Zur „internationalen Piraterie“
(außerhalb des Internets) im Allgemeinen, und in & um Somalia im Besonderen

von
Bernard Schmid

12/10

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onlinezeitung

Das älteste Gewerbe der Welt ist die Piraterie vielleicht nicht gerade, es gibt da jedenfalls aussichtsreiche Konkurrenten um den Titel. Dennoch ist die Seeräuberei eine ziemlich alte Einrichtung, ungefähr so alt, wie es Ansätze zu einem Welthandel gibt. Erste dokumentierte Fällen wurden um 1.400 vor Christus durch die antiken Ägypter beschrieben. 

Auch die alten Phönizier mussten sich mit der Sache herumschlagen. Die alten Griechen erfanden das Wort ,peirates’, das sich – je nach verfügbarer Quelle – entweder von einem Verb für „nehmen, wegnehmen“ oder aber vom Verb „versuchen, sein Glück probieren“ ableitet. Zu ihrer Zeit betrachtete der Attische Bund, ein Zusammenschluss von griechischen Städten, das Phänomen der Seeräuberei erstmals als verurteilungswürdiges Verbrechen; bis dahin hatte man die Seeräuber lediglich als irgendwelche Feinde unter vielen, welche die Umwelt nun einmal bereit hielt, betrachtet. Die alten Römer formten das griechische Wort in ein lateinisches um, ,pirata’, das in etwa so viel Schatzjäger oder Glücksritter bedeutet. Julius Cäsar war nicht nur in den Comics von Uderzo mit Piraten konfrontiert. 

Ihr Ansehen wandelte sich im Laufe der Zeiten wiederholt: vom quasi natürlich vorkommenden Feind zum Verbrecher, später aber auch zum romantisch verklärten Objekt der Betrachtung. Piraten faszinierten viele Zeitgenossen. Anarchisten und Hausbesetzer benutzen hin und wieder Piratenflaggen als Identifikationssymbol, ähnlich wie der FC Sankt Pauli. Heute nennt sich eine ganze politische Partei gleich „Piratenpartei“, was allerdings eher auf einen Vorgang im Internet anspielt – wobei diese „Netzpiraterie“, im Unterschied zum historischen Original, in aller Regel ohne Gewalt oder Androhung von Gewalt auskommt.

Unter anderem trug zu ihrem eher positiven Ruf in manchen Kreisen bei, dass manchen unter ihnen der Ruf anhaftete, sie seien eine Art von Robin Hoods, die den Reichen nähmen und den Armen gäben. Dem berühmten Klaus Störtebeker, um dessen Leben und Wirken sich jedoch unzählige Legenden ranken, der jedoch mutmablich 1401 in Hamburg hingerichtet wurde, hing bei vielen seiner Zeitgenossen ein Ruf als „Gleichteiler“ an. Das bedeutet so viel wie „Umverteiler“, der – ausnahmsweise in der Geschichte – die Reichtümer von oben nach unten umschichtet. Die Wirklichkeit war jedoch vermutlich um Einiges banaler: Störtebeker und eine „Vitalienbrüder“ konnten sich weitgehend ungestört dänische Schiffe und später auch solche der Hanse vorknöpfen, weil sie andere zeitgenössische Mächte in ihrem Rücken wussten. 

Sozialrevolutionäre Robin Hoods – oder doch eher ein Seitenzweig der kapitalistischen (Raub-)Ökonomie ? 

