Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

12/11

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Handlungsfähigkeit herstellen!
von Michael Prütz

1. Was ist eigentlich los?

Am letzten Samstag, dem 12.11., hatten attac und einige Großorganisationen wie der DGB zu Demonstrationen in Frankfurt und Berlin aufgerufen. Motto der Veranstaltung: Banken in die Schranken! Die Teilnehmerzahlen insgesamt 18.000 in Berlin und Frankfurt, waren nicht gut und nicht schlecht. Die Demonstration in Berlin durch menschenleere Straßen endete an einem völlig leeren Reichstagsgebäude. Insgesamt hatte die Aktion einen merkwürdig zeitlosen Charakter. Nahezu skurril waren die zentralen Forderungen, die attac aufgestellt hatte: Banken in die Schranken und eine sogenannte Transaktionssteuer. Vor drei Jahren hätte eine solche Demonstration sicherlich noch einen provokanten Charakter gehabt, heute ist sie eine Forderung aus dem Mainstream der Politik. Keine Partei, kein Verband, der nicht hinter diesen Forderungen stünde. Während also in den Feuilletons der bürgerlichen Presse inzwischen der Charakter des Kapitalismus hinterfragt wird, geht attac einfach ein Stück nach rechts – und das ohne Not!

Die Transaktionssteuer wird kommen, aber sie ist nicht das Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind.
In einem Artikel von Andreas Kloke in Scharflinks, „Griechenland: Neue Regierung und beschleunigter Marsch in die kapitalistische Barbarei“, führt er aus, welche Auflagen die Troika der neuen griechischen Regierung auf den Weg gibt. Diese Auflagen führen dazu, dass Griechenland am Ende ist.

Zitat Kloke: „All dies bestätigt, dass das Hauptziel der Troika-Politik nicht in erster Linie auf die Reduzierung der Schulden usw. ausgerichtet war. Das Hauptanliegen der herrschenden Klassen, wie schon aus verschiedenen Interviews von P. Thompson (IWF), C.-J. Juncker (ECOFIN) und anderer hervorging, ist die Umsetzung der ‚Reformen‘ in Griechenland. Dies bedeutet, dass der Lebensstandard der Arbeiter und der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung um rund 50 bzw. 60 Prozent im Durchschnitt, wenn nicht mehr, reduziert werden soll. Tatsächlich sind der Abwärtsbewegung keine Grenzen gesetzt. Es scheint sich bei dieser Politik um eine strategische Entscheidung der Bourgeoisien Europas und vielleicht auf globaler Ebene zu handeln. Der Grundgedanke besteht darin, Bedingungen herzustellen, unter denen ‚produktive Investitionen‘ wieder effizient und profitabel werden. Dies ist nur durch eine entscheidende Niederlage der ArbeiterInnenklasse und ihre völlige Unterwerfung bewerkstelligen. Nur auf diese Weise gibt es eine realistische Aussicht, das globale kapitalistische System aus der furchtbaren Krise, in die es geraten ist, zu führen.“

Um ein historisches Bild zu bemühen: Es handelt sich um einen Kreuzzug der schweren Bataillone des Kapitals, nämlich der Großbanken und der exportorientierten Konzerne gegen sämtliche Errungenschaften der Lohnabhängigen in Europa. Der Tross des Kreuzzuges hat sich in Bewegung gesetzt, während die Spitze schon in den Ländern der europäischen Peripherie kämpft. Das ist, wie Kloke richtig ausführt, die entscheidende Rettungsmaßnahme für die Profitmaschine.

Auf den historischen Kreuzzug antworteten die muslimischen Gesellschaften, die damals zivilisierter waren als die europäischen, mit der Ausrufung des Heiligen Krieges. Ich nenne das natürlich nicht Heiliger Krieg, sondern Aufnahme der Klassenauseinandersetzung. Diese Auseinandersetzung wird im Übrigen heute in Griechenland und Italien mit einem massiven Demokratieabbau verbunden. Gewählte Regierungen werden sang- und klanglos abgelöst und durch Technokraten ersetzt, die das Geschäft der Sparpolitik effizient umsetzen wollen. Dass also die Reduzierung der Staatsschulden zu Lasten der Lohnabhängigen geht, ist das entscheidende Problem.

Dies wird uns in den nächsten Monaten und Jahren beschäftigen, und nicht die Frage einer irgendwie gearteten Transaktionssteuer.

2. Sich auf die Höhe der Zeit begeben

Wir sehen es heute in Griechenland und in Portugal, morgen in Italien und übermorgen in Frankreich, Großbritannien und Deutschland: Es gibt eine Welle sozialer Kämpfe. Die Wut vieler Menschen, über das, was ihnen angetan wird, hat einen mobilisierenden Charakter. Die meisten Gewerkschaften, geübt in Sozialpartnerschaft, sind schockiert über das Potenzial und die Wucht des Angriffs. Sie mobilisieren zwar, wissen aber nicht genau, wie weit sie gehen können und sollen.

