische Antwort ent­gegenstellen können.   Dieses scheinen die spezifischen Aufga­ben der Partei  zu sein,   da diese Aufgaben wegen  ihres glo­balen Charakters die  Probleme,  die das spezifische Moment des Kampfes - die fusionierende Gruppe -  lösen kann,   über­steigen. 

SARTRE:  Ja,  aber sie können dennoch  nicht ohne sie gelöst werden. 

MANIFESTO:   Einverstanden!  Um aus diesem  Zirkel herauszu­kommen,   kann  man einige  Hypothesen  vorbringen.   Um der In­stitutionalisierung zu entgehen,  muß sich die revolutionäre Partei vor allem so verstehen,  daß sie permanent im    Dien­ste   eines Kampfes steht,  welcher seine eigenen    Merkma­le,  seine autonome politische  Ebene besitzt.   Diese impliziert die  Überwindung des  leninistischen  bzw.   bolschewistischen Modells der  Partei,   nach dem es eine beständige Trennung zwischen dem rein gewerkschaftlichen Moment des Massen­kampfes und dem politischen Moment,   für das nur die  Par­tei  zuständig sei,  geben würde.   Lediglich in den   Räten wurde versucht,   diese   Trennung   zu   überwinden.    Diese  Überwindung entspricht einem Modell von sozialer, nicht nur politischer   Revolution,   einer  Revolution, in der die Macht nicht von  der  Partei,   sondern  von  den Rä­ten  übernommen wird.  Weiterhin muß die revolutionäre Bewegung folgenden Mangel des Leninismus überwinden: die Theorie der Revolution war .bisher sehr viel eher eine "Theorie der Machtübernahme" als eine  "Theorie der Ge­sellschaft".   Daraus resultiert die Unfähigkeit der kommuni­stischen  Parteien,   die fortgeschrittenen  kapitalistischen  Ge­sellschaften  zu analysieren  und die  Ziele,   die die   Revolu­tion  erreichen  soll,   zu präfigurieren;  in  anderen Worten: die Unfähigkeit,   die von der  Bewegung artikulierten neuen  Be­dürfnisse zu verstehen und anzugeben,  wie man sie befrie­digen könnte. (Genau dies geschah mit den  Studenten.    Die Probleme,   die die Studenten sich stellten  -  Rolle der Erzie­hung,   Verhältnis der  Erziehung zur Gesellschaft,   die  For­men und  Inhalte eines nicht-autoritären Wissens - wurden weder verstanden noch gelöst.)  Drittens ist eine permanente Forschung notwendig,   damit die Theorie in der Lage ist, die von der  Bewegung geschaffenen Tatsachen zu verarbeiten. Eine politische  Organisation  der  Klasse,  die marxistisch sein will,   reflektiert nicht allein a posteriori; sie interpretiert die  Erfahrung mittels einer Methodologie,  eines a priori ge­gebenen  "Rasters" ('grille'),   sie benutzt  Kategorien wie "Kapital",   "Klasse",   "Imperialismus" etc.   Kurz,   ein metho­dologisch-theoretisches Moment des Marxismus,   das sich mit der  Erfahrung des  Kampfes dialektisiert und das die Konstruk­tion einer Alternative  leitet,   bzw.   leiten müßte.   In dem Ma­ße also,   in  dem die  Beziehung zwischen  Partei  und  Klasse offen  bleibt,   muß eine Lösung dieser drei   Probleme gefunden werden - wobei  klar ist,   daß    allein diese  Offenheit dazu fähig macht,   gleichzeitig den  Partikularismus einer fragmen­tarischen  Erfahrung und die  Institutionalisierung    des verei­nenden politischen Momentes zu verhindern. 