Zunächst genossen sie die Unterstützung des schwedischen Königshauses, die die Piraten als Waffe in einem regelrechten „Kaperkrieg“ gegen Dänemark einsetzte. Später verloren sie diese Unterstützung anscheinend, aber schlossen Abkommen in Form von „Kaperbriefen“ mit manchen Hafenstädten in der Region. Die Hoheiten der Letzteren betrachteten sie deswegen auch nicht als Kriminelle, sondern als nützlichen Faktor zur Aufbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit In Wismar konnten sie ihre erbeuteten Waren frei auf dem Markt verkaufen, da sie dort einen offiziellen Freibrief für ihre kommerziellen Aktivitäten innehatten. Sie waren also hervorragend in die Ökonomie der Handelsbourgeoisie ihrer Zeit integriert. Allerdings nicht in jene der Hamburger „Pfeffersäcke“, die die Sache etwas anders sahen und deshalb den Scharfrichter auf Störbeker und seine Leute ansetzten. Ähnlich waren auch später „Freibeuter“ und „Korsaren“ periodenweise in das zeitgenössische Mächtespiel integriert. Etwa zwischen den Seemächten Spanien und Grobbritannien, die sich gegenseitig – statt Kriegsflotten – mit vom jeweiligen Souveränität Freibriefen ausgestatte Seeräuber auf ihre Handelsschiffe hetzten. Man denke nur an den, mit offiziellem Kaperbrief von Ihro Majestät (der britischen Krone) ausgestatteten, prominenten Freibeuter Sir Francis Drake.

Nach innen hin sollen viele ihrer Gruppen hingegen sogar ziemlich demokratisch strukturiert gewesen sein, mit einem Stimmrecht für sämtliche Mitglieder der Mannschaft und einheitlichem Gewicht aller Stimmen einschlieblich jener des Kapitäns. Mitunter mag dieser, den Zusammenhalt der Gruppe festigende, Aufbau freilich nur bis zur Verteilung einer gröberen Beute gewahrt worden sein. In aller Regel war der Piratenberuf unterdessen kein Zuckerschlecken: Die meisten derer, die ihn ausübten, starben arm und früh. Wurden sie nicht durch irgendeine Staatsmacht aufgeknüpft, so starben sie bei gelegentlichen Gemetzeln unter den eigenen Leuten, und umgekehrt. Das Bild vom Piraten, der einen fetten Schatz mit reichlich Gold- und Silberglanz auf einer Südseeinsel unter Palmen vergräbt, gehört definitiv ins Reich der Legende.

„Alle umbringen, kurzen Prozess machen“ – Völlige Enthemmung und totaler Ausfall zivilisatorischer Standards

Heute löst die pure Erwähnung des Worts „Piraten“ - fällt sie im Zusammenhang mit Somalia, also einem von Schwarzen und noch dazu Moslems bewohnten Land, das zu den ärmsten der Welt zählt – in manchen Kreisen heftige Erregung aus. Spiel mir das Lied vom Abknallen!: Die Empörung über ihre abgrundtiefe Asozialität und vermeintlich fundamentale „Andersartigkeit“ dient mitunter dazu, Reflexe abzurufen, die auf „einfach kurzen Prozess machen, alle umbringen und ihre Brut gleich noch dazu“ hinauslaufen. Dies gilt, somalische Piraten betreffend, in jüngerer Zeit besonders für Sympathisanten der Neokonservativen. Also einer Strömung, die sich auf das Argument der Überlegenheit der zentralen westlichen Staaten – kraft ihrer demokratischen Verfasstheit nach innen – stützt, um eine mehr oder weniger rücksichtslose militarisierte Aubenpolitik zu fordern.

