Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

12/11

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Warum und wie konstituieren wir uns als organisierte politische Bewegung des Manifesto
Vorschläge der Versammlung der Delegierten der Manifesto-Zentren in Rimini am 5.11.1971

Der  Organisationsausschuß der Versammlung  ist bei   seiner  Debatte von den  Anregungen  des  "Dokuments"  ausgegangen,   wo darauf hingewiesen wurde,   daß die  Frage  der  Organisation  heute  in  den  Vordergrund ge­rückt  ist.   Es geht um die  Organisation   "einer umfassenden  politischen Avantgarde,   die  in  der  Lage ist,   sich  in   einer  Phase  des Abebbens  der Bewegung  im  Kampf zu  behaupten,   mit  Hilfe  der gewonnenen   Erfahrungen  die  Kontinuität  zu  sichern,   diese  Erfahrungen  theoretisch aufzuar­beiten,   die korporativen  Tendenzen  und auseinanderstrebenden   Kräfte wirksam  zu  bekämpfen,   nach  einem  festumrissenen  Konzept eine neue Phase  der  Offensive  vorzubereiten  und  dafür  zu  sorgen,   daß sie,   wenn es  dazu kommt,   nicht mit  einer  Niederlage   endet ."   Nicht nur die Notwendigkeit der  Effizienz hat also die  Manifesto-Gruppe  veranlaßt, dieses  Problem aufzuwerfen,   sondern auch  das  Bewußtsein,   daß  die  Or­ganisation  die  notwendige Vermittlung  zwischen  der  Unmittelbarkeit der  Klassenbewegung  und  ihrer  Geschichte,   ihrer  Theorie,   ihren  Ver­bindungen  zur  internationalen   Bewegung  darstellt. Der Ausschuß  ist zu  dem   Schluß gelangt,   daß  es notwendig  ist,   die Phase  der  Halb-Organisatlon  zu  überwinden,   durch  die  die  Aktivität des  Manifesto bisher gekennzeichnet war  und  mit der  versucht  worden war,   einen  umfassenderen   Prozeß der Aggregation  herbe!zufuhren,   wo­bei   eine bereits  fest  umrissene Struktur  hinderlich gewesen  wäre.   Die­ser  Entscheidung   lagen allerdings auch  grundsätzliche  Bedenken  dage­gen  zugrunde,   einen   Organismus vorzuschlagen,   der noch  mit allen  in den   Erfahrungen  der  Minderheitsgruppen  zutage getretenen  Mängeln  behaftet gewesen  wäre.   Die  Manifesto-Gruppe  war nie spontaneistisch; sie  war sich  vielmehr stets  bewußt,   daß die  Organisation  sich  nicht aus  der  Massenbewegung  entwickelt,   sondern  als  Beziehung  zwischen dieser  Bewegung,   der bereits  erarbeiteten  revolutionären  Theorie und der bisher angeeigneten  geschichtlichen   Erfahrung  entsteht.   Sie war allerdings stets  überzeugt,   daß der  Kontakt  zur  Klasse,   zur  Bewegung, wenn  auch  nicht ausreichend,   so doch  unbedingt notwendig  ist.   Die Gültigkeit  einer revolutionären  Strategie  und  Organisation   läßt sich nämlich  mit  Sicherheit nur außerhalb von   ihr,   in  der  engen  Verbin­dung  zu  den   Massen  und ihren   Bedürfnissen  verifizieren.   Deshalb konnte  das  Manifesto sich  keine  Organisation  geben,   ohne  von  Anfang an   über eine bedeutende  Massenbasis und  über die  Instrumente  zur Ver­wirklichung  einer bedeutsamen   Praxis  zu  verfügen.

Fehlt  es an  diesen   Elementen,   so  birgt eine  neue  Organisation  bereits das  Risiko der  Zersplitterung,   des  Jakobinertums  in  sich,   das  sich  in Ihrer ganzen  weiteren   Entwicklung  noch  zu  verstärken  droht.   Darüber hinaus wird sie  unweigerlich  dazu  tendieren,   nicht die Linie  der gan­zen   Klasse,   sondern  die der kleinen,   in  ihr organisierten  Gruppe zum Ausdruck  zu  bringen.

