Der Wahnsinn der Normalität- und warum Dogmen nicht weiterhelfen
Zum Umgang mit Psychiatriebetroffenen in dieser Gesellschaft

von Anne Seeck

12/10

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Ernst Toller

Gläubig wie die Massen
wird er Kriegsfreiwilliger
der Krieg macht ihn zum Pazifisten
als Streikführer wird er verhaftet
Landesverrat Militärgefängnis
die Mutter glaubt er sei krank
ein Mensch aus bürgerlicher Familie
wendet sich Arbeitern zu
das bringt ihn 4 Tage ins Irrenhaus
wo er lernt:
die Harmlosen heißen Irre
und die Gefährlichen dürfen
die Harmlosen einsperren

In einer kranken Gesellschaft ist jeder krank, der so tut, als sei er gesund.  

Diese Gesellschaft ist hochgradig pathologisch.  

Dieser Artikel richtet sich an Menschen, die selbst oder über Freunde, Bekannte, Angehörige mit dem psychiatrischen System zu tun haben. Aber auch an weitere am Thema Interessierte.

Erfahrungen mit dem psychiatrischen System begreife ich nicht als persönliches Schicksal, sondern als Massenzustand in dieser Gesellschaft. Aus Scham wird das aber kaum öffentlich gemacht. Daher sind die Betroffenen in dieser Gesellschaft ziemlich isoliert. Mir geht es aber um die kollektive Organisierung der Psychiatriebetroffenen.  

Ich sehe mich als kritische Psychiatriebetroffene und habe gleichzeitig Probleme mit der Betroffenenbewegung. Die Antipsychiatrie ist mir zu dogmatisch. Sie kritisiert Psychiatriebetroffene, die “krankheitseinsichtig” seien und zudem noch Psychopharmaka nehmen. Mit dieser “Opferhaltung” würden sie das System stabilisieren.

Dabei kann ich z.B. nur durch die medikamentöse Stabilisierung überhaupt politisch agieren und mich wehren. Weltweit sind eine Milliarde Menschen von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen, viele Menschen auf dieser Welt würden sich freuen, wenn sie Zugang zu (teuren) Medikamenten hätten. 

Ich sehe mich auch nicht als “Psychiatrieüberlebende”, in der Antipsychiatrie wird neuerdings dieser Begriff benutzt, m.E. ist das eine Verhöhnung der wirklich Überlebenden, z.B. der Opfer des Nationalsozialismus. Außerdem erkenne ich an, dass die Psychiatrie auch Leben rettet, und nehme Medikamente, weil sie mein Leben erleichtern, denn psychische Not kann totale Erschöpfung und ggf. den Tod bedeuten.  

Ich finde die Begriffe “Psychiatriebetroffene” oder “Psychiatrieerfahrene” akzeptabel. Ernst von Kardorff schreibt: “Die Selbstbeschreibung Betroffener als Psychiatrieerfahrene stellt die Bedeutung des subjektiven Erlebens von Diskriminierung im psychiatrischen Versorgungssystem heraus und fokussiert auf die mangelnde Berücksichtigung eigener Erfahrungen und Expertise, auf die Missachtung von Wünschen und die Verletzung persönlicher Würde und Integrität.” (Ernst von Kardorff, S. 281)  

Mir geht es um Autonomie und Selbstbestimmung. Deshalb möchte ich mich auch nicht von der Antipsychiatrie bevormunden lassen, denn auch die Antipsychiatrie sollte andersdenkende Psychiatriebetroffene respektieren. Dabei geht es natürlich um gegenseitigen Respekt, denn Menschen sollen die Wahl haben, ob sie Medikamente nehmen oder nicht, solange sie sich nicht selbst oder andere töten. Unterschiedliche Menschen machen unterschiedliche Erfahrungen und haben unterschiedliche Bewältigungsstrategien. Das ist zu berücksichtigen. Ich persönlich ziehe die Freiheitsberaubung in der Psychiatrie der unter “normalen” Umständen ungewollten Selbsttötung vor. Internationale Betroffenenverbände würden mich nicht als Überlebende (survivors), sondern als Nutzerin (users) der Psychiatrie bezeichnen. Ich versuche aber, mich vom psychiatrischen System fernzuhalten, die Konsequenz meiner Erfahrungen.  

Denn ich habe viel Kritik am psychiatrischen System. 

Die Antipsychiatrie leistet natürlich einen wichtigen Beitrag zur Kritik an der Psychiatrie. Natürlich sind Zwangsbehandlungen und Zwangseinweisungen belastend. Natürlich kann eine Krankheitsdiagnose stigmatisierend und entmündigend sein. Natürlich haben Psychopharmaka Nebenwirkungen, bei Neuroleptika z.B. Fettleibigkeit, Blutbildschäden und Herz- und Kreislaufstörungen. Und natürlich verdient die Pharmaindustrie kräftig mit. Und natürlich sind Elektroschocks entschieden abzulehnen. Die Antipsychiatrie macht sich zum Vertreter der “Krankheitsuneinsichtigen”, die mit Zwangsmaßnahmen konfrontiert sind, weil sie die Einnahme von Psychopharmaka verweigern. Diese brauchen unbedingt eine Lobby, die ihre Interessen vertritt.  

Was ist aber mit den anderen, die nicht ständig mit der Zwangspsychiatrie zu tun haben, die brav ihre Medikamente nehmen und trotzdem keinen Fuß auf den Boden bekommen. 

Brauchen die keine Interessenvertretung?  

1.   Auch viele “Krankheitseinsichtige” werden ausgegrenzt und leben in Armut. Das Wort “Armut” kommt in dem über 400seitigen Buch “Statt Psychiatrie 2” fast nicht vor, allein das ist erschütternd angesichts der sozialen Lage vieler Psychiatriebetroffener. Auf der Geburtstagsfeier zu 30 Jahren Irrenoffensive erwähnte Rene Talbot: “Wir sind alle arm oder sind arm gemacht worden.” Die Psychiatriebetroffenen haben mit den sozialen Konsequenzen zu kämpfen. Wie sieht es mit der “Integration” der Psychiatriebetroffenen in die Arbeitswelt aus? Wie ist die soziale Absicherung? Das sind Fragen, die viele Psychiatriebetroffene beschäftigen. Sie sind vor allem mit struktureller Diskriminierung in der Arbeitswelt und im Versorgungssystem konfrontiert. Benachteilung führt oft zu Abstiegskarrieren. In dem Sammelband “Statt Psychiatrie 2” wird zwar ausgiebig erörtert, wie man die Psychiatrie vermeidet und es werden antipsychiatrische Projekte vorgestellt, es findet sich aber nichts dazu, wie man draußen sein Leben gestaltet, wenn man ausgegrenzt ist. Wer draußen keinen Sinn im Leben sieht, wird zwangsläufig immer wieder in der Psychiatrie landen.