In der Tageszeitung Die Welt forderte Hannes Stein so im Jahr 2009: „Häfen, die Piratenschiffen Schutz gewähren, gehören unbarmherzig bombardiert.“[1] Es ging in dem Artikel um „die Küste Afrikas“ und um somalische Bösewichte. Auf dem neokonservativen, von oft frisch bekehrten und umso aggressiveren „Liberalen“ (z.T. früheren Linken) betriebenen Internetblog ,Die Achse des Guten’ geiferte Hannibal Tempest im April desselben Jahres: „Was spräche eigentlich dagegen, ein paar Piraten zu einer Bootsfahrt einzuladen und sie dann zu bitten, von Bord zu gehen, möglichst an einer Stelle, an der auch Haie schwimmen, die lange nicht mehr gefüttert worden sind? Human Right Watch würde sich aufregen, PETA gegen den Missbrauch der Tiere protestieren (…). Dass so etwas nicht machbar ist, dass die Verbrecher jene Chance bekommen, die sie ihren Opfern nicht gegeben haben, ist auch das Verdienst der Gutmenschen, die immerzu nach rationalen Erklärungen des Übels suchen.[2] Der Bremer Rechtsanwalt Joachim Nikolaus Steinhöfel – in letzter Zeit zu unzähligen Themen im Fernsehen als Kommentator eingeladen, von der Sicherheitsverwahrung für gefährliche Kriminelle bis zur Rentenpolitik, und Repräsentant einer hemmungsfreien neuen Rechten – wettert in einem Video: „Ein faires Verfahren für die Piraten sieht so aus: Man versenkt ihre Schiffe ohne Vorwarnung und legt ihre bekannten Schlupfwinkel an Land in Schutt und Asche.“[3] Und Fred C. Iklé brachte es in der Washington Post auf den kurzen Nenner: Kill the pirates![4] 

Wo somalische Piraten Erwähnung finden, fallen offenkundig sonst übliche zivilisatorische Hemmnisse; minimale rechtsstaatliche Standards werden als ein Luxus betrachtet, und den Betreffenden soll am besten eine Behandlung wie Raubtieren widerfahren. Solche Reden hört man am ehesten dort, wo Somalia und die es umgebende Region betroffen sind. Zu China etwa vernimmt man derzeit keine vergleichbare Forderung – die „Hunnenrede“ Willhelms II. ist schon ein paar Jahre her -, vielleicht auch, weil die Antwort aus Peking ruppig ausfallen dürfte. Und weil man in Peking über ein paar Machtmittel mehr verfügen dürfte, um sich Eindruck zu verschaffen, als in Mogadischu.  

Aber noch zu Anfang dieses Jahrtausends war es nicht das Horn von Afrika, rund um Somalia, das als hauptsächlicher Hort des Piraten(un)wesens auf dem Planten galt, sondern das Südchinesische Meer rund um die Philippinen, Indonesien und Malaysia.[5] 

Ein Nebenprodukt des kapitalistischen Welthandels  

Merke: Welche Zutaten benötigt man, um zu einem Aufschwung der Piraterie zu kommen? Erstens: eine stattliche Zunahme des überregionalen, transnationalen oder internkontinentalen Handels und der von ihm verursachten Warenflüsse. Zum Zweiten, eine gröbere Gruppe von Menschen, die von dessen Früchten nicht ausreichend profitieren und die soziale Basis dafür abgeben, dass Freibeutergruppen Mitglieder und Nachwuchs rekrutieren können. Und drittens, nicht zu vergessen: Regionen, die entweder nicht unter der Oberhoheit eines Zentralstaats stehen, der kraft seines Herrschaftsanspruchs solche Aktivitäten unterbinden könnte – oder aber in denen der Souverän nicht willens oder nicht in der Lage ist, einen Riegel vorzuschieben. Üblicherweise werden Piratenaktivitäten nämlich durch alle anderen als den betreffenden Staat als grober Verstob gegen internationale Höflichkeitsregeln, Gepflogenheiten und rechtliche Vereinbarungen betrachtet. Hat der Staat einerseits etwas zu verlieren, etwa seinen Ruf oder seine Stellung in der „internationalen Gemeinschaft“, und verfügt er andererseits über ausreichende Mittel dafür, so wird er wild wuchernden Piratentätigkeiten auf seinem Boden schnell einen Riegel vorschieben. Es sei denn, er profitiert davon und kann es sich leisten; oder aber er erhofft sich einen höheren Gewinn von der Verletzung als von der Einhaltung der internationalen Spielregeln. Oder aber, dritte Option, er vermag sich scheinbar glaubhaft von der lukrativen Aktivität seiner Untertanen oder Staatsbürger distanzieren, auch wenn er sie unter der Hand fördern sollte. 

