"Der kommende Aufstand"
Zur Rezeption und Kritik

von
Gerhard Hanloser

12/10

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Ein kleiner Text sorgt für große Aufregung. Das Unsichtbares Komitee hat 2007 eine poetisch-radikale Flugschrift namens „Der kommende Aufstand“ (L'insurrection qui vient) herausgebracht, die jüngst auf Deutsch beim Verlag Edition Nautilus erschien, nun vergriffen zu sein scheint, aber auch frei im Internet verfügbar ist

Vor der kollektiven Übersetzungsarbeit, die dem Raubdruck zu Grund liegt, gilt es den Hut zu ziehen, sie ist recht gut gelungen und das bei einer nicht ganz einfachen Sprache, die das „Komitee“ zu schreiben pflegt. Man fühlt sich beim Lesen der Schrift an ältere Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde erinnert, besonders an Schriften des Surrealismus oder von der leider viel zu unbekannten Formation Contre-Attaque um den radikalen Denker George Bataille. Wie diese predigt das Komitee den radikalen und gewalttätigen Aufstand gegen eine Herrschaft und Ordnung, die sich als total gesetzt hat. Es will nicht bloß die Demokratie, mehr Selbstverwirklichung, das antifaschistische Bündnis gegen eine schlechter werdende Welt anrufen, sondern - da das Leben im Kapitalismus bereits die Hölle ist - eine angemessen radikale, alles umstürzende Antwort formulieren. 

Gegen kapitalistische Pseudo-Individualität 

L'insurrection qui vient bezieht sich positiv auf die Revolte in den französischen Vorstädten und griechischen Universitätsvierteln, aber auch auf die Aufstände in Algerien in der Kabylei 2001 und auf die Kommune von Oaxacha in Mexiko, ohne diese jedoch auf ihre kommunistischen Elemente, aber auch Beschränkungen, Probleme und Fehler zu untersuchen.

Die Streitschrift ist aber deshalb interessant, weil sie sich an einer Ideologiekritik auf der Höhe der Zeit für die avanciertesten Orte, die Metropolen, versucht: nicht mehr Vaterland, Pflicht, Familie, sind die vorherrschenden Ideologien des modernen Menschen. Er will nicht mehr Arbeiter sein, sondern Künstler. Nicht mehr der Protestantismus, sondern die Ökologie ist die neue Moral des Kapitals. Statt kollektiver Zuschreibungen herrscht die so unbekümmerte wie unberechtigte Selbstwahrnehmung I AM WHAT I AM vor - von der Werbeindustrie dem Bürger auf die Haut geschrieben. Tatsächlich, so das Unsichtbare Komitee, befinden wir uns im Zustand der Halb-Ohnmacht angepasster Subjekte. Das Manifest lässt die böse Ahnung aufkommen, dass Totalitarismus erst jetzt vorherrscht. Das Abseits als sicherer Ort war sowohl im Nationalsozialismus wie im Stalinismus zu finden. Doch wo jetzt angesichts der allumfassenden Durchdringung der Welt durch Ideologie und Präsenz der Ware, die auch bis in die Welt der Wünsche hineinzuragen vermag? Ist nicht jetzt erst die totale Mobilmachung zur Perfektion getrieben, wenn „der Arbeitslose sich seine Piercings entfernt, zum Friseur geht und seine Projekte entwickelt, ernsthaft ‚an seiner Beschäftigungsfähigkeit’ arbeitet, wie man zu sagen pflegt“? Auch in den Metropolen – den Orten, in denen die Ware am deutlichsten regiert - gilt es deshalb, Orte und Zonen politischer Solidarität zu errichten, „die für den staatlichen Zugriff so undurchdringlich ... wie ein Zigeunerlager“ sind. Jenseits der bestehenden Organisationen, Parteien und linken Milieus - die man meiden sollte, weil sie korrumpieren und verblöden - soll man in Freundschaft verbundene Kommunen aufbauen, die sich so organisieren, dass man der Arbeit entfliehen und sich auf ein widerständiges Leben konzentrieren kann. Gegen die Entfremdung und die Zumutungen der Lohnarbeit soll der Mensch in der Revolte sich allumfassend bilden und befähigen. Lokale Kommunen organisieren dann den Aufstand gegen die Warengesellschaft und schaffen befreite Zonen: „Es geht darum, kämpfen zu können, Schlösser zu knacken, Knochenbrüche ebenso zu heilen wie eine Angina, einen Piratensender zu bauen, Volksküchen einzurichten, genau zu zielen, aber auch darum, zerstreutes Wissen zu sammeln und eine Landwirtschaft des Krieges zu schaffen, die Biologie des Planktons und die Zusammensetzung des Bodens zu verstehen, das Zusammenwirken der Pflanzen zu studieren...“.  