All diese Mobilisierungen, in Griechenland insgesamt 15 Generalstreiks in zwei Jahren, haben keinen Erfolg gebracht. Das zeigt, wie eng der Spielraum für die herrschende Klasse ist, sich überhaupt noch auf Kompromisse einzulassen. Wahrscheinlich ist, dass der Sturz verschiedener Regierungen notwendig wäre, um überhaupt einen Erfolg zu erringen. Davor schrecken natürlich die meisten Gewerkschaften zurück, weil sie die Konsequenzen einer solchen Aktion nicht mehr kontrollieren könnten. Keiner soll denken, dass dies mit Deutschland nichts zu tun hat. Würde der Euro-Raum auseinanderbrechen, und diese Möglichkeit besteht, wäre die deutsche Exportindustrie sofort in der Situation, Kosten sparen zu müssen. Dies würde, wie in anderen Ländern auch, sehr schnell zu Lohnsenkungen und weiterer Sparpolitik führen.

Im Übrigen ist es natürlich nicht nur eine Mobilisierungsfrage, wie ein Sieg gegen die beschriebene Offensive des Kapitals organisiert werden kann, sondern es geht auch um die Formulierung einfacher, klarer Alternativen. 1917 haben die Bolschewiki ja nicht nur deswegen gesiegt, weil sie eine kluge Strategie und Taktik zur Machteroberung hatten, sondern weil ihre Losung ‚Land, Brot, Frieden!‘ den Hoffnungen und Wünschen Millionen von Menschen entsprach. Daran mangelt es heute in der linken Bewegung – und dies muss überwunden werden.

3. Die radikale Linke vereinigen – Sektierertum überwinden!

Natürlich kann man die radikale Linke nicht auf einer formalen Grundlage vereinigen, hauptsächlich sind programmatische Schritte notwendig.

Es gibt zwei Arten von Programmen. Ein Grundsatzprogramm, was die Perspektive über einen langen Zeitraum aufzeigt. So ein Programm schüttelt man nicht aus dem Ärmel, sondern es ist das Ergebnis eines langen Prozesses von Diskussionen verschiedenster Kräfte. Man kann sehr wohl eine Organisation gründen, und sich erst dann mit der Frage eines Grundsatzprogrammes beschäftigen.

Das zweite ist ein Aktionsprogramm, was sich mit den unmittelbaren Ereignissen beschäftigt, Forderungen entwickelt, die an den Bedürfnissen der Menschen anknüpfen, die aber dennoch über die Systemgrenzen hinweg weisen. Ein solches Aktionsprogramm müsste heute Elemente zu folgenden Themen beinhalten:

a) Fragen der Lohn- und Lohnersatzleistungen,
b) Frage der Arbeitszeitverkürzung,
c) die Vergesellschaftung von Banken und Großkonzernen,
d) die Rekommunalisierung und Wiederaneignung der pivatisierten Daseins-Vorsorge,
e) die Frage der internationalen Solidarität.

Im Übrigen muss sich durch ein Aktionsprogramm die Frage der besonderen Unterdrückung von Frauen und Immigrantinnen ziehen.

Die Erarbeitung eines solchen Aktionsprogramms ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Herausbildung einer neuen antikapitalistischen Organisation. Eine Bedingung für eine solche Organisation ist auch Neugierde – und die Bereitschaft, Kompromisse mitzudenken und einzugehen. Und hier fängt das Problem schon an: Da wird munter bei Diskussionsveranstaltungen mit Herrschaftswissen geprotzt, zum Beispiel mit der Frage, wen oder was die NPA in Frankreich wohl als Letztes verraten hätte.

Ganz davon abgesehen, dass 95 Prozent aller TeilnehmerInnen von Diskussionsveranstaltungen gar nicht nachvollziehen können, welche Politik die NPA in Frankreich betreibt und wo ihre Schwierigkeiten liegen, zeigt auch die Methode der Kritik ein Phänomen auf, was vor allem in trotzkistischen Gruppen weit verbreitet ist. Kleinere trotzkistische Zirkel neigen dazu, größeren Organisationen wieder und wieder vorzuwerfen, dass sie diesen und jenen Punkt falsch interpretieren und dementsprechend auch falsche Politik betreiben würden. Dabei geht es doch erstmal darum, sich auf einen Prozess einzulassen, ihn weiter zu entwickeln, um dann gegebenenfalls Kritik zu formulieren.
Dieses Sich-Einlassen auf unterschiedliche Erfahrungen, und Kritik an diesen Erfahrungen nicht wie eine Monströsität vor sich her zu treiben, ist eine wirkliche Notwendigkeit für ein Zusammenkommen unterschiedlicher Gruppierungen.
Wenn man ernst nimmt, was heute bei der oben beschriebenen Offensive des Kapitals die Aufgaben einer wirklichen radikalen Linken sind, kommt man zu dem Ergebnis, dass unser Zeitfenster sehr eng ist. Agieren wir zu spät, drohen Niederlagen, deren Ausmaß sich keiner so richtig vorstellen mag.

Editorischer Hinweis

Der Autor schickte uns diesen Artikel zeitgleich mit seiner Veröffentlichung im SIB-Blog, wo er stark diskutiert wurde. Wir haben hier mit der Veröffentlichung gewartet, um die Möglichkeit zu bieten, den dortigen Diskussionsstand mit zur Kenntnis nehmen zu können.