Eine solche Situation war vor wenigen Jahren vor allem in dem Raum, wo der Pazifik in den Indischen Ozean übergeht, gegeben. Durch die Industrialisierung gröberer Teile Asiens hatte der Warenverkehr durch die Region – besonders durch die Strabe von Malakka, die an Singapur vorbei führt – in gigantischem Ausmab zugenommen. Zudem weist die Region natürliche Hindernisse auf, etwa Klippen in der 700 Kilometer langen Meerenge, welche die Schiffe dazu zwingen, diese Passage mit verminderter Geschwindigkeit zu durchfahren. Die Schliebung von Militärbasen der Supermächte in der Region – US-amerikanische auf den Philippinen, sowjetische in Vietnam – infolge der Beendigung des Kalten Krieges im Jahr 1990 verringerten das Risiko für Gruppen, die sich in die Piraterie stürzten. Hinzu kam die Instabilität der beiden Archipelstaaten Philippinen und Indonesien, die ihre peripheren Regionen zunehmend weniger unter Kontrolle hatten. Beide, aus zahllosen Inseln – 7.000 im ersten Falle, 17.500 im zweiten Falle – bestehenden Staaten wurden und werden in ihren Peripheriezonen von ethnisierten Konflikten, Separatistenkämpfen und konfessionalisierten Kämpfen nach dem vereinfachten Strickmuster „Christen versus Muslime“ geschüttelt. Etwa im Falle Indonesiens auf den Molukken, auf Sumatra und anderswo. 

Und hier kamen nun unterschiedliche Akteure ins Spiel. Denn Piraterie kann von Protagonisten betrieben werden, deren Dimensionen vom familiären Handwerksbetrieb bis hin zum mafiös strukturierten multinationalen Konzern reichen – je nach Gröbe der Beute, vorhandenem Risiko, Durchsetzungsfähigkeit des ihre Region beherrschenden Staates. Und auch je nach dem „zu Hause“ herrschenden ökonomischen Druck im Kampf ums tägliche Überleben: Wer sonst definitiv nichts mehr zu beiben hat, dürfte höhere Risiken in Kauf nehmen, als er sonst einzugehen bereit wäre. Im Falle des Südchinesischen Meeres hatte es die internationale Seefahrt einerseits mit kleinen Gruppen zu tun, die auf eigene Faust aktiv wurden und oft mit lokalen Separatistengruppen, wie in der Provinz Aceh auf Sumatra, verknüpft waren. Auf der anderen Seite waren aber einige in Indonesien aktive Gruppen auch eng mit den chinesischen Triaden, die im Raum Hongkong ansässig waren, verbandelt: Ihre „Einkünfte“ wurden alsbald in gröbere kapitalistische Wirtschaftskreisläufe „recycelt“, und die Gelder dabei gewaschen. Dabei scheinen aber auch Teile der chinesischen Staatsmacht, vor allem in den Südprovinzen, an dem Treiben aktiv beteiligt gewesen zu sein. So rief es ziemlichen Ärger hervor, als im September 1998 das japanische Frachtschiff „MY Tenyu“ auf dem Weg von Sumatra nach Südkorea zunächst spurlos verschwand, aber drei Monate später – umlackiert und auf den Namen „Sanei 1“ umgetauft – mit anderer Mannschaft aus einem chinesischen Hafen auslief. Die Sache flog auf. China lieb die Mitglieder der neuen Mannschaft, die indonesischer Herkunft waren (die ursprüngliche Besatzung war mutmablich tot), im Juli 1999 ziehen und erklärte offiziell, es sei keine Straftat auf chinesischem Boden begangen worden.  

