Peter Trotzig
Kommentare zum Zeitgeschehen
Über die „Zentralität von Lohnarbeit“ im Kapitalismus

12/10

trend
onlinezeitung

In und bei der Partei Die Linke gibt es auch eine Bundesarbeitsgemeinschaft, die vehement für ein bedingungsloses Grundeinkommen streitet. Diese Arbeitsgemeinschaft hat eine Kritik am Programmentwurf geschrieben. Man wirft der Partei vor, dass sie zu sehr „die Zentralität der Lohnarbeit“ im Kapitalismus betone.

Da ist unsereins doch neugierig und will wissen warum.

Die Arbeitsgemeinschaft entwickelt folgende Argumentation: 

"Marxistisch zugespitzt formuliert, ist Lohnarbeit nur für die Reproduktion der Akkumulation des Kapitals in einer bestimmten historischen Formation des Kapitalismus zentral wichtig.

Die Gesellschaft kann sich nicht nur theoretisch ohne Lohnarbeit reproduzieren, sie tut es auch größtenteils. Weit mehr als die Hälfte der in der BRD geleisteten Arbeit (96 Mrd. Stunden) sind unbezahlte Arbeitsstunden außerhalb der Erwerbsarbeit (56 Mrd. Stunden). Ohne diese Arbeit, die überwiegend in Haushalten und von Frauen, aber auch im Ehrenamt oder in freiwilligen Kooperationen (z. B. freie Software) geleistet wird, würde die Gesellschaft sich nicht reproduzieren können. Mehr noch: Das System der kapitalistischen Akkumulation würde sich ohne die unbezahlte Arbeit auch nicht reproduzieren können. Das Einfließen der unbezahlten Arbeit in der Gesellschaft, unter anderem zur Reproduktion der Arbeitskraft, aber auch zur Produktion von gesellschaftlichen Zusammenhängen, Ideen etc., in den Prozess der Mehrwertproduktion ermöglicht erst die kapitalistische Akkumulation. Dieser Zusammenhang wird im Programmentwurf nicht offengelegt und dadurch verschleiert.

Die neben der Warenproduktion existierenden Produktionsweisen, z. B. die häusliche Produktion (Sorge, Erziehung und Pflege) oder die Produktion in freien Kooperationen (z. B. freie Software, künstlerische Werke) oder der Bereich der Selbstbildung etc., werden in ihrer tatsächlichen Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft nicht gesehen. Statt dessen wird davon gesprochen, dass die Erwerbsarbeit Grundlage der Produktivkraftentwicklung sei und dies auch auf absehbare Zeit bleiben werde."

I.

Die heutige Gesellschaft in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern reproduziert sich also weitgehend ohne Lohnarbeit. Beweis dafür sei, dass 56 Milliarden Arbeitsstunden – ich will gar nicht hinterfragen, was alles dazu gezählt wird und mit welchen Methoden man diese Zahl ermittelt hat – unbezahlt seien. Was ist das Produkt dieser Arbeiten? Da wird aufgezählt etwa für die „häusliche Produktion“:

·        Sorge

·        Erziehung

·        Pflege

Über die Produkte von Ehrenämtern lässt man den interessierten Leser ganz im Dunkeln. Freiwillige Kooperationen liefern z.B. Software. usw.

Nun ist es aber so, dass sich Gesellschaft genausowenig durch Arbeitsstunden reproduziert, wie durch Geld. Sie reproduziert sich wesentlich durch das, was die geleistete Arbeit an Produkten liefert, die Mensch konsumiert.

Konsequenz aus den Sätzen der Arbeitsgemeinschaft: die Gesellschaft reproduziert sich hauptsächlich durch Sorge, Erziehung, Pflege und z.B. freie Software.

Nachdem ich das verstanden habe, gehe ich mal so durch meine Wohnung, um nicht vollständig die Bodenhaftung zu verlieren. Man tritt ein durch eine Tür aus Holz mit einem Schloss (Material: Eisen- und Nichteisenmetalle). Auf dem Boden liegt ein Teppich, in den Räumen befinden sich Stühle, Tische, Betten etc., wiederum aus irgendeinem Metall oder Holz gefertigt sind. In der Küche gibt es Wasch- und Geschirrspülmaschine, Töpfe, Essbestecke, Teller und Tassen usw. Darin verarbeitet wiederum Metalle, aber auch Kunststoffe und Keramik. Auch Stereo-Anlage, Fernseher und Computer fehlen nicht. Welchen Stellenwert haben diese Dinge, neben Essen und Trinken, für meine Reproduktion? Kann ich weitgehend auf sie verzichten und mich „größtenteils“ durch Sorge, Erziehung, Pflege, Inanspruchnahme von ehrenamtlicher Tätigkeit und freier Software reproduzieren? Ich glaube, dass das nicht funktioniert.

All die aufgeführten Sachen in meiner Wohnung sind von „zentraler Bedeutung“ für meine Reproduktion, und ich möchte nicht auf diese Dinge verzichten. 