Bürgerliches Feuilleton 

Im verschlafenen Deutschland kam die Debatte um „Der unsichtbare Aufstand“ erst die letzten Monate im Feuilleton so richtig in Fahrt. Doch mit welch hanebüchener Unwissenheit! Die einen bemühen den Skandalschriftsteller Michel Houellebecq, um den Text inhaltlich einordnen zu können Das einzig verbindende zwischen ihm und dem Komitee dürfte eine pessimistische Zeichnung der Sexualität als entfremdet sein, die Teil der vom Kapitalismus allumfassend zerstörten Zwischenmenschlichkeit sei, und noch darin bestehen - dass beide aus Frankreich stammen. Andere fühlen sich an den Waldgänger von Ernst Jünger erinnert, obwohl dieser auch noch in dieser 50er-Jahre-Schrift deutsches Volk, Theologie, Wahrung des Eigentums über alles stellt, Kategorien, die dem anarchistischen Komitee reichlich fremd sein dürften. Der Traditionsbestand, aus dem das Unsichtbare Komitee schöpft ist eindeutig. Ein Strang ist die alt-anarchistische Idee der moralisch gerechtfertigten Aneignung in einer unterdrückerischen und herrschaftlich eingerichteten Gesellschaft, ein weiterer die radikale Negation der bestehenden Zivilisation wie man sie bei den Surrealisten um André Breton kennen dürfte. Das ganze mixt sich mit der polemischen Abgrenzung von der traditionellen, alt-linken, verbürgerlichten Linken, wie sie die Situationisten um Guy Debord in den 60er Jahren genüsslich zelebrierten.

Wenig Kenntnis von der Geschichte des französischen Spät-Situationismus beweisen Rezensenten, die sich angesichts der tiefen Zivilisationsskepsis und Abrechnung mit der kapitalistischen Moderne lediglich an Heidegger erinnert fühlen, um sogleich „Nazi!“ schreien zu können. Siehe Jungle World (www.jungle-world.com/artikel/2010/47/42175.html) und TAZ  (www.taz.de/1/debatte/theorie/artikel/1/fast-wie-gas/).

Radikale und aus dem undogmatischen Marxismus kommende Essayisten wie Guy Debord oder der im August 2010 verstorbene Jaime Semprun haben sich in den 80er Jahren von der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt verabschiedet und setzten auf radikale Minderheiten, die das Bestehende mit seiner Entfremdungsdynamik in Frage stellen können. Sie brachen angesichts einer apokalyptisch sich zuspitzenden Umweltfrage mit dem Fortschrittsoptimismus des Marxismus, der sich stets auf eine Dialektik der Produktivkraftentfaltung bezog, und verwarfen die herrschende Zivilisation mit ihrem technologischen Potential in toto.

Wer meint, Technikkritik könne nur politisch rechts sein, sollte zur Kenntnis nehmen, dass es auf der Linken immer eine solche radikale Unterströmung gab - von dem romantischen Anarchisten Gustav Landauer bis zur Kritischen Theorie des Weltbürgers Walter Benjamin, von dem das Komitee auch die Einsicht übernommen hat, dass die Katastrophe nicht das ist, was kommt, sondern bereits eingetreten ist. Und wer allen ernstes das Komitee wegen dessen Technikkritik der Konservativen Revolution zuschlagen will, sollte Ernst Jüngers proto-faschistisches Manifest „Der Arbeiter“ von 1932 zur Hand nehmen, in dem die Technik mitsamt ihres Zerstörungspotentials gefeiert wird, wie in keiner anderen Schrift des 20. Jahrhunderts, den italienischen Futurismus an der Schwell zum Faschismus vielleicht ausgenommen.