Doch der geographische Schwerpunkt der Piraterie hat sich seit 2008 eindeutig in die Region rund um das Horn von Afrika verlagert. Zunächst waren die aus Somalia stammenden Seeräuber vor allem im Golf von Aden aktiv, doch der wachsende militärische Druck – unter anderem unter Federführung der UN, der EU-Mission „Atalanta“ und der NATO – hat dazu geführt, dass sie sich immer schnellere Boote kaufen und in weiter entfernt gelegene Regionen ausweichen. Erworben werden sie vor allem in Dubai. Dadurch konnten sie ihren Aktionsradius inzwischen auf die Südhälfte des Roten Meeres und auf wachsende Teile des Indische Ozeans ausweiten. Seit 2009 sind nun beispielsweise erstmals die Seychellen betroffen; bei einer Piratenattacke in jenem Jahr kamen somalische Seeräuber bis auf 15 Kilometer an ihre Hauptinsel Mahé heran. Im selben Jahr gingen die Fischereieinnahmen des Inselstaates und Steuerparadieses um 15 %, die Tourismuseinkünfte um 20 Prozent zurück.  

Somalia o d e r: Wenn man sonst keinen einzigen „Standortvorteil“ hat, mit Ausnahme einer Lage am Meer... 

Der soziale Hintergrund in Somalia ist ein anderer als im Südchinesischen Meer. Denn mangels einer nennenswerten ökonomischen Aktivität, jedenfalls eines modernen kapitalistischen Sektor, in dem bitterarmen und von Bürgerkrieg zerrissenen Staates in Nordostafrika kann die Piraterie sich dort nicht auf eine solide wirtschaftliche Basis wie im Falle der chinesischen Triaden stützen. Ihre „Einkünfte“ werden nicht in eine entwickelte kapitalistische Ökonomie re-investiert, sondern dienen den Akteuren und, wahlweise, einer halben Familie oder einem ganzen Dorf schlicht zum Überleben. Dabei machen sie sich den quasi einzigen Standortvorteil, der ihrem Land im internationalen Wettbewerb bleibt – seinen Platz nahe an den Handelsrouten auf dem Meer – zunutze: Kuwait beispielsweise hat sonst wenig zu bieten, aber Erdöl. Japan oder Deutschland hat dafür keine Rohstoffe, aber nimmt (im Gegenzug) aus historischen Gründen einen zentralen Platz in der internationalen kapitalistischen Verwertungskette ein.  

Somalia hat weder das Eine noch das Andere auch nur entfernt zur Verfügung. Seine jugendlichen Einwohner machen sich nun eben auf ihre Weise den einzigen Standortvorteil, den sie haben, dienlich. Dadurch kämpfen sie sicherlich nicht aktiv für die Weltrevolution und eine neue Wirtschaftsordnung, und ihre Tätigkeit ist nicht zu romantisieren, sondern sie kämpfen zuerst für die Verbesserung ihrer eigenen sozialen Situation. Dennoch tun sie dafür im Kern nichts Anderes und nichts Schlimmeres, als etwa deutsche Teilnehmer an der internationalen kapitalistischen Verwertungskette, die sich ihrerseits die „Standortvorteil“ ihres Nationalstaats & Export-Junkies zunutze machen (und versuchen, von den dabei abfallenden Krümeln ein bisschen zu profitieren). Vielleicht mit dem Unterschied, dass die aktive Mittätigkeit an den Unternehmungen des deutschen Export-Junkies um Einiges mehr zur Zerstörung dieses unseres Planeten beiträgt... 

In der Linken seit einigen Jahren relativ bekannt, aber nach wie vor fundamental richtig, ist der Hinweis auf die Zerstörung der Lebensgrundlagen, von denen sich die somalische Küstenbevölkerung zuvor noch ernährte[6]. Die Überfischung der einstmals reichen Fischbestände vor den Küsten Nordostafrikas – die weiter entfernt gelegenen Seychellen weisen allerdings noch den drittgröbten Thunfischbestand des Planeten auf -, die durch europäische und ostasiatische Fangflotten weitgehend geleert wurden, haben diese Lebensgrundlagen zerstört. Sogar das rechtsbürgerliche Drecks-, pardon, Wochenmagazin FOCUS räumt in einem Artikel ein, dass der Aufschwung der Piraterie an den ostafrikanischen Küsten den dortigen Fischbeständen eine gewisse Erholung erlaubt und allgemein der Umwelt richtig gut getan hat...[7] 