All diese aufgeführten Sachen sind Produkte von Lohnarbeit, die in industrieller Produktion durch das Kapital angewandt wird. Industrielle Produktion, Lohnarbeit und Kapital sind verschiedene Seiten ein und derselben Medaille, der kapitalistischen Produktionsweise. Während sich die Begriffe Lohnarbeit und Kapital auf die soziale Form beziehen, drückt die industrielle Produktion eine bestimmte Stufe der Produktivkraft von menschlicher Arbeit aus. „Marxistisch zugespitzt“ bezeichnet man das auch als System der Lohnarbeit. Denkt man an die Anzahl der Menschen, die diese Lohnarbeit leisten und an die Produkte, die sie für gesellschaftliche Produktion (von Produktionsmitteln, also Maschinen etc. will ich hier gar nicht erst anfangen) und Reproduktion liefert, dann ist diese Lohnarbeit zweifellos und offensichtlich „zentral“ für die gesellschaftliche Reproduktion unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Die Produktivkraft menschlicher Arbeit drückt sich zweifellos vor allem in der industriellen Produktion und der darin verausgabten Lohnarbeit aus und nicht in „häuslicher Produktion“, Ehrenämtern und freien Kooperativen. Letzteres ist ganz verwiesen auf die Produkte industrieller Fertigung.

Lohnarbeit reproduziert nicht nur das Kapitalverhältnis, sondern sie produziert eben nebenbei auch jede Menge nützliche (und zweifellos auch schädliche) Waren mit einem Gebrauchswert für unterschiedlichste Anwendung. Sie liefert also all das, woran KämpferInnen für bedingungsloses Grundeinkommen eine „gleichberechtigte Teilhabe“ verlangen. Dieser möglichen Teilhabe an den Früchten der so nebensächlichen kapitalistischen Lohnarbeit soll das Grundeinkommen ja dienen. Wenn die Gesellschaft sich tatsächlich hauptsächlich ohne Lohnarbeit reproduzieren würde, wozu dann überhaupt ein solches Einkommen? Den Schnickschnack den Lohnarbeit in Form von Waren  produziert braucht doch offensichtlich niemand der sich hauptsächlich über Sorge, Erziehung, Pflege und z.B. den Konsum von freier Software reproduziert. 

II.

Aber nicht nur für die materielle Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft ist die Lohnarbeit zentral, sie bliebe es auch für ein angeblich bedingungsloses Grundeinkommen, wenn man nicht einfach die Gelddruckmaschine anwerfen will.

Der Adressat für die Forderung nach so einem Grundeinkommen ist offensichtlich der Staat. Dessen Einkommen sind Steuern, die er „zentral“ auf Lohneinkommen und Profite der Unternehmen (direkte Steuern), sowie auf den Umsatz von Ware in Geld (indirekte Steuern) erhebt. Die staatlichen Steuereinnahmen sind damit vollständig abhängig von erfolgreicher kapitalistischer Produktion und Akkumulation. Damit wäre also auch das vom Staat auszuzahlende bedingungslose Grundeinkommen vollständig abhängig vom System der Lohnarbeit. Es gibt also im Kapitalismus auf jeden Fall Bedingungen für ein angeblich bedingungsloses Grundeinkommen, selbst dann, wenn der Staat, denen, die es verlangen, keine Bedingungen stellt.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft interessiert sich aber weder für die Art und Weise, wie sich kapitalistische Gesellschaft materiell reproduziert, noch interessiert es sie, welche ökonomischen Zusammenhänge im Spiel sind, die die „Zentralität der Lohnarbeit“ für jede Form von Geldeinkünften ausmachen. Sie will  der „Philosophie des bedingungslosen Grundeinkommens“ zum Durchbruch verhelfen. Danach stehe den Menschen „qua Existenz die Garantie der Gesellschaft“ zu, „ein Leben in Würde, Selbstbestimmung, gleichberechtigter Teilhabe und freier Entfaltung seiner Persönlichkeit führen zu können“.