Doch es ist mehr als nur Unwissenheit, wenn in nominell linken Publikationen wie taz und Jungle World die Schrift in die braune Ecke gestellt und dabei schlicht mit unbegründeten Behauptungen operiert wird. Das Unsichtbare Komitee würde sich auf Carl Schmitt und Martin Heidegger beziehen, wird behauptet, einen Beleg dafür sucht man vergebens. Entgegen der Feuilletonkultur in FAZ, SZ und Die Zeit zeigt sich in dem antideutschen/poplinken und dem grünen Mittelschichts-Milieu verbundenen Feuilleton eine inhaltlich entgrenzte Kultur des Vorwurfs und der Unterstellung, in der es nur noch darum geht, auf der Seite der Ordnung zu stehen. Die Revolte war offensichtlich biographisch mal zu nah an der eigenen Lebenswelt angesiedelt, wie beim ehemaligen Beute-Herausgeber und ID-Verleger Andreas Fanizadeh (dem heutigen taz-Feuilleton-Chef) als das man sie sich anders als mit schweren pseudo-antifaschistischen und Anti-Terror-Geschützen vom Leib halten kann.

Der taz- und Jungle-World-Rezensent Johannes Thumfart kommt zu dem wenig erstaunlichen Ergebnis, es handele sich um ein „antidemokratisches Pamphlet“, das gegen „Demokratie und Rechtsstaat wettert“. Ja richtig, doch um diese Stoßrichtung mehr moralisch als argumentativ zu diskreditieren, braucht er schon den Passepartout-Begriff „Ressentiment“ und die ohne viel Federlesens vorgenommenen Nazi-Vergleiche, die der Logik des Extremismusbegriffs folgen, dass es Christina Schröder und Eckhard Jesse eine wahre Freude sein dürfte. Hier geriert sich der Feuilletonist als Staatsschützer und das, wo man doch immer dachte, dass zumindest auf den Kulturseiten der bürgerlichen Blätter der ein oder andere Staatsferne mal schreiben darf.  

Keine leichte Beute 

Beim Lesen des „Kommenden Aufstandes“ stellt sich ein Effekt ein, der von der Lektüre der Texte der Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer bekannt sein dürfte. Man liest mit bösem Einverständnis eine Beschreibung einer an sich total verkommenen und verkehrten Welt. Und man findet sich in einer erhabenen Komplizenschaft mit den Autoren wieder: die Welt ist schlecht. Doch die Welt des Textes und die wirkliche Welt weisen dann doch – zum Glück des Rezipienten! – erhebliche Unterschiede auf. Auch das Angebot bleibt unbefriedigend: Wo bei Adorno Abwendung von der negativen Totalität und Zuwendung zu den schönen Künsten Heil verspricht, ist beim „Unsichtbaren Komitee“ lediglich der Aufstand Heil spendend. Darin besteht die Gefahr des Elitarismus.

„Der kommende Aufstand“ mit seiner nihilistischen Zeichnung des Bestehenden ist für einen Marxisten allerdings nur vermeintlich leichte Beute. Natürlich kann der immer schon anti-anarchistische Marxist-Leninist „Kleinbürger“ raunen, Expressionismus, Wut und Wahn diagnostizieren und den stets gültigen wie so bedächtigen „Historischen Materialismus“ in Anschlag bringen. Natürlich – und das gilt für die etwas klügeren Marxisten - könnte man mit Marx darauf hinweisen, dass „wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft vorfänden, ... alle Sprengversuche Donquichotterie“ wären. Doch kann man allen Ernstes behaupten, dass Internet und Handy uns dem Kommunismus näher gebracht haben? Diese Dinge könnten im Kommunismus sicherlich ihre Gebrauchswertseite entfalten (wären aber dann nicht mehr „Handy“ und „Internet“, wie wir sie kennen), aber in der vorherrschenden Gesellschaft zementieren sie die Einsamkeit, sorgen für Trennung und gaukeln Schein-Gemeinsames vor. Es benötigt einen Gutteil marxistischen Dogmatismus, wollte man sich nach wie vor ganz unbefangen auf eine Dialektik von Produktivkraftentfaltung und Revolution verlassen. Hinter der 1950 geschriebenen Kritik von Karl Korsch am dogmatischen Marxismus, dessen Glaubenssatz in einer „mystischen Identifizierung der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie mit der sozialen Revolution der Arbeiterklasse“ besteht, sollte man nicht zurückfallen, auch wenn man der generalisierten Technikkritik des „Unsichtbaren Komitees“ nicht folgen mag.