In Somalia, wo aufgrund der Bürgerkriegssituation kein Zentralstaat Beschwerde zu führen „droht“, wurden in den letzten Jahren aber auch radioaktive Abfälle aus Europa an den Küsten abgelagert. Verschiedene Faktoren trugen dazu bei, dass die traditionellen wirtschaftlichen Aktivitäten der Einwohner der Küstenregion, die zwar nicht zum modernen kapitalistischen Sektor zählten, ihnen aber dennoch Nahrung verschafften, weitgehend zerstört worden sind. Entsprechend mussten die Betreffenden sich nach einer neuen Aktivität umsehen. 

Aber auch die Bevölkerung, etwa in der Hafenstadt Haradhere, profitiert zum Teil von der Piraterie – sicherlich nicht im Rahmen einer sozialistischen Selbstverwaltungs-, sondern einer (im internationalen Gesetz nicht vorgesehenen) „alternativen“ bürgerlichen Anlage-Ökonomie. Nach einem Bericht der Agentur ,Reuters’ betreiben die Piraten dort eine Art Seeräuber-Börse. „Wir haben mit 15 Maritimen Unternehmen angefangen, jetzt beherbergen wir 72“, zitiert Reuters einen ehemaligen Piraten, der die Funktionsweise der Börse erklärt. „Zehn der Unternehmen waren bislang erfolgreich“. An der Piratenbörse könne sich jeder beteiligen, sei es mit persönlichem Einsatz zur See oder an Land, mit Geldinvestitionen, Waffen oder anderer Ausrüstung. „Wir haben die Piraterie zu einer Gemeindeangelegenheit gemacht“, so der ehemalige Pirat. „Ich warte auf meinen Anteil, ich habe für eine Operation eine Panzergranate zur Verfügung gestellt“, zitiert der Reuters-Reporter eine junge Frau, die vor der Piratenbörse wartet. „Mit Piratierie verbundene Geschäfte sind der wichtigste ökonomische Sektor hier, die Einheimischen leben von deren Ergebnissen“, zitiert der Bericht einen Sicherheitsbeamten der Stadt. „Die Gemeinde erhält einen Prozentsatz der Lösegelder, und das wird in die öffentliche Infrastruktur, etwa in unser Krankenhaus und öffentliche Schulen investiert“.

Welche Position zur Verteidigung der Lohabhängigen im Schiffstransport-Sektor?

Es stellt sich natürlich die Frage, welche Position wir als Gewerkschafter und Progressive aus Sicht der auf den Schiffen beschäftigten Lohnabhängigen beziehen. Denn Letztere müssen ja dann i.d.R. ihre Rübe hinhalten, wenn es dann mal wirklich brenzlig wird. Wirklich problematisch ist ja nicht, dass somalische Piraten sich ab & zu mal einen Öltanker genehmigen (wie im spektakulären Falle der ,Sirius’, Ende 2008) – nach dem Motto: „Man gönnt uns ja sonst (buchstäblich) nichts!“ Sondern weitaus eher die Tatsache, dass neben der von ihnen eingesackten Ladung sich auch Mannschaften an Bord befinden, die oft als Geiseln genommen werden. Derzeit befinden sich zwischen 300 und 400 Angehörige von Schiffsbesatzungen ständig in der Gewalt somalischer Piraten. Das Ziel von Letzteren ist es zwar nicht, ihnen ein Leid zuzufügen, sondern, sie gegen die Zahlung eines mehr oder minder fetten Lösegelds „auszuhandeln“. Nichtsdestotrotz bleibt es sich dabei, dass dabei Menschen und Lohnabhängige in Gefangenschaft geraten. Auch dann, wenn ihnen dabei auf Dauer kein Haar gekrümmt wird (was voraussetzt, dass die Lösegelder auch bezahlt werden), ist das eine unangenehme und bisweilen gefährliche Situation für die betroffenen Kollegen.