2.   Auch die “Krankheitseinsichtigen” sind mit der gesellschaftlichen Stigmatisierung und Tabuisierung konfrontiert. Psychiatriebetroffene werden etikettiert, ihre Menschenwürde und Grundrechte werden verletzt. Sie geraten in eine “Kommunikationsfalle, denn alle ihre Lebensäußerungen werden mit dem Wissen um ihre Krankheit, Behinderung oder anderweitige Abweichung wahrgenommen, so dass die Betroffenen ein beständiges Stigmamanagement, vor allem Informationskontrolle gegenüber den ‘Wissenden’, betreiben müssen.” (Ernst von Kardorff, S.283) Das Schlimmste ist aber, dass überhaupt nicht darüber geredet wird. Es herrscht ein Schweigen in der Gesellschaft, insbesondere in der Psychiatrie. Vor allem die unangepassten Psychiatriebetroffenen werden zum Schweigen gebracht. Ver-rückte stören. “Der Wahnsinnige muss von der Gesellschaft isoliert und ggf. auch mit Zwang in die Welt der Vernünftigen zurückgeholt werden.” (Ernst von Kardoff, S. 280f.) Da er “psychisch krank” ist, muß er normalisiert werden und wird einem rigiden Behandlungsregime überlassen. Oftmals herrscht auch ein Klima der Angst gegenüber den auffälligen Psychiatriebetroffenen, die schließlich in die Abwehr führt. Da die Ver-rückten anders seien, müßten sie auch besonders behandelt werden. Ver-rückte haben mit Vorurteilen zu kämpfen. Sie gelten als gefährlich, unberechenbar, unzuverlässig und unverständlich, seien weniger belastbar und bedürften besonderer Aufmerksamkeit. Die Betroffenen wiederum müssen ständig auf der Hut sein, dabei wird aber auch innerhalb der Betroffenengruppe unterschieden. Erschöpfungszustände mit einer depressiven Verstimmung seien Zeichen der Zeit und Folge von Stress, sie werden oft verharmlost. Psychotiker und Schizophrene seien dagegen “arme Irre”, die am stärksten mit Vorurteilen, Wohnungslosigkeit, sozialem Abstieg konfrontiert sind. Oft zeigten sie recht auffälliges Verhalten, hätten viele Klinikaufenthalte und lange Abstiegskarrieren hinter sich. “30% einer repräsentativ befragten Bevölkerungsstichprobe würden die Zusammenarbeit mit einer schizophrenen Person ablehnen...und 50% einer Stichprobe befragter Arbeitgeber in den USA würden niemanden mit einer schweren psychischen Erkrankung beschäftigen.” (Ernst von Kardoff, S. 291) Viele Psychiatriebetroffene verheimlichen daher ihre Erkrankung gegenüber dem Arbeitgeber und den Arbeitskollegen. Nicht die Diagnose verleumdet die Psychiatriebetroffenen, sondern die Gesellschaft und deren Menschen. “... auch eine sensibilisierende und zuweilen der political correctness verhaftete Sprachpolitik (“es ist normal, verschieden zu sein”) hebt die grundsätzlichen Mechanismen von Stigmatisierung und Diskriminierung nicht auf, wenngleich sie eine Sensibilisierung und erneute Thematisierung festgefahrener Bilder erreichen kann.” (Ernst von Kardorff, S. 284) Stigmatisierung ist strukturelle Gewalt. “Es ist gerade die Erfahrung des schleichenden sozialen Ausschlusses, die Festlegung auf eine Sonderrolle, das Erleben, nicht ganz ernst genommen zu werden oder lästig zu fallen, der besorgte Blick, das bedauernde Achselzucken, ausweichende Antworten oder beständige Absagen bei Bewerbungen, die zum Verlust des Selbstwertgefühls, zu Beschämung, zu sozialen Kontaktängsten, zum Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, zu Sinnverlust und Resignation, aber auch zu Verbitterung und Wut führen können.” (Ernst von Kardorff, S.286) Psychiatriebetroffene erleiden handfeste Benachteiligungen bei der Jobvermittlung und Wohnungsversuche, im Kontakt mit Behörden, Banken und im Versorgungssystem. Entscheidend ist doch nicht die Diagnose, wie die Antipsychiatrie meint, sondern der gesellschaftliche Umgang mit den Psychiatriebetroffenen.

3.   Hier setzt ein weiteres Problem ein. Die gesellschaftlichen Ursachen der psychischen Probleme werden immer weniger wahrgenommen, von einigen Ausnahmen abgesehen, so in dem Buch “Das erschöpfte Selbst” von Alain Ehrenberg und TK-Studien, die die Zunahme der psychischen Erkrankungen auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zurückführen. Um die Ursachen zu begreifen, sind die Biographie, die Lebenssituation und die Lebensereignisse wichtig. Die gegenläufige Tendenz ist die zunehmende Bedeutsamkeit der Neurobiologie und der Genetik. Selbst die Eugenik wird wieder hervorgekramt, so von Sarrazin. Wir leben in Zeiten eines zunehmenden Sozialdarwinismus, der die Gesellschaft in Leistungsträger und Kostenfaktoren aufspaltet. Psychiatriebetroffene sind nach dieser Logik zumeist “Kostenfaktoren”.

4.   Und auch die “Krankheitseinsichtigen” sind mit der Normalitätsdefinition konfrontiert. Dabei verschieben sich die Grenzen zwischen Normalität und Verrücktheit. Was früher als verrückt galt, z.B. lange Haare, Punks, Homosexuelle, Transgender etc., wird zunehmend normal. Trotzdem soll auch heute noch Verrücktheit unsichtbar gemacht werden. Zwar hat die Toleranz seit 68 gegenüber ungewöhnlichen Verhaltensweisen zugenommen, Psychiatriebetroffene bekommen aber immer noch Intoleranz zu spüren, denn es gibt Grenzen. Unangepasste Zeitgenossen landen dann in der Psychiatrie. “Schrille” Verhaltensweisen werden zwar zunehmend toleriert, wenn sie cool sind, “gewöhnlichen” Ver-rückten nutzt das aber nichts, sie können mit Gleichgültigkeit rechnen.

5.   Die Psychiatrie ist ein Sammelbecken für menschliches Leiden und hat eine Ordnungsfunktion. Die Psychiatrieinsassen sollen sich anpassen, Regeln und Vorschriften der Experten befolgen. Mit ihrem Herrschaftswissen reduzieren die “Experten” die Patienten zu Objekten. Die Psychiatrie entmündigt und verletzt Persönlichkeitsrechte. Die “Patienten” werden in einem gesprächsarmen Klima medikamentös ruhiggestellt. Auch viele “Krankheitseinsichtige” beklagen den Gesprächsmangel. So wird z.B. weder über Psychose-Inhalte, die auslösende Lebenskrise noch über Sinnzusammenhänge gesprochen. Schluck die Tabletten und damit Basta!

Was beinhaltet nun im wesentlichen die Antipsychiatrie?

1.   Die Antipsychiatrie lehnt eine psychiatrische Diagnose und den Krankheitsbegriff ab

2.   Die Antipsychiatrie lehnt Psychopharmaka ab.

3.   Die Antipsychiatrie lehnt die Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung ab.

 

1. Die Diagnose und der Krankheitsbegriff: 

Für die Antipsychiatrie gibt es keine psychische Erkrankung, sie vertritt damit einzig die Krankheitsuneinsichtigen. Was ist aber mit jenen, die krankheitseinsichtig sind.

So wie es Krebs, Alzheimer, MS, Parkinson, Aids gibt, so existieren m. E. auch Psychosen, Neurosen, Phobien, Eßstörungen und vieles mehr.

Die Psychiatrie hat allerdings im Gegensatz zur Körpermedizin ein Problem, sie kann nur wenige objektive Befunde erheben.

Für Kate Millett, selbst betroffen, ist die psychische Krankheit ein Phantom. Es gäbe in der Psychologie kein Verfahren, mit dem man Krankheiten nachweisen könne. Entscheidend sei nur das Verhalten. Verhalten als Indiz für eine Krankheit sei allerdings kein objektiver Tatbestand. Verhalten sei eine “Sache von Beobachtung und Interpretation...Kurz gesagt, was für den einen Menschen verrückt ist, ist für den anderen erklärbar, ja sogar vernünftig....Das Urteil hängt davon ab, wer beobachtet, mehr noch von der Haltung, die der Beobachtung zugrunde liegt...Eine Person, die der psychischen Krankheit überführt wurde, existiert rechtlich nicht mehr, ihr selbständiger Status und ihre persönliche Identität sind ausgelöscht.” (Lehmann, Stastny, S. 31f.)