SARTRE:   Damit bin  ich einverstanden,   allerdings unter   der Bedingung,   daß diese  Dialektik sich als  Doppelherrschaft manifestiert  und man  nicht vorgibt,   sie innerhalb des politischen Momentes zu   lösen.   Selbst dann  noch  bleiben  viele  Probleme zu   lösen.   Sie sprechen von einem methodologisch-theoreti­schen  "Rasters",   das gewissermaßen a priori  gegeben   ist und durch   das   hindurch   die Erfahrung   zu interpretieren ist. Aber bleibt der  Begritt des Kapitals   nicht untruchtbar und abstrakt,  wenn man  nicht immer wieder von  neuem die Ana­lyse des modernen  Kapitalismus mittels einer permanenten For­schung und  Infragestellung der  Resultate der  Forschung und des Kampfes entwickelt?  Das wahre    Denken  ist gewiß un­geteilt   - aber seine  Einheit ist dialektisch; es ist eine  le­bende,  sich  bildende  Realität.   Zwischen den Menschen muß eine  Beziehung hergestellt werden,   die nicht allein die  Frei­heit,  sondern vielmehr die revolutionäre    Freiheit des Denkens garantiert,  die es ihnen erlaubt,   sich vollständig das Wissen anzueignen  und es zu kritisieren.   Übrigens verfuhr das Denken  immer so; nur der  "Marxi/mus"  der kommunistischen Parteien ging niemals derart vor.   Um die schöpferische Kultur ihrer Mitglieder zu erweitern,   um ihnen zu erlauben,  ein Maximum wahren Wissens zu erlangen,   muß die  Partei  - die politische  Organisation der Klasse - ihnen die Möglichkeit garantieren,   zu erfinden und sich gegenseitig zu widerspre­chen,   statt sich als Verwalter eines gesicherten Wissen zu ge­bärden.  Wenn man nach draußen schaut,   sieht man,  daß die Diskussion  über den  Marxismus noch niemals so fruchtbar wie jetzt war,  weil  - vor allem seitdem der Monolithismus   zer­brach  und das Problem der Mannigfaltigkeit des Sozialismus sich stellte - es eine Pluralität marxistischer  Forschung und innerhalb dieser offene Auseinandersetzungen  und Nichtüber­einstimmungen gibt. 

MANIFESTO: Aber es handelt sich viel  eher um Nichtüber­einstimmung hinsichtlich der  Exegese der heiligen  Schriften, um einen  Streit über Interpretationen,   als um eine Erneuerung des Ansatzes, um eine schöpferische  Interpretation der Realität. 