Gewerkschaften in denjenigen Staaten, die als Zentren des kapitalistischen Welthandels oder als Relaisstationen im Schiffstransport dienen, verfügen dabei ebenso wie „ihre“ Kapitalisten über zwei schlechte Antworten – denen sie, aus linker Perspektive, lieber ihre Zustimmung verweigern müssten.

Als erste Option können sie sich die aus Kreisen der Transportunternehmer kommende Forderung zu eigen machen, die Besatzungen auf den Schiffen müssten tunlichst bewaffnet werden, um den Angriffen von Piraten (unter Einsatz von Waffengewalt) widerstehen zu können. Neben Matrosen würden die Angehörigen der Schiffsbesatzungen dann gleichzeitig auch zu Quasi-Soldaten, oder eher, zu Mitgliedern einer privaten Miliz für die Interessen der Unternehmer. Doppelte Berufstätigkeit, wesentlich erhöhtes Risiko für die Lohnabhängigen – das kann in ihrem Interesse nicht liegen. Aber nur scheinbar eine Alternative dazu bietet die andere schlechte Option: die verstärkte Begleitung der Schiffe durch „richtige“ Soldaten, also in Wirklichkeit die Militarisierung des Transports auf den Meeren. Auch dadurch erhöht sich das Risiko für die Lohnabhängigen enorm, da sie dadurch wiederum zu potenziellen Zielscheiben mitten auf einem Kriegsschauplatz würden. Die Fantasie der deutschen Gewerkschaftsbürokratien freilich scheint bislang zwischen den beiden o.g. schlechten Alternativoptionen hin- & her zu schaukeln, mit einiger Verlogenheit bzw. verschämtem Eintreten für militärische Optionen nur hinter vorgehaltener Hand. (Vgl. http://labournet.de/krieg/piraten.html  und näher: http://labournet.de/krieg/piraten_verdi.html )

Einen dritten Standpunkt hingegen könnte man problemlos vertreten: Das Transportrisiko trägt erst einmal (grundsätzlich & allein) der „Arbeitgeber“, für den eventuelle Piratenforderungen auf Dauer ohnehin unter Versicherungsschäden verbucht werden. Die Lohnabhängigen auf den Schiffen haben ihr Leib & Leben dafür nicht zu riskieren, weder durch ihre eigene Bewaffnung – und dadurch drohende Verwicklung in Kämpfe – noch durch eine Militarisierung der Transporte, welche die Transportschiffe ebenfalls zu Kampfschauplätzen zu machen droht. Werden Lohnabhängige unfreiwillig in die Aktivitäten von Piraten einbezogen, so muss aus Sicht einer progressiven Arbeiterorganisation gelten: Der Transportunternehmer hat dafür zu sorgen, dass sich ihr dann drohender Zwangsurlaub eben so wenig unangenehm wie irgend möglich gestaltet – und in den Verhandlungen entsprechende Mittel auf den Tisch zu legen, um die Garantie zu erhalten, dass die von Piraten festgehaltenen Lohnabhängigen anständig ernährt und korrekt behandelt werden. Alle anderen Risiken trägt der Kapitalist. Ansonsten gilt das Motto: „Haltet unseren Kopf und Kragen da ’raus!“ Denn: Unsere Leben sind mehr wert, als Euer kapitalistischer Welthandel... (dessen reibungslose Abwicklung unsere Sache ohnehin nicht ist).

 

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.

Überarbeitete Langfassung eines Artikels, dessen gekürzte Version gestern in der Berliner Wochenzeitung ,Jungle World’ erschien – im Rahmen eines mehrere Seiten umfassenden Titelthemas, das u.a. auch eine Reportage vom Prozessauftakt zum ersten „Piratenprozess“ gegen junge, z.T. minderjährige Somalier in Hamburg enthält. (Vgl. hier http://jungle-world.com/artikel/2010/48/42195.html  und hier http://jungle-world.com/inhalt/  ) Unbedingt lesen!