Die Ärzte sind außerdem auf die Berichte der Betroffenen angewiesen. Die psychiatrische Diagnose hängt stark von der Wahrnehmung der Untersucher ab, zudem haben sie ihre gelernten Einordnungsschemata. Es gibt eine internationale Klassifikation psychischer Störungen. Im Jahre 1992 wurde das ICD-10, ein weltweit standardisiertes Klassifizierungssystem, eingeführt.  Für die ”paranoide Schizophrenie” finden sich dort z.B. folgende Symptome: Verfolgungswahn, Sendungswahn; Stimmen, die den Betroffenen bedrohen oder ihm Befehle geben, akustische Halluzinationen, Geruchs- und Geschmackshalluzinationen u.a.

Die Ärzte brauchen das Etikett, um ihre Maßnahmen einleiten zu können. Dabei geht es vor allem darum, auffälliges und abweichendes Verhalten zu beseitigen. Und hier setzt das Problem an, denn wenn sie das Etikett haben, verordnen sie Medikamente und verzichten auf weitergehende Gespräche. Sie fragen nicht weiter nach, was die Ursachen sind, was man z.B. in der Psychose erlebt hat, ob man in der Psychose nicht auch eine Bereicherung erfahren hat, ob die Psychose ein Ausweg war usw.

Der Patient ist nun als ”psychisch krank” abgestempelt und damit basta. Der ”psychisch Kranke” ist kein vollwertiger Mensch mehr, Gespräche sind sinnlos. Ein weiteres Problem setzt jetzt ein, die Tabuisierung bzw. gesellschaftliche Ächtung des ”psychisch Kranken”. So werden Psychiatriebetroffene oft als gefährlich eingestuft. Beispiele waren die Attentäter von Schäuble und Lafontaine. Also gab es z.B. eine Anwohnerinitiative, die gegen das ”Weglaufhaus” in Berlin protestierte. Wie auch an vielen anderen Orten, wenn psychiatrische Anstalten entstehen sollen. (angstmachende Flugblätter, Schmierereien an den Wänden, negative Medienberichterstattung) Foucault hat betont, dass die Klassifizierung von Individuen als psychisch krank und der jeweilige Umgang in Prozeduren der Macht gründe, insbesondere der Ausschließung und Verdrängung der als krank klassifizierten Subjekte aus dem gesellschaftlichen Diskurs.

Die Antipsychiatrie vertritt jene, die krankheitsuneinsichtig sind, damit aber nur einen Teil der Psychiatriebetroffenen. Es geht aber darum, einen anderen gesellschaftlichen Umgang mit Psychiatriebetroffenen zu erkämpfen. Das kann nur gelingen, wenn die aktiven Betroffenen aus ihrem dogmatischen Ghetto herauskommen, und auch die Befindlichkeiten der anderen Betroffenen wahrnehmen. Und selbst in der Linken wird das Thema weitgehend tabuisiert. Zunächst gilt es hier anzusetzen.

Die Antipsychiatrie macht es sich zu einfach. Sie sagt: Es gibt keine psychische Erkrankung und basta. Das löst viele Probleme jedoch nicht. Wer sich nun mal krank fühlt, weil er wirklich krank ist. Was soll diese Verleugnung, die der ”Verleumdung” der Psychiater entgegengesetzt wird. Und wer zum Beispiel eine Kostenübernahme möchte, kann nicht einfach sagen, ich bin nicht krank. Das kann bei Wohnungsfragen wichtig sein, bei der Eingliederungshilfe für Behinderte, bei der Teilhabe am Arbeitsleben, Verrentung usw. “Der Begriff seelisch Behinderte macht die amtlich festgestellte Beeinträchtigung zur Voraussetzung sozialrechtlicher Leistungsgewährung.” (Ernst von Kardorff, S.280f.)  

So hat man als Schwerbehinderter einige Vergünstigungen. Wenn man denn schon mal mit einer Diagnose etikettiert ist, kann man auch einen Schwerbehindertenausweis beantragen. 

Feststellung des Grades der Behinderung vom Versorgungsamt 

Dazu bedarf es der Feststellung einer Behinderung. Bei den seelischen Störungen sieht der Katalog wie folgt aus: 

cF00 – F09 = Organische, einschl. symptomatischer psychischer Störungen

• F10 – F19 = Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

• F20 – F29 = Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

• F30 – F39 = Affektive Störungen

• F40 – F48 = Neurotische Belastungs- und somatoforme Störungen

• F50 – F59 = Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren

• F60 – F69 = Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

• F80 – F89 = Entwicklungsstörungen

• F90 – F98 = Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

• F99 = Nicht näher bezeichnete psychische Störungen 

Ein zusätzliches G ist besonders günstig, nicht wenige sind schon mal gesprungen. Das macht sich ”gut” in Sachen Mobilität. Zudem ist eine Behinderung nicht schlecht für Menschen, die sich eine Auszeit nehmen wollen...

Im Antrag hat man dann über die Behinderungen/ Leiden, Beschwerden, Medikamente und Hilfsmittel, untersuchende Stellen in letzten drei Jahren; ärztliche Behandlung, Krankenhausbehandlung und Kurbehandlung/Reha- Behandlung in den letzten drei Jahren,

Angaben über frühere Feststellungen zu berichten. Dabei ist das Versorgungsamt ”natürlich” berechtigt, von den behandelnden Ärzten, Psychologen, Krankenanstalten, Renten-, Kranken-, Pflege- und Unfallversicherungsträgern, medizinischen Stellen und vom Antragsteller genannte Stellen, Einrichtungen und Behörden die ”die notwendigen Auskünfte und Unterlagen, auch soweit sie von anderen Ärzten und Stellen erstellt sind” anzufordern. In der Einwilligungserklärung heißt es: ”Ich stimme der Verwertung der Auskünfte und Unterlagen in diesem Verwaltungsverfahren ausdrücklich zu und entbinde die beteiligten Personen und Stellen insoweit von ihrer Schweigepflicht. Ich bin ferner damit einverstanden, dass die von mir genannten behandelnden Ärzte im Zusammenhang mit einer Anforderung von ärztlichen Unterlagen von dem/den geltend gemachten Antragsleiden Kenntnis erhalten.”

Falls das immer noch nicht reicht, ist nochmals ein ärztliches Gutachten notwendig.

Man fragt sich hierbei auch, wie Leute aus der antipsychiatrischen Szene Erwerbsunfähigkeitsrenten beziehen können, wenn sie nicht krank sind. Das ist doch nur Verbalradikalismus. Die psychiatrische Diagnose ist jetzt nämlich ein ständiger Begleiter. 

Die Rente ist ein Ausweg, wenn man seine Ruhe haben möchte. Auch dafür braucht man eine psychiatrische Diagnose.  

Die Frühberentung 

Auch wenn Menschen sich außerhalb der Lohnarbeit Betätigung suchen, so brauchen sie eine finanzielle Absicherung. Psychiatriebetroffene haben oftmals ein geringes Einkommen, viele haben auch kaum oder keine Versicherungsansprüche erworben. So müssen sie Grundsicherung (können weniger als drei Stunden täglich arbeiten) bzw. Arbeitslosengeld II (können mehr als drei Stunden täglich arbeiten) beziehen. Rente wegen Erwerbsminderung bekommt man nur, wenn man mindestens fünf Jahre Beiträge gezahlt hat und die Beitragszeiten nicht zu lange zurückliegen. Die Frührente ist oftmals sehr gering,  hinzuverdienen kann man nur wenig. 

Auch da hat sich einiges geändert. Bis 2000 gab es die Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente). Heute heißt es Erwerbsminderungsrente.