Das größte Problem des „Kommenden Aufstands“ besteht darin, dass es lediglich Leute anspricht, die sich ohnehin bereits in dem attackierenden Sound wiedererkennen. Der Text kann sich auf eine Revolt-Identität beziehen und verstärkt eine solche Identität, die bereits vorliegt und sich tatsächlich in den diversen mehrheitlich von Jugendlichen getragenen Revolten der letzten Jahre herausgebildet hat. Er schafft es aber nicht, das Problem zu umkreisen, dass Revolution immer auch bedeutet, dass sich bestehende herrschaftliche Identitäten verflüssigen und auch die bereits bestehenden Revolt-Identitäten dem Neuen öffnen müssen. Das würde heißen, anders als bloß pädagogisch die Frage aufzuwerfen, wie man diejenigen für das Aufbegehren gewinnen kann, die die bestehende Ordnung noch nicht als totalitär, zusammengebrochen, vergewaltigend empfinden. Für viele Menschen ist die Welt noch nicht zusammengebrochen, sie gehen jeden Tag arbeiten, sie tun das nicht unbedingt mit einem verblendeten Strahlen im Gesicht, sondern sie sind schlichtweg dazu gezwungen. Der Aufstand im hier und jetzt ist für sie (auch für den Verfasser dieser Zeilen) gar keine lebbare und sich unmittelbar aufdrängende Alternative. Aber der Text konstruiert das reine Subjekt der Revolte, das scheinbar vom Kapitalismus befreit ist, ihm bloß als Feind gegenübersteht. Entspricht das der Realität? Die Jugend- und Arbeiterrevolten der letzten Jahre – die Aufstände der Generation 600-Euro in Griechenland und anderswo - zeigen doch viel mehr, dass Menschen gerade auch aufgrund des Gezwungen-Seins zum Arbeiten und den damit verbundenen Lebensbedingungen revoltieren. Der Text umschifft jedoch dieses für eine kommunistische Theorie zentrale Thema: wie wir uns als Ausgebeutete unter Bedingungen (manche nennen diese „neoliberal), die uns immer mehr entmachten, wieder zu einem machtvollen Faktor in und gegen die Arbeit, und nicht nur gegenüber der Polizei erheben können. Tatsächlich liegt in der Arbeit und der Ausbeutung auch der Lebensnerv dieser Gesellschaft. Ohne Klassenkampf keine fundamentale Veränderung. Das werden auch die militant Aufständischen merken: Wie geht es weiter, wenn die letzte Ampel zerhackt wurde, das letzte Fernsprechhäuschen in Flammen steht und man sich in den in Freundschaft verbundenen Kommunen die Wunden verarztet und dazu Tee aus dem eigenen Kräutergarten trinkt? Haben die unsichtbar Publizierenden und sichtbar Zerstörenden auch die Selbstgewissheit des legendären spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti, der sagen konnte: „Wir sind es, die wir die Städte und Paläste - hier in Spanien und in Amerika und überall - gebaut haben. Wir Arbeiter können andere Städte und Paläste an ihrer Stelle aufrichten und sogar bessere. Wir haben nicht die geringste Angst vor Trümmern. Wir werden die Erben dieser Erde sein... Hier, in unserem Herzen, tragen wir eine neue Welt. Jetzt, in diesem Augenblick, wächst diese Welt“? 

Nachtrag: Wird „Der kommende Aufstand“ in den hiesigen Milieus des Linksradikalismus aufgegriffen, in der Hoffnung, dass diese mal ordentlich durcheinandergewirbelt werden und eine Poesie der Widerständigkeit entwickeln? Ein guter Freund und Genosse, der es wissen sollte, meinte, Leute wie die Verfasser der Flugschrift würden höchstwahrscheinlich wegen „dominantem Redeverhaltens“ aus den einschlägigen Lokalitäten verbannt werden.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.