Auch große revolutionäre  Parteien   -  wie die bolschewistische  und die chinesische  - sind  zwar auf einer sehr schmalen   Basis entstanden,   aber in  einer ganz anderen  historischen  Situation,   in  der keine traditions­reiche  und politisch aktive  Massenbewegung  wie  die Italienische exi­stierte,   und nicht  in  einem Land  und  In  einem  Moment,   dessen  bedeu­tendstes  Merkmal  gerade  darin  besteht,   daß die  Massen  als stark  poli­tisierte  Protagonisten  unmittelbar  in  den   Kampf eingreifen. In  diesem  Kontext eine  Organisation  der  Minderheit zu  schaffen,   konn­te und kann daher nur bedeuten,   die Weichen falsch zu stellen.   Es legte  und  legt die  Befürchtung  nahe,   daß sich  in  einer solchen   Orga­nisation  ein  Widerspruch  herausbildet zwischen  einer  Linie,   die  - wie die  der Manifesto-Gruppe  -  versucht,   einen  globalen  Standpunkt aus­zuarbeiten,   und einer  Organisation,   die  zahlenmäßig  zu  schwach  Ist, um  diese  Linie zu  praktizieren.   Aus diesem  Grunde  Ist eine  Organisa­tion  angestrebt worden,   die eng  mit der realen   Bewegung verknüpft und sehr graduell  ist.

Wenn  diese  Konzeption  heute neu  Überdacht wird,   so deshalb,   weil  sie von  der Voraussetzung  einer aufsteigenden  Phase der  Bewegung ausge­gangen  war,   die heute  jedoch abgeschlossen  zu sein  scheint.   "Wir sind nach  wie vor der  Überzeugung  -  so heißt es  irn   Dokument -,   daß  die revolutionäre  Partei  der Arbeiterklasse  in  Italien  heute nur  das  Ergeb­nis eines solchen   Prozesses,   nämlich  des Ausbruchs  einer neuen  und allgemeinen   Offensive der Massen,   sein  kann.   Eine solche  Partei  kann ihre  revolutionäre Aufgabe nur  im permanenten   Dialog  mit einheitli­chen  Massenbewegungen  und  Organen  unmittelbarer  Demokratie,   näm­lich  den  Räten,   erfüllen".   Heute  kommt es  jedoch  darauf an,   zu be­stimmen,   wie wir  in  der gegenwartigen   Phase  überleben  und aktiv werden  können  und wie eine neue  offensive  Phase  der  Bewegung  vor­bereitet werden  kann,   zu  der es  nur  dann  kommen  wird,   wenn  wir ak­tiv  dazu  beitragen.   Eben  dieses spezifische  Problem  hat dos Manifesto gezwungen,   sich  mit der  Frage der  Organisation  auseinanderzusetzen. Denn  In  der gegenwärtigen  Phase faßt eine  Holb-Organisation  die aus­einanderstrebenden   Kräfte  der verschiedenen  Bereiche der  Bewegung  nur diffus zusammen  und verstärkt  ihre  Disparatheit,   während sie gleichzei­tig  dazu  tendiert,   ihre politische  Linie einer beschränkten  Praxis unter­zuordnen,   da  sie nicht homogen  und bewußt genug  ist,   um sich  kritisch  zu betrachten  und als provisorisch zu verstehen. Der Gefahr des Bürokratismus entzieht man sich nicht,   indem man auf halbem Wege stehenbleibt,  sondern  indem man  in  den  Organisations­entwurf Elemente einbaut,   die eine größere Sicherheit davor bieten. In  diesem Sinne hat der Ausschuß,   in   Übereinstimmung  mit der Linie des  "Dokuments",   zwei   Forderungen  erhoben:

1)   Die ganze  Organisation  muß von Anfang an  eine politische und strategische  Einheit aufweisen  und sich geschlossen auf eine politische Linie festlegen,   mit der  (und hierin  unterscheidet sich  das Manifesto von den  übrigen  Gruppen) versucht worden  ist,   eine Gesamtinterpreta­tion des Klassenkampfes in  Italien und in der ganzen Welt zu  liefern. In  diesem Sinne ist die  Organisation,   die geschaffen werden soll,   nicht bloß die Summe all  derer,   die sich dem  Manifesto bisher als dem klein­sten gemeinsamen  Nenner verpflichtet fühlten,   sondern sie ist eine po­litische Gruppe,   die auf der Grundlage eines in sich geschlossenen und schon weitgehend definierten   Programms entsteht. In  diesem Sinne sind das "Dokument"   (Für eine organisierte politische Bewegung),   über das die Versammlung diskutiert hat,   und die vor ei­nem  Jahr erarbeiteten   "Thesen"   (Notwendigkeit des  Kommunismus) nicht die  Diskussionsgrundlage für den   Kongreß einer noch nicht exi­stierenden  Organisation,   sondern  die  Plattform für die  Bildung dieser Organisation.   Die  darin niedergelegten Grundgedanken  dienen dazu, in  einem  Prozeß der Verifizierung  und Klärung aus dem bisherigen Konglomerat von  Kräften  eine fest abgegrenzte politische Gruppe her­vorgehen  zu  lassen.

2)   Zweitens muß der provisorische Charakter der zu gründenden  Orga­nisation  hervorgehoben werden.   "Zur  Partei  der  Klasse - heißt es im Dokument - kann  man sich nicht ernennen,   sondern diese Rolle muß erkämpft werden.   Es wäre heute töricht von  uns zu glauben,   es bereits zu sein oder in kurzer  Zeit zu werden,   oder davon auszugehen,   daß die Partei der Klasse als einfache Weiterentwicklung aus der Organi­sation,   die wir gründen,   hervorgehen wird".

Welche Schritte können also in dieser Phase unternommen werden? Der Ausschuß hat einstimmig den Vorschlag angenommen,  zur Phase der Konstituierung der Organisation  überzugehen und eine Zeit der Verifizierung einzuleiten,   die im  März,   mit dem Gründungskongreß des Manifesto als organisierte politische Bewegung,   ihren Abschluß finden wird.   In dieser Zeit soll die Mitgliedschaft in der Organisa­tion  definiert werden,   für die zwei »verschiedene  Ebenen vorgesehen sind:  die des Militanten und die des einfachen Mitglieds (aderente). Besonders große Aufmerksamkeit wurde in  der Diskussion der Definition der Gestalt des Militanten oder,  besser gesagt,  des Kommunisten geschenkt.

Diese  Kerngruppe der Militanten stellt einen  eindeutigen  Bruch mit der Konzeption  der Massenpartei  dar,   die sich auf ihre eingeschriebenen Mitglieder stützt,   von  denen  eine generelle  Zustimmung  und Aktivität erwartet wird;  die Militanten  dagegen  zeichnen sich in  erster Linie da­durch aus,   daß sie die gemeinsamen   Initiativen  unterstützen  und sich daran  in  einer der Aktionsgruppen  oder -kollektive,   die die tragende Struktur der Organisation darstellen und im Rahmen einheitlicher Struk­turen  der Bewegung arbeiten,  aktiv beteiligen.   Diese  Kollektive,   die die allgemeine Linie des Manifesto vertreten,   werden nicht als Rich­tungen vorgehen,   sondern sie akzeptieren  die durch die Strukturen der Bewegung auferlegte  Disziplin,  zumindest bis keine so schwerwiegenden Divergenzen aufkommen,  daß ihr Verbleiben  in diesen Strukturen un­möglich wird.   Die  Kollektive beteiligen sich an den von  der Versamm­lung vorgeschlagenen Initiativen,  an der zur  Unterstützung der  Bewe­gung notwendigen  Finanzierung und an der regelmäßigen Verbreitung der Zeitung.  Als einfaches Mitglied gilt der Genosse,  der mit der Li­nie des Manifesto übereinstimmt und an den  vorgeschlagenen  Initiativen teilnimmt,  sich dabei aber gegenüber der Tätigkeit der Organisation eine autonome Stellungnahme und Aktivität vorbehält.   Dem einfachen Mitglied wird bei der Abstimmung  über politische Vorschläge und bei der Wahl  der Führungsorgane eine beratende Stimme zuerkannt. Alle politischen  Entscheidungen werden von  der Versammlung der Mili­tanten getroffen,   während den Aktionsgruppen  oder -kollektiven die Aufgabe zufällt,   die spezifischen  Vorschläge auszuarbeiten.   Als  Zwi­schenebene zwischen  der Versammlung  und den  Gruppen  ist vorgesehen., die Aktionsgruppen  insbesondere  in  den  Orten,   in  denen  die Aktivität der Organisation besonders vielschichtig  und  umfassend ist,   in Aus­schüssen  zusammenzufassen.   Die Versammlung  der Militanten wählt ei­nen Vorstand,   der sich aus Genossen zusammensetzt,   die in  den Ak­tionsgruppen an verantwortlicher Stelle stehen  und die die  Einheitlich­keit des politischen  Programms gewährleisten.   Damit entsteht ein   Or­ganismus,   der kein bloßes  Koordinierungsorgan  mehr darstellt,   sondern der der Garant der gesamten  zentralen  politischen   Organisation  ist.