Jetzt (teilweise) tritt Erwerbsminderung erst ein, wenn das Leistungsvermögen für alle Tätigkeiten auf weniger als sechs Stunden pro Tag herab gesunken ist. Die volle Erwerbsminderungsrente tritt bei der teilweisen Erwerbsminderungsrente auch dann ein, wenn der Erwerbsgeminderte als nicht mehr vermittelbar gilt. Dies ist der Fall, wenn dieser nicht nach 6 Monaten vermittelt werden konnte. Die Höhe ist von den früher gezahlten Beiträgen abhängig, aber bis zu 10,8 % geringer als die Altersrente. Etwa 17 % aller Rentner beginnen das Rentnerdasein mit einer Erwerbsminderungsrente, 90 % von ihnen wegen voller Erwerbsminderung. 

“Seit 1985 hat sich der Anteil psychischer Krankheiten/Störungen an den Frühberentungen fast verdreifacht...Psychische Krankheiten sind mittlerweile zu einer der häufigsten Ursachen von Erwerbsunfähigkeit geworden.

In der Gruppe der unter 40-jährigen Männer machte im Jahr 2002 der Anteil der psychisch Erkrankten 46,2% (1993:32,3%) aller Frühberentungen aus. In der gleichen Altersgruppe der Frauen sind es 45,2% (1993:30,5%) ....Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen zeigen zudem die prozentual höchste Zuwachsrate an allen Erkrankungen. Im Jahre 2003 standen psychische Erkrankungen bei Männern mit 24,5% und bei Frauen mit 35,5% bereits an erster Stelle der Gründe für vorzeitigen Rentenzugang.” (Ernst von Kardorff, S.291)  

Für Ältere bedeutet die Frühverrentung oft eine Entlastung, da sie keine Eingliederungschance mehr haben. Bei Jüngeren wird das aber z.B. vom Arbeitgeber auch nahegelegt, um sich Reha-Maßnahmen zu sparen. Viele, die z.B. Endlos-Rehaschleifen durchlaufen haben, ziehen aber auch eine Verrentung freiwillig vor.  

Viele Psychiatriebetroffene bekommen erst gar keine oder kaum EU-Rente, weil sie nicht die Anrechnungszeiten vorweisen können. Sie sind auf Grundsicherung angewiesen und haben mit dem Kontrollapparat des Grundsicherungsamtes zu tun. Das Problem ist zudem kaum thematisiert. Organisierung wie gegen Hartz IV gibt es wohl nicht. 

Wer die Rente anstrebt, kann sich an den VdK wenden: Interessenvertreter für Behinderte und Renter ist der Sozialverband VdK: http://www.vdk.de

(Allerdings Vorsicht, wenn der VdK und die Unabhängige Patientenberatung meinen, es sei nicht weiter schlimm, eine Schweigepflichtentbindung zu unterschreiben.) 

2. Die Psychopharmaka: 

Wenn also eine Diagnose erstellt ist, folgt oftmals eine medikamentöse Behandlung.

Die Antipsychiatrie kämpft gegen die Einnahme und für das Absetzen von Medikamenten. 

In der Psychiatrie spielen Medikamente dagegen eine große Rolle. Wenn man in die Vergangenheit sieht, weiß man auch warum. Verrückte wurden auf Narrenschiffen und in Arbeitshäusern untergebracht. Im 19. Jahrhundert eröffneten dann psychiatrische Krankenhäuser, die mittels Zwangsmaßnahmen die Betroffenen züchtigten. Zum Beispiel in einem Zwangsstuhl oder mit einer Zwangsjacke/Zwangsriemen. Oder man hakte sie mit einem Seil an der Zellendecke fest. In den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts führte man dann die Schocktherapien (Insulin, Elektro) ein. Im Nationalsozialismus wurden die ”psychisch Kranken” sterilisiert oder als lebensunwertes Leben vernichtet. (Euthanasie) Auch die anschließende Psychiatrie in der BRD und DDR war katastrophal. Als 1953 die Neuroleptika eingeführt wurden, war das m.E. ein Fortschritt im Hinblick auf die Vergangenheit.

Allerdings hatten die Medikamente starke Nebenwirkungen, die zusammen mit den noch vorhandenen Zuständen in der Verwahrpsychiatrie zur Entstehung der Antipsychiatrie führten. Starke Medikamente wie Haloperidol haben auch starke Nebenwirkungen, wer aber geringe Dosen leichterer Neuroleptika nimmt, wird kaum bzw. überhaupt keine Nebenwirkungen spüren. Trotzdem gibt es welche, sie sind nur anders. Wer über Nebenwirkungen Auskunft haben möchte, lese Bücher von Peter Lehmann. (http://www.antipsychiatrieverlag.de/)

Allerdings: Warum Betroffene immer so stark dosiert sind, liegt doch auch daran, dass sie die Medikamente ständig absetzen, weil sie sich unwohl fühlen. Genau das ist der Drehtüreffekt in der Psychiatrie. Rein- Medikamente- Raus- Absetzen- Rein- Medikamente - Raus- Absetzen...etc. Das kann man beliebig fortführen. Und jeder Mensch und jede Krankheit ist verschieden. Es gibt chronische Erkrankungen, die bedürfen wahrscheinlich der medikamentösen Behandlung. Und es gibt leichte psychische Störungen, die bedürfen keiner Medikamente. Nach einer Statistik der Betriebskrankenkassen aus dem Jahr 2009 hat sich die Zahl der Verordnungen von Psychopharmaka in den vergangenen drei Jahren verdoppelt. So hat sich das Volumen der verordneten Antidepressiva laut TK in den letzten zehn Jahren bei Frauen nahezu verdoppelt. Arbeitslose Frauen erhalten wiederum doppelt so viele Antidepressiva wie berufstätige Frauen, bei arbeitslosen Männern sind es 200% mehr als bei Berufstätigen. Immer mehr Menschen schlucken Psychopharmaka. In den USA wird sogar im Fernsehen für Antidepressiva geworben. Natürlich verdienen die Ärzte und die Pharmaindustrie kräftig an dem Geschäft mit, dagegen muß man ankämpfen. Wir müssen uns gegen die Pharmalobby wehren.

Aber es gibt Menschen, die erfüllen die Kriterien der Selbst- und Fremdgefährdung, wenn sie die Medikamente absetzen. Die brauchen Medikamente. Und es gibt Menschen, die stehen ihre psychischen Krisen ohne Medikamente durch, ohne sich oder anderen was antun. Sowohl das psychiatrische als auch das antipsychiatrische System sollten die Bedürfnisse der Betroffenen achten. Es geht um deren Selbstbestimmung auch bei der Medikamenteneinnahme. Wenn jemand Medikamente nehmen möchte, weil er/sie z.B. Angst vor einem weiteren psychotischen Schub hat, dann ist das zu akzeptieren. Und wenn jemand das nicht möchte, und die Krise unbeschadet durchsteht, dann ist das auch zu akzeptieren.  

Was ist denn die Alternative?  

Die Psychotherapie.

Drei Therapieformen werden nur von der Krankenkasse bezahlt: Psychoanalyse, Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie. 

Bei der Therapeutin lauern wieder Fragebögen und die Datensammelwut:

Wer hat Sie zur Entscheidung für Psychotherapie beinflußt?

   Warum sind Sie gerade jetzt gekommen?

   Warum gerade Verhaltenstherapie?

   Listen Sie unter Angabe von Zeitdaten ihre Krankheitsgeschichte auf!

   Schildern sie ihre kritischen Lebenssituationen und psychischen Belastungen!

   Alter, Beruf, Persönlichkeitsmerkmale, Krankheiten, Verhältnis bei Vater, Mutter, Geschwistern, Familienatmosphäre, Konfliktthemen, Freizeitgestaltung

   Was war in der Kindheit und Jugend prägend?