SARTRE:   Das ist nicht ganz wahr.   Gewiß dominiert die   Diskussion  über die Texte.   Aber nehmen wir das  Beispiel  von Althusser:  er führt keine schlichte   Exegese durch.   Man fin­det bei   ihm eine Theorie des  Begriffs  (concept),   des auto­nomen  theoretischen  Wissens,   des Studiums der Widersprüche ausgehend vom dominierenden Widerspruch,   der  "Überdeterminierung"   (surdétermination).   Das sind eigenständige  Unter­suchungen,   die ohne eine neue  theoretische Arbeit nicht infragegestellt werden können.   Was mich persönlich betrifft, so war ich,   um mich gegen Althusser zu stellen,   gezwungen, die   Idee des "Begriffs"   (notion)  zu  überprüfen  und eine Reihe von  Konsequenzen daraus zu ziehen.   Dasselbe kann  man für den von  Ldvi-Strauss eingeführten  Begriff der  "Struktur"  sa­gen,   den einige Marxisten  mit mehr oder weniger Glück zu benutzen versuchten.   In anderen Worten:  eine authentische Diskussion erfordert immer eine Anstrengung  und führt   zu neuen  theoretischen  Ergebnissen.  Wenn man also Forschung will,   dann muß immer eine Struktur etabliert werden,   die die  Diskussion garantiert; ohne diese würde selbst das theo­retische Modell,   das die politische  Organisation der  Klasse als  Experiment für die Wirklichkeit vorschlagen würde,   in-operant bleiben.   Hier  liegt ein permanenter Widerspruch der Partei,   eine Schranke für alle kommunistischen  Parteien. Ebenso komplex ist die Hypothese einer  "offenen"   Beziehung zwischen  einer einheitlichen politischen   Organisation   der Klasse,   der Partei,   und dem Moment der Selbstverwaltung der Massen,   den  Räten oder Sowjets.  Wir dürfen  nicht ver­gessen,   daß im  nachrevolutionären   Rußland,   wo dies ja ver­sucht wurde,   die vereinigenden   Organisationen der Massen sehr schnell  verschwanden  und nichts weiter als die Partei übrig  blieb.   Es handelte sich  um einen dialektisch notwen­digen  Prozeß,   der in  der  Sowjetunion  die  Partei  dazu führ­te,   die Macht zu  übernehmen,   die  in der Tat die  Sowjets hätten  übernehmen  und bewahren sollen.   Vielleicht könnte dies heutzutage anders sein,  aber in den Jahren der Umzin­gelung der UdSSR durch die kapitalistischen  Länder,   des Bür­gerkrieges und der furchtbaren  inneren   Beschränkungen scheint der  Prozeß,   der die totale Auflösung der Sowjets mit sich brachte,   hinreichend verständlich  zu sein.   Aus diesem Gründe kam  Ich  dazu,   zu schreiben,   daß man hinsichtlich  der UdSSR statt von einer  Diktatur    des    Proletariats viel eher von  einer  Diktatur   für   das  Proletariat sprechen  müßte, in dem  Sinne,   daß die  Partei  die Aufgabe  übernahm,  die  Bour­geoisie zugunsten  des  Proletariats zu zerstören.   Andererseits war es für das  Überleben der UdSSR unvermeidlich,   daß das Proletariat - wie überall,  wo eine  Revolution stattfand -, sich aufgefordert sah,   auf das zu verzichten,   was vor   der Revolution die allerspezifischsten  Ziele seines Kampfes aus­machte  - wie die   Erhöhung  der Löhne  und die Arbeitszeit­verkürzung.   Man konnte nicht anders handeln,   denn es fiel den Arbeitern sehr schwer,  auf diese Ziele von  selbst   zu verzichten,   zumal  sie die  Erfahrung der Selbstverwaltung an ihren Arbeitsplätzen gemacht hatten.   Schließlich,   um auf die heutigen  Zustände zu kommen,   scheint es mir schwierig zu  sein,   daß eine  Organisation  von  Sowjets oder  Räten sich bilden  kann,   wenn es eine starke   "historische"  Artikulation der Klasse - wie die  Gewerkschaft oder  Partei  - gibt.    In Frankreich haben wir die  Erfahrung  mit den   "comites d'action“ gemacht.   Diese haben  sich sehr schnell aufgelöst,   nicht, weil  sie verboten wurden,   sondern  weil  die  Gewerkschaften die Zügel wieder fest in  die Hand nahmen. 

MANIFESTO:  Der  letzte Widerspruch muß nicht unaufhebbar sein.   Jeder gewerkschaftliche  Kampf,   der nicht aliein   eine Verhandlung  über die Löhne,   sondern auch  über die Arbeits­rhythmen,   die  Zeiten,   die  Organisation  und  Kontrolle der Ar­beit beinhaltet,   beweist die Notwendigleit direkter   Orga­nisationsformen  der Arbeiter.   Ohne die einheitliche Versamm­lung der  Basis,   die autonom  ist und ein entwickeltes politi­sches Niveau aufweist,   kann eine Verhandlung von solcher Reichweite gar nicht geführt werden. Der gewerkschaftliche Kampf zwingt uns also dazu,   das  Problem der direkten  Insti­tutionen der Klasse wieder aufzudecken; dies  Problem ist eine Tatsache der Erfahrung und nicht eine  Erfindung von  Intellek­tuellen.   Gewiß kollidieren diese neuen  Formen  mit dem  Konservatismus und  Bürokratismus.  Aber sie müssen gleichzeitig über gewisse  Grenzen,   die  ihnen  eigen  sind,   Rechenschaft ablegen.   Von  diesem  Gesichtspunkt   aus ist die   italienische Erfahrung  interessant:  die Alternative zwischen der Partei bzw. der Gewerkschaft  und der  Bewegung ist nicht immer,    wie sie behaupten,   die der totalen Ablehnung oder des bloßen Trans­missionsriemens.