Der Vorstand wird in  dieser  Phase der Arbeiten  eine  Diskussion eröff­nen müssen,   in  der die organisatorischen   Probleme erörtert werden  und ein verbindliches  Programm ausgearbeitet wird,   das die allgemeine po­litische  Plattform in  möglichst wirksamer  Form den  örtlichen  Gegeben­heiten anpaßt.

Der  Klassencharakter der Organisation  muß auch durch die soziale Struktur gewährleistet werden.   Deshalb muß als vorrangiges  Ziel  darauf hingearbeitet werden,  daß sich sowohl die Basis als auch die Füh­rungsgruppen auf allen  Ebenen hauptsächlich aus Proletariern und vor allem aus Arbeitern zusammensetzen.

Mit den  Fragen    der Zentralisierung der  Führung der ganzen  Bewegung, des Rechtes auf abweichende Meinungen und des Verhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit wird sich die konstituierende Versammlung be­fassen.   Diese Fragen können nämlich,  ebenso wie im allgemeinen alle organisatorischen  Probleme überhaupt,  erst nach einer angemessenen praktischen Erprobung definiert werden.   Daher wurde vorgeschlagen, einen  Monat nach der konstituierenden Versammlung ein  Seminar der Delegierten der verschiedenen Zentren zu veranstalten,  auf dem das Problem sowohl unter praktischen als auch unter theoretischen Gesichts­punkten erörtert wird.   Im Hinblick auf diese Zusammenkunft werden wir uns in einer der nächsten Nummern unserer Zeitschrift ausschließ­lich mit den  Fragen der Organisation befassen,   um die bisher noch un­zulängliche Analyse dieser Probleme zu vertiefen.  Als Arbeitshypothese wurde gefordert,  eine zentralisierte Führung zu schaffen,  die um zwei getrennte Achsen organisiert ist: einerseits um die nationalen Ausschüs­se und andererseits um einen Gesamtorganismus,  der die Vorschläge die­ser Ausschüsse aufgreift und sie in eine politische Generallinie umsetzt.

Außerdem wird vorgeschlagen,  auf den verschiedenen   Ebenen  eine stän­dige politische Schulungsarbeit unter den Militanten zu leisten. Nach eingehender Diskussion hat der Ausschuß diese Vorschläge ange­nommen,  die am Schluß der Beratungen auch von der  Delegiertenver­sammlung gebilligt wurden.

Quelle: Il Manifesto vom 9. November 1971

Aus dem Org-Bericht für diese Versammlung: 

„Bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge ist das Manifesto nach wie vor eine ungleichmäßig verbreitete Bewegung einer Minderheit.   Zur Zeit gibt es 86 Zentren des Manifesto;  unter Zentren verstehen wir Gruppen,   die zwar verschieden  groß,  aber organisiert sind,   die  zu einer kontinuierlichen Aktion  fähig  sind und einen  eigenen  Sitz haben.   Sie erfassen 57  Provinzhauptstädte,   d.h.   zwei   Drittel  des ganzen  Landes. Außerdem existieren mehr als 10 Manifesto-Gruppen,   die noch nicht in der Lage sind,   eine systematische oder kontinuierliche Arbeit zu leisten,   und die über keinen eigenen  Sitz verfügen.“

Quelle: Il Manifesto  vom 6. November 1971