   Waren sie als Kind/Teenager selbstbewußt oder schüchtern gehemmt? Welche Interessen? Langeweile? Freundschaften? Einsamkeit?

   Gab es wichtige Umzüge? Was war damit verbunden?

   Schule: Abschlüsse, Motivation, Erfolg, Rolle der Klassengemeinschaft

   Berufsabschlüsse, Zufriedenheit mit Berufswahl? Was ist der Traumberuf?

   Arbeitsstunden: Wieviel Stunden wöchentlich? Was machen Sie konkret? Verhältnis zu Arbeitskollegen?

Auflistung erwähnenswerter Krankheiten früher und heute (zeitliche Verlaufsdaten), Kur- und Klinikaufenthalte

   Beziehung: verheiratet? Partner: Alter, Schulbildung, gesundheitliche Probleme?, Eigenschaften, gemeinsame Interessen, Rollenverteilung, Streit? Was sollte anders sein?

   Kinder: Alter, Schule/Beruf, Probleme?

   Wieviel Freizeit, Interessen und Hobbys, Freunde? Bekannte? Wenige? Viele? Wie oft Kontakt? Was machen Sie mit ihnen?

   Wo sollte ihrer Meinung nach der Schwerpunkt der Therapie liegen?

Da Psychiatriebetroffene oft relativ isoliert sind und damit auch keine guten Gesprächspartner haben, verdienen die Psychologen gut an ihnen. In einer individualisierten Gesellschaft mit zunehmendem Streß, nehmen die ”psychischen Erkrankungen” zu. Es gibt 40 Prozent mehr psychisch bedingte Krankschreibungen als vor zehn Jahren, das hänge z.B. mit der ständigen Erreichbarkeit zusammen, also der Entgrenzung der Arbeit. Alain Ehrenberg spricht vom ”erschöpften Selbst” in einer Zeit, da die Depressionen zunehmen. Die Psychotherapeuten haben also auch genug Arbeit.

Wer eine prekäre finanzielle Situation hat und unter der Perspektivlosigkeit leidet, dem können die Therapeuten nicht weiterhelfen. Die Psychotherapie ist zudem auf die Mittelschicht zugeschnitten, die Therapeuten gehören selbst der Mittelschicht an. Wer sich sprachlich nicht entsprechend ausdrücken kann und aufgrund der Milieuunterschiede das Einfühlungsvermögen der Therapeuten bezweifelt, auch dem wird die Therapie nicht sehr weiterhelfen.  

3. Der Zwang: 

Wenn Betroffene unfreiwillig in der Psychiatrie landen, eine Diagnose bekommen und ihnen Selbst- und Fremdgefährdung attestiert wird, dann beginnt das Problem des Zwangs, wenn sie krankheitsuneinsichtig sind und keine Medikamente wollen.  

Die Antipsychiatrie wendet sich gegen Zwangsmaßnahmen, gegen die Zwangseinweisung oder gegen den Zwang zur Medikamenteneinnahme, letztlich gegen die Entmündigung.

Nachzulesen in vielen Büchern: http://www.antipsychiatrieverlag.de/

Ein solches Leben ist verdammt anstrengend, zumal für einen Psychotiker. Ständig mit Wahnvorstellungen zu leben, aufgrund der Auffälligkeit mit Abwertungen konfrontiert zu sein; von Ämtern, Nachbarn und Angehörigen in psychiatrischen Anstalten geschickt zu werden, aufgrund der Abhängigkeit zu verarmen, letztlich auf der Straße zu leben.

Wer das nicht möchte, nimmt Medikamente oder geht freiwillig in die Psychiatrie, wenn es wirklich nicht mehr weitergeht. Am besten ist es allerdings, sich vom psychiatrischen, auch vom sozialpsychiatrischen Versorgungsnetz fernzuhalten.  

Die Frage ist ”Wieviel Anderssein ist erlaubt?” Verrücktheit ist ein Weg, um aus einem unerträglicheren zu einem authentischen Leben zu gelangen, Es ist der Weg zu einem neuen Leben. Daher hat die Psychiatrie nur einen beschränkten Blick auf die ”Verrücktheit”.

Die Psychiatrie will die gesellschaftlichen Normen aufrechterhalten, die ”Verrückte” verletzen. Es gibt Menschen, die bringen sich wegen der Psychiatrie um.  

Aber auch bei der Antipsychiatrie wird es ggf. gefährlich, weil sie keine Grenzen ziehen will. Im Weglaufhaus in Berlin wurden ernsthaft folgende Fragen diskutiert: Gibt es eine Freiheit zum Tode? Ist Psychiatrie besser als der Tod? Ist sie es, die zur Selbsttötung treibt?

Die Freiheit zum Tode mag es für schwer leidende Menschen, die mit Hilfe von Maschinen am Leben gehalten werden, geben. Aber nicht für Psychiatriebetroffene, die mit Hilfe von Medikamenten aus ihrem Leiden befreit werden können. Ich denke da an Claus, der sich in der Psychose am Heizungsrohr erhängte. Ich denke an andere Psychotiker, die sich umbrachten oder im Rollstuhl sitzen. Diese Leute woll/ten leben. Es war der Wahn.

Wer sich selbst töten will, braucht Unterstützung. Wer andere gefährdet, muß betreut werden.

Es geht eben nicht nur um die Zustände in der Psychiatrie und um die Medikamente, es geht um das Leben draußen. Und dazu tragen weder das psychiatrische noch das antipsychiatrische System etwas bei.  

Kommen wir nun zu dem, was Psychiatriebetroffene draußen erleben können, denn draußen wartet die Sozialpsychiatrie. 

Die Sozialpsychiatrie 

Die Kritik an der Psychiatrie führte in den 1970er Jahren zur Psychiatriereform und schließlich zur Verdoppelung des psychiatrischen Systems.  

Mit der Psychiatrie-Enquete 1975 und der Psychiatriereform entstand die Sozialpsychiatrie, also ein umfassendes ambulantes Versorgungs- und Betreuungsnetz. Zu diesem gemeindenahen Bereich gehören u.a. der Sozialpsychiatrische Dienst, die Kontakt-und Beratungsstellen, das psychiatrische Ärztenetz und der Krisennotdienst. Sinn dieser gemeindenahen Psychiatrie sollte die Enthospitalisierung sein.

Fakt ist jedoch, daß die Nähe vor Ort immer mehr Menschen psychiatrisiert. Das Kontrollnetz wurde ausgebaut und Menschen werden so schneller auffällig. Die sozialpsychiatrischen Institutionen führen nicht zur Abschaffung der herkömmlichen Psychiatrie, sie verdoppeln lediglich das psychiatrische System.

Die Grünen erklärten 1984 in ihren ”Thesen zur Abschaffung und Überwindung der Psychiatrie” die Sozialpsychiatrie als Reformbewegung für gescheitert. ”Sie ist gescheitert, weil sie den Aufbau sozialpsychiatrischer Institutionen nie funktional mit dem Abbau der Anstaltspsychiatrie verbinden konnte. Das war aber ihr wichtigster Anspruch.