Man fragt sich, wieso diese Garantie nicht längst eingelöst ist. Hat man aber einmal dieses (bürgerliche) Terrain der universellen Menschenrechte betreten, dann braucht man sich um die (unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen fehlenden) Voraussetzungen ihrer Verwirklichung nicht mehr zu kümmern. Die Freiheit wird grenzenlos. „Die Philosophie des bedingungslosen Grundeinkommens“ kann keine Rücksicht nehmen auf irgendwelche Bedingungen oder Voraussetzungen. Ist der Mensch einmal geboren, dann steht ihm was zu, hat er einen Garantieanspruch … mindestens auf ein erbärmliches (das bliebe es nämlich in Anbetracht der durch industrielle Produktivität tatsächlichen Möglichkeiten für ein gutes Leben) Grundeinkommen.
In der klassenlosen Gesellschaft von Beziehern des Grundeinkommens bestehen keinerlei Verpflichtungen zur „Gegenleistung“ für die Individuen gegenüber dem Gemeinwesen (Gesellschaft) deren Teil sie sind. Es handelt sich offenbar nicht um gesellschaftliche Individuen, sondern um Bezieher einer  unbedingt „individualisierten“ Geldleistung, die die „Gesellschaft“ den Individuen zu garantieren hat. In der „Philosophie des bedingungslosen Grundeinkommens“ stehen sich Gesellschaft und Individuen exakt so gegenüber, wie das heute, in der bürgerlichen Gesellschaft, verwirklicht ist. Darum gibt es in der Spitze der sozialen Hierarchie der bürgerlichen Gesellschaft bereits eine Gruppe von Menschen,  für die ein zentrales Anliegen dieser „Philosophie“ auf eindrückliche Weise Realität ist: Leute, denen „die Gesellschaft“ ein „individualisiertes“ Geldeinkommen verschafft, ohne das für sie ein Verpflichtung besteht, „eine Gegenleistung“ zu erbringen. Für Milliardäre gibt es (leider) keine „Bedürftigkeitsprüfung“! Solange es aber keine durch soziale Revolution nachhaltig praktizierte „Bedürftigkeitsprüfung“ für privaten Reichtum gibt, dieser vielmehr unbegrenzt wachsen kann, solange wird es auch keine Garantie auf irgendeine Form von Grundsicherung für Menschen „qua Existenz“ geben!

III.

Ist die lästige „Zentralität der Lohnarbeit“ im Kapitalismus erstmal ideologisch aus der Welt geschafft, braucht die soziale Emanzipation von den Zwängen der Lohnarbeit, vom Kapital, nicht mehr als Selbstbefreiung von tatsächlichen und potentiellen LohnarbeiterInnen gedacht werden. Da tut sich ein neuer Klassenwiderspruch auf, den manche bürgerlichen Ideologen schon lange erkannt haben: es handelt sich um den Widerspruch zwischen denen, die einen Lohnarbeitsplatz „besitzen“ und jenen, die keinen haben. Bei der Arbeitsgemeinschaft und ihrer Kritik am Programmentwurf der Linken Partei liest sich das so:

"Die mangelhafte Analyse zieht nach sich, dass aktuelle Klassenformierungsprozesse im Programm unerwähnt bleiben. Die Phänomene der Prekarisierung von Lohnarbeit und des Umbaus vom Wohlfahrts- zum Workfarestaat werden dabei zwar teilweise beschrieben, jedoch nicht in ihrer Bedeutung begriffen. Dabei wird in allen entwickelten Industriestaaten die Bildung einer Klasse von Arbeitenden “unterhalb” der doppelt freien LohnarbeiterInnen vorangetrieben. Mit Arbeitszwang gegen Alimentierung weit unter den tatsächlichen Reproduktionskosten, ohne Möglichkeiten, den Lohn zu verhandeln, und dabei unter verminderten politischen und anderen Bürgerrechten stehend, unterscheiden sich diese Arbeitenden deutlich von den doppelt freien LohnarbeiterInnen. Sie stellen eine Klasse mit eigenen Interessen dar."

Da soll also eine neue Klasse mit eigenen Interessen entstanden sein. Nach diesen eigenen Interessen muss man nicht lange suchen: sie lassen sich zusammenfassen als Interesse am bedingungslosen Grundeinkommen. Langsam wird klar, worauf die Leugnung der „Zentralität von Lohnarbeit“ im Kapitalismus hinauslaufen soll: auf einen neuen potentiellen Träger sozialer Emanzipation, dessen Interesse darin bestünde, den Zwang zur Lohnarbeit schon im Kapitalismus, unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse, aufzuheben. Man kann also ohne soziale Revolution auskommen! Wie schön!

Dass diese angeblich neue Klasse in großen Teilen nichts als eine industrielle Reservearmee“ (Marx), Manövriermasse des Kapitals ist, und als solche sein ureigenstes Produkt, „Zwillingsbruder“ der Lohnarbeit, das interessiert auch in diesem Zusammenhang nicht. Schließlich geht es um bedingungsloses Grundeinkommen! Spätestens an diesem Punkt wird jedoch deutlich, dass sich bei der „Philosophie des bedingungslosen Grundeinkommens“ um einen Spaltpilz handelt, der nicht zuletzt deshalb auch von Vertretern der bürgerlichen Klasse (Götz Werner etc.) aufgegriffen wurde. Hier soll (auch im sozialen und politischen Widerstand) ein Keil getrieben werden zwischen den Teilen der Lohnabhängigen, die vom Kapital beschäftigt werden, und jenen, die ihnen als Reserve dienen, nicht zuletzt, um den Preis der Ware Arbeitskraft zu drücken. Wenn das gelingt, können KommunistInnen ihre Hoffnung auf erneute „Bildung des Proletariats zur Klasse“ vergessen!

p.s.:

1.      Dies sollte nicht als Verteidigung des Programms  der Partei Die Linke missverstanden werden!

2.      Eins könnten KommunistInnen von der Verfechtern eines Bedingungslosen Grundeinkommens lernen: wie man sich auf eine zentrale Forderung verständigt, die man dann ausführlich und immer wieder begründet, um sie zu popularisieren und Verständigung herbei zu führen.

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.