Wir haben eine soziale  Spannung vor uns,   die ihre eigenen Formen gewinnt und die zugleich auf den  traditionellen   In­stitutionen  der Klasse  lastet,  ohne daß sie ein  Gleichgewicht in  diesen oder   jenen   findet.   In  der Tat,   wenn  die existie­renden Schranken der Gewerkschaft bekannt sind,  so weisen andererseits auch die  Institutionen der direkten   Demokratie ihre Schranken auf:  während sie im allgemeinen während der Agitation vollkommen funktionieren  - wie dies bei  den kürz­lichen Arbeitskämpfen bei  FIAT der  Fall war -,  so  laufen sie andererseits in der  Folge doch Gefahr,   unbewußt zu In­strumenten der Trennung zwischen der einen  Gruppe und der anderen,   zwischen der einen   Fabrik und der anderen, zu wer­den - also dem Unternehmertum nützlich zu sein.   Bildet in einem solchen Moment die traditionelle Gewerkschaft trotz all  ihrer Schranken  nicht doch einen  Schutz gegen  die Zer­brechlichkeit der neuen  Institutionen?   Insgesamt  läßt sich also sagen,   daß die  Bewegung heute viel  reicher und kom­plexer ist als ihr politischer Ausdruck.

SARTRE:  Was auf jeden  Fall mir in  Ihrem  Schema  interessant vorkommt,   ist die vorgeschlagene  Dualität der Herrschaft.  D. h.,   eine offene und irreduzible  Beziehung zwischen dem vereinenden   Moment,   das der politischen  Organisation der Klasse zukommt,   und den Momenten von Selbstregierung, den Räten,   den  fusionierenden  Gruppen.   Ich  insistiere auf diesem Wort:   irreduzibel; denn  zwischen den  beiden Momenten kann nur eine permanente  Spannung herrschen.   Die  Partei wird in dem Maße,   in dem sie sich als  "im  Dienste"  der  Bewegung stehend versteht,   immer versuchen,   diese auf ihr eigenes Interpretations- und  Entwicklungsschema zu reduzieren.  Die Mo­mente von  Selbstregierung werden  immer versuchen, ihre lebendige  Partialität auf den widersprüchlichen  Komplex   des sozialen  Gewebes zu projizieren.   In  diesem  Kampf kann sich vielleicht der  Beginn  einer reziproken  Transformation manife­stieren,   die Indessen  - wenn  sie  revolutionär bleiben  soll  -nicht  umhin kann,   in  die  Richtung einer zunehmenden   Auf­lösung  des  Politischen  im  Schöße einer Gesellschaft,   die zur Vereinheitlichung,   wie auch  zur  Selbstherrschaft tendiert, zu gehen,   d.h.,   jene soziale  Revolution  zu vollenden,   die mit dem Staat auch alle anderen spezifisch politischen   Mo­mente aufhebt.   Es handelt sich  insgesamt um  eine   Dialektik, die dem Marx'schen   Entwicklungsschema entspricht.   Bis heute ist dies nicht erreicht; vielleicht werden  die  Bedingungen da­für in  den  Gesellschaften des fortgeschrittenen   Kapitalismus entstehen.  Auf jeden  Fall  ist dies eine Hypothese,   über die man arbeiten muß. 

Quelle: II Manifesto,  Nr.4  vom September 1969