Das gegenwärtige Angebot von therapeutischen Wohngemeinschaften, sozialpsychiatrischen Diensten, Ambulanzen, Kriseninterventionen, Irrenhäusern und Pflegeheimen stellt ein System des Abschiebens und Hin-und- Herschiebens, der Selektion, kurz des Kreislaufs der Betroffenen dar, ganz gleich, ob der eine Teil in dem Bewußtsein arbeitet, die Einweisung in den anderen Teil der Institutionen zu verhindern...Die Anstaltpsychiatrie ist durch die Sozialpsychiatrie nicht geschwächt, sondern gestärkt worden...Wenn es z.B. in der Klinik eine imaginäre Warteschlange für Wohngemeinschaftsplätze gibt, erleichtert das die Disziplin. Sie ist systematisch gestärkt worden, weil sie nun inmitten einer Vielzahl sozialpsychiatrischer Institutionen mit ihrer Drehtür den Rhythmus des Kreislaufs der Betroffenen bestimmen kann...Das psychiatrische System hat an Gefährlichkeit zugenommen. Das heutige System ist flexibel, hochselektiv, undurchsichtig. Es funktioniert als Frühwarnsystem von Krisen, ohne daß es frühzeitig hilft...Die Abhängigkeit der Betroffenen wird nicht geringer, nur weil sie in die Hände von Leuten geraten, die alles daran setzen, daß sie nicht in die finstersten Ecken der Psychiatrie abgleiten.” 

Das Psychiatrienetz ist jetzt doppelt so stark. Und die ”Experten” wollen Geld verdienen. Wie die Armuts- und Beschäftigungsindustrie ist auch das eine ”Industrie”. Es gibt immer mehr Psychiatriebetroffene und immer mehr Versorgungseinrichtungen. 

Zum ambulanten psychiatrischen System gehören die Psychiater. Aufgrund der zunehmenden Anzahl von psychisch “Erkrankten” sind Psychiater oft überlastet. Termine bekommt man bei total ausgelasteten Ärzten erst in drei Monaten. Die Gespräche sind kurz, die Abfertigung schnell. Kompliziert wird es, wenn man doch mal Probleme hat. Dann steht der Arzt nicht zur Verfügung, weil er vollkommen überlastet ist.   

Zum gemeindepsychiatrischen System gehören Kontakt- und Beratungsstellen (KBS).

In Berlin gründete sich 1980 das KommRumm in Schöneberg, mittlerweile gibt es auch eines im Ostteil. Wem die Decke auf den Kopf fällt, alleine ist und zudem psychische Probleme hat, soll dort hinkommen. Sie bieten Hilfe bei der Bewältigung im Alltag. Beratung, Gespräche, Sport, Entspannung, Koch-, Traum-, Keramik- und Malgruppen. Gemeinsam gehen sie ins Kino oder zum Bowlen. Das mag zwar alles gut sein für Menschen, die sich sonst nicht selbst beschäftigen können, denen die Decke auf den Kopf fällt. Anderen, die z.B. etwas gegen das psychiatrische System tun und sich selbst organisieren wollen, ist das zu entmündigend und zu unpolitisch. Denn es sind Psychologen und Pädagogen als bezahlte Mitarbeiter, die das Sagen haben und nicht die Betroffenen selbst. Selbstorganisation ist etwas anderes. Auch in anderen sozialpsychiatrischen Einrichtungen ist das nicht besser. Aus dem sozialpsychiatrischen System werden also auch die kritischen Psychiatriebetroffenen ausgeschlossen. Psychiatriebetroffene, die z.B. die enorme Datensammelwut der staatlichen Behörden kritisieren.  

Wer in höchster Not in eine Tagesstätte möchte, hat es wieder mit sehr vielen Fragen zu tun. Man muß nämlich einen “Antrag zur Eingliederungshilfe für Behinderte” stellen.  

Im Handbuch ”Fallmanagement Eingliederungshilfe” findet sich folgendes Prozedere:  

Die Gestaltung und Umsetzung der individuellen Hilfen in der Eingliederungshilfe gliedert sich in fünf Handlungsschritte:

1.  Assessment und Hilfedokumentation ..

Eingangsgespräch .. Prüfung der sachlichen Zuständigkeit .. Prüfung der örtlichen Zuständigkeit ..Prüfung, ob eine Behinderung vorliegt .. Klärung des Einsatzes von Einkommen und Vermögen .. ggf. Anforderung von Gutachten .. Feststellung des ganzheitlichen und individuellen Hilfebedarfs .. Ziel- und Leistungsabstimmung mit dem Leistungsberechtigten .. ggf. Durchführung einer Hilfekonferenz .. Dokumentation des Assessment-Ergebnisses in einem Gesamtplan

2. Realisierung der Leistung .. Auswahl des Leistungsanbieters bzw. des trägerüber-greifenden Persönlichen Budgets (TPB) .. Bescheiderteilung / Kostenübernahme

3. Evaluation .. Abgleich und Überprüfung der Hilfe .. Zielüberprüfung mit dem Leistungsberechtigten .. Zielüberprüfung mit dem Leistungserbringer .. Anpassung und Fortschreibung der Ziele und Leistungen im Gesamtplan

4. Finanzierung .. Zahlungsmanagement .. Zielvereinbarung .. Ausgabendurchschnittssätze

5. Ergänzende Verfahrensschritte .. Widerspruch .. Klage .. Klagerecht der Verbände .. Statistik nach SGB IX

Bestandteile des Berliner Behandlungs- und Rehabilitationsplanes sind Angaben zur allgemeinen sozialen Situation und Angaben zu Ausbildung und Berufstätigkeit, Erkrankungsgeschichte, die medizinische Behandlung sowie ergänzende Angaben zur Biographie erfragt. Die Beschreibung der aktuellen Problemlage, ”Wünsche und Vorstellungen des Klienten” und ”Fähigkeiten, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen”.  Planung von Zielen und Vorgehen, die die Ziele umsetzen sollen. 

Neben der psychiatrischen Diagnose ist also die staatliche Datensammelwut ein ständiger Begleiter. Ein ständiger Begleiter ist auch, dass man für die Arbeitswelt wieder funktionsfähig gemacht werden soll.  

Nun komme ich zum Thema Arbeit für Psychiatriebetroffene. 

Das beginnt schon in der Psychiatrie, wo man Bekanntschaft mit der Ergotherapie macht. Zur Ergotherapie gehören Malen, Basteln, Töpfern, Seidenmalerei etc.. Es gibt auch Musik- und Bewegungstherapie. Jede/r Psychiatriebetroffene bekommt Tagespläne, die natürlich der Tagesstrukturierung dienen. Es soll eine Grundarbeitsfähigkeit hergestellt werden. Ziel ist die eigenständige Lebensführung.  

Wer dann in eine Tagesstätte geht, wird weiterhin damit konfrontiert. Hier geht es vor allem um die Tagesstrukturierung.

Zur Sozialpsychiatrie gehören die Tagesstätten für ”psychisch Kranke”. Ernst von Kardoff spricht von einer “müden Gemeinschaft” dieser “ambulanten Ghettos”.

Wenn man es denn in die Tagesstätte (siehe Eingliederungshilfe) geschafft hat, sieht der Tagesplan, der zur Tagesstrukturierung dienen soll,  dann so aus:

Montag 9 Uhr Ankommen, 9.20-10 Uhr Frühstück, 10.15-11.15 Uhr Ergotherapie/ offene Werkgruppe, Holzgruppe oder Musik- und Bewegungsgruppe. Noch mal das Gleiche von 11.30- 12.30 Uhr , 12.30-13.30 Uhr Mittagessen/Aufräumen, 13.45-15 Uhr Spiel- oder Rhythmusgruppe.

In der Woche sind dann noch im Angebot: Kontakt- und Konflikttraining, Arbeiten mit Papier, Pappe und Farbe, Keramikgruppe, Gestalttherapie und Wahrnehmung. Zwischen jeweils drei Angeboten darf man auswählen. Man muß sich natürlich nicht vorstellen, dass man bei der Musik ein Instrument lernt, nein man macht gemeinschaftlich Musik auf Kindergartenniveau. Wer zufällig Klavierspielen kann, hat Glück gehabt. Und wer ein begabter Maler ist, vielleicht auch. Aber die beiden könnten sich auch gut zu Hause beschäftigen. Und in die Fotogruppe ist auch kein Reinkommen. Es geht eben nicht nach individuellen Bedürfnissen, nach denen man auch nicht gefragt wird, sondern nach dem vorhandenen Angebot und freien Plätzen. Es geht um Pünktlichkeit, Anpassungsvermögen und Disziplin, um wieder für den Arbeitsmarkt wenigstens im Hinblick auf die protestantischen Arbeitstugenden fit gemacht zu werden. Wenn man die Maßnahme abbricht, werden einem ggf. die Fehlzeiten vorgelegt. Oh wie disziplinlos... 

Auch in der Medizinischen Rehabilitation hat man es mit Ergo- und Arbeitstherapie zu tun. Entscheidender ist aber der Kurbericht. 

Kur in einer Klinik für Psychosomatik und Sucht:

Die Klinik fertigt einen Kurbericht an. Hier ist Vorsicht geboten, was man erzählt. Die Biographie wird erfragt, nicht wundern, wenn einiges von den “Experten” verdreht wird.

z.B. Familiengeschichten. Vorsicht bei der Frage: Wieviel trinken sie? Haben sie schon mal Drogen genommen?

Bei einer falschen Antwort wird man schnell als Alkoholiker und Drogenabhängige abgestempelt. Also man trinkt nichts und hat noch nie gekifft. Ansonsten kann das Auswirkungen im weiterem Leben haben.

Berufliche Rehabilitation

Bei der Rentenversicherung kann man ”Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben” beantragen, wenn man z.B. eine Umschulung machen möchte.

Du mußt wieder zustimmen, dass der Rentenversicherungsträger alle Unterlagen von Ärzten und Einrichtungen, die du im Antrag angeben mußt, anfordert. Die medizinischen Daten können auch an andere Sozialleistungsträger, wie Krankenkasse, Agentur für Arbeit, Versorgungsamt weitergegeben werden.

Im Antrag wird folgendes erfragt: Schul- und Berufsausbildung, Umschulung, Lehrgänge, Fremdsprachenkenntnisse, Arbeitsplatzbeschreibung, Arbeitsunfähigkeit und gesundheitliche Probleme, Arztbehandlungen, Begutachtungen, Betriebs-/Personalarzt, Arbeitshaltung (z.B. stehend), Heben/Tragen, Arbeitsorganisation (z.B. Arbeitszeit, Schicht), äußere Einflüsse (Lärm), berufliches Kraftfahren, Sonstiges (z.B. Publikumsverkehr), Beschwerden (Warum kann man die Arbeit nicht mehr verrichten), wie kann die RV helfen

Als ”psychisch Kranke” mußt du dann erst mal eine EBA machen- eine ”Erweiterte Berufsfindung und Arbeitserprobung für psychisch beeinträchtige Erwachsene”.

Diese Maßnahme trittst du dann auch an, sie soll 6 Wochen dauern. Einen Vertrag gibt es nicht. In der Gemeinschaftsordnung des Berufsförderungswerkes steht: Die TeilnehmerInnen sind verpflichtet, ”regelmäßig und pünktlich teilzunehmen. Von Ihrer Mitarbeit ist letztlich auch Ihre erfolgreiche Teilnahme abhängig. Hierzu ist Ihre volle Aufmerksamkeit, insbesondere im Unterricht, erforderlich. Ein Konsum von Rauschmitteln (Alkohol, Cannabis/ Marihuana (Haschisch), anderen Halluzinogenen, Schlaf- und Beruhigungsmitteln, Tranquilizern, Opiaten, Kokain und Amphetaminen (z.B. Ecstasy) kann zur Veränderung der optischen Orientierung, der Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit sowie der körperlichen und geistigen Belastbarkeit führen. Deshalb ist während der Ausbildung, insbesondere während der Unterrichtszeit von 07:15 bis 16:45 Uhr, der Gebrauch von Rauschmitteln nicht gestattet. Sollten Sie außerhalb der Unterrichtszeit Rauschmittel zu sich nehmen, sind Sie dafür verantwortlich, dass Ihre uneingeschränkte Mitarbeit dadurch nicht beeinträchtigt wird.”

Menschen, die durch den Streß in der Arbeitswelt, ihr Umfeld und durch gesellschaftliche Ursachen krank geworden waren, sollen im Berufsförderungswerk wieder für den 1. Arbeitsmarkt fit gemacht bzw. zugerichtet werden. Die Ursachen der Krankheit, z.B. der 1. Arbeitsmarkt, werden natürlich nicht thematisiert. Du hast gehofft, hier seien sie rücksichtsvoller, aber das Gegenteil tritt ein.

Den ”psychisch Kranken” wird nichts mehr zugetraut und sie sollen sich beweisen. Alles wird jetzt benotet, zum Schluß wird ihnen dann anhand einer Punktzahl eine Note übergestülpt. Basta, das bist du wert. Tests, Tests, Tests heißt das Motto. Mathe, Rechtschreibung, PC-Kenntnisse, kaufmännisches Wissen, Freihandzeichnen, Gruppenarbeit und Präsentation, mechanisch-technischer Test, Tests zur räumlichen Vorstellung, Tests zur Konzentration und Merkfähigkeit. Bilden von Wortgruppen und Textverständnis mit vorgegebenen Denkstrukturen, nur eine Antwort ist richtig, Diskussionen oder gar Philosophieren nicht vorgesehen. Überhaupt psychologische Tests. Beim 2. Teil dieser Tests müssen 200 Aufgaben gelöst werden. Begleitend zu diesen Tests und Übungen wird Psycho- und Sozialklimbim durchgeführt. Fragebögen, in denen die ”psychisch Kranken” sich selbst analysieren sollen. Gruppengespräche, Einzelgespräche mit Sozialpädagogin, Psychologin und Psychiaterin. Mitten in den Übungen werden die Teilnehmer in die Psycho-Gespräche geholt. Getestet wird vor allem das Verhalten in Streßsituationen, permanent werden sie unter Zeitdruck gesetzt. Der Streß wird gesteigert, und es soll in den letzten Wochen noch schlimmer kommen. Es wird auf Pünktlichkeit geachtet, das Arbeitsverhalten und die Belastbarkeit beobachtet. Überhaupt fühlt man sich unter ständiger Beobachtung. Da das Selbstwertgefühl bei vielen ”psychisch Beeinträchtigten” oft im Keller ist, ist auffällig, dass die Betroffenen nicht aufgebaut und ihre Stärken bewußt gemacht werden, sondern dass sie hier klein gemacht, ihre Anpassungsfähigkeit getestet wird. 

Wenn die Psychiaterin im Kurbericht ein Alkohol- und Drogenproblem entdeckt, weil du ”fatale” Angaben gemacht hast, sollst du eine Alkohol- und Drogenabstinenzvereinbarung unterschreiben, was ständige Bluttests und Urinproben bedeutet. 

Zwei Gläschen Wein bei einer Geburtstagsfeier, Abbruch. Selbst deine Therapeutin solltst du von der Schweigepflicht entbinden. Wenn du das nicht unterschreibst, bedeute das den Abbruch der Maßnahme. 

Die Vereinbarung zur Alkoholabstinenz:

”Hierdurch erkläre ich mich bereit, für die Dauer meiner Rehabilitations-Maßnahme im Berufsförderungswerk Berlin (BFW) an einem Alkoholkarenz- Kontrollprogramm des Ärztlichen Dienstes im BFW zum Nachweis meiner Alkoholabstinenz teilzunehmen. Die Alkoholkarenz-Kontrollen werden in unregelmäßigen Zeitabständen durchgeführt. Über die angesetzten Alkoholkarenz-Kontrolltermine werde ich vom Ärztlichen Dienst des Hauses während meiner Maßnahme jeweils am Tag der Abnahme informiert.

Mir ist bekannt, dass meine Maßnahme im BFW ggf. ohne weitere Begründung abgebrochen und eine spätere Neuaufnahme ausgeschlossen werden kann, sofern durch die Alkoholkarenz-Kontrolle ein Alkoholkonsum nachweisbar wird.

Dasselbe gilt für den Fall einer durch mich zu vertretenden Nichtteilnahme am Alkoholkarenz-Kontrollprogramm im BFW Berlin.”

In der Vereinbarung zur Drogenabstinenz steht dann noch zusätzlich:

”Die Urinkontrollen (UK) werden in unregelmäßigen Zeitabständen bis zu zweimal wöchentlich durchgeführt, wobei die Urinprobe von mir unter direkter persönlicher Aufsicht eines Mitarbeiters des Ärztlichen Dienstes im BFW Berlin abgegeben wird.”

Du unterschreibst nicht. Die Psychiaterin resümiert: ”Sie hätten unterschreiben sollen, danach hätten wir über alles reden können. Das sind eben unsere Regeln, denen sie sich unterzuordnen haben. Das Entscheidende bei Ihnen ist doch, dass sie ein Autoritätsproblem haben.”

Der Sozialpädagogin teilst du mit, dass du nicht unterschreiben wirst, aber eine schriftliche Bestätigung des Abbruches möchtest.

Bei der Sozialpädagogin erhälst du dann eine Teilnahmebescheinung, darunter hatte sie handschriftlich geschrieben:

”Abbruch der EBA mit Ablauf des x.2008, da Frau ...der Mitwirkungspflicht (Unterschreiben der Abstinenzvereinbarung) nicht nach kam.”

Du erklärst, dass du mit dem Abbruch der Maßnahme nicht einverstanden bist, was angekreuzt wird. Im Auftrag Gruppenleitung. Die Unterschrift der Sozialpädagogin.

Der Höhepunkt: Berufsverbot

Einmal ”psychisch krank” und in Hartz IV gibt es kaum ein Entrinnen.

Wer sich selbständig machen will und eine Unfallversicherung braucht, dem wird folgendes mitgeteilt: Die Versicherung muss von einem Vertragsabschluss absehen, da es zu ”Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen unfallbedingten und unfallunabhängigen Beschwerden führt”. So kann der Versicherer nicht für ein Risiko aufkommen.

Wer sich selbständig machen will und Gründungszuschuss bzw. Einstiegsgeld beantragt, wird ggf. zur Amtsärztin plus Zusatzgutachterin geschickt.

Für ein Gutachten ist laut Handbuch “Fallmanagement in der Eingliederungshilfe” folgendes notwendig:

4.1 Anamnese

Die Anamnese gliedert sich in:

4.1.1 Allgemeine Anamnese

4.1.1.1 Familienanamnese

Nur wesentliche Angaben zur familiären Belastung, z.B. Herz-Kreislauf-, Stoffwechsel-, Lungenerkrankungen, psychische und bösartige Erkrankungen, sind erforderlich.

4.1.1.2 Eigenanamnese

Aufzuführen sind: Kinderkrankheiten mit Folgeschäden, prä-, peri- und postnatale Auffälligkeiten, Entwicklung bis Schulbeginn, schwere Akuterkrankungen, Operationen, Beginn und Verlauf chronischer Erkrankungen, Krankenhausbehandlungen und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Unfälle einschließlich Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, allergische Dispositionen und Manifestationen (z.B. Milchschorf, Neurodermitis, Heuschnupfen, Arbeitsstoffe, Tierhaare), Angaben zu Risikofaktoren, Ernährung (z.B. Diät), Gebrauch von Genussmitteln (z.B. Alltagsdrogen) und Suchtstoffen. Ggfs. zeitliche Angaben zum Auftreten und Verlauf.

Organbezogene/vegetative Anamnese:

Herz-/Kreislaufsystem, Lungen und Atemwege, gastrointestinales System, Stütz- und Bewegungsapparat, Haut und -Anhangsgebilde, Nieren und ableitende Harnwege, endokrinologisches System, zentrales und peripheres Nervensystem, Sinnesorgane, Psyche, gynäkologische Anamnese, Vita sexualis, Angaben zu Appetit, Durst, Speisenunverträglichkeit, Gewichtsverhalten, Stuhlgang, Miktion/Nykturie, Inkontinenz, Husten, Auswurf, Schlaf.

Jetzige Beschwerden:

Die Schilderung der Beschwerden und der Beeinträchtigungen des Befindens muss aus Sicht des betroffenen Menschen dokumentiert werden. Die Beschwerden sind ihren Symptomkomplexen zugeordnet, also strukturiert, aufzuzeichnen (z.B. Druckgefühl in der Brust bei gleichzeitigem Schmerz in den Kiefergelenken und im linken Arm). Wichtig sind der Beschwerdeverlauf und dessen Folgen für Beruf und Alltagsleben. Der Gutachter fragt gezielt nach typischen Symptomen im Hinblick auf spezielle Erkrankungen und stellt differenzialdiagnostische Erwägungen an, insbesondere bei vermeintlichen Widersprüchen zwischen vorliegenden medizinischen Unterlagen und Angaben des betroffenen Menschen. Er klärt das subjektive Krankheitsverständnis.

Therapie:

Angaben zur Therapie - möglichst die letzten 12 Monate überspannend mit Beschreibung von:

Medikation:

Dauer-/Bedarfsmedikation, seit welcher Zeit, in welcher Dosis, mit welchem Erfolg/Misserfolg, Nebenwirkungen von Therapien? Evtl. Hinweis auf weitere Therapien, deren Art und Häufigkeit/Dosierung, auch geplante Therapien. Hilfsmittel: u.a. welche vorhanden sind und genutzt werden? Heilmittel: z.B. Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie

Weitere Therapien: z.B. Psychotherapie, Soziotherapie

Behandelnde Ärzte/Psychologen/Psychologische Psychotherapeuten: Angabe der Behandler , deren Fachrichtung und Anschrift.

4.1.2 Biographische Anamnese (bei psychiatrischen Gutachten)

Diese sollte die ausführliche Erhebung der Lebensgeschichte des betroffenen Menschen enthalten, Besonderheiten der frühkindlichen Entwicklung, der sozialen Herkunft, des späteren Lebensweges im Hinblick auf Familie, Partnerschaft und Beruf, so dass Zusammenhänge von Lebensgeschichte und Erkrankungsbeginn, -verlauf und -art zu erkennen sind.

4.1.3 Arbeits- und Sozialanamnese

4.1.3.1 Schulausbildung/Schulabschluss

Neben den erreichten Abschlüssen ist auch anlassbezogen nach Schwierigkeiten in der Schulausbildung zu fragen.

4.1.3.2 Berufs- und Arbeitsanamnese

Berufliche Zielvorstellungen bzw. Ausbildungsabsichten, Berufsausbildung mit/ohne Abschluss, Arbeitsbiographie: Art und Dauer bisheriger Tätigkeiten, berufliche Belastungen, Gründe für evtl. Berufs-/Tätigkeitswechsel, Weiterbildungsmaßnahmen, jetzige Tätigkeit mit Beschreibung des Arbeitsplatzes und der -atmosphäre, besondere psychische und physische Belastungen am Arbeitsplatz, betriebsärztliche Betreuung, vorhandene und verwendete Hilfsmittel und Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz, Möglichkeiten der Arbeitsplatzanpassung oder -umsetzung, Weg zur Arbeitsstelle. Derzeit arbeitslos, arbeitsunfähig, gekündigt (mit zeitlichem Ablauf und Gründen)?

4.1.3.3 Umstände der Antragstellung, bisherige Sozialleistungen

(sofern Daten nicht bereits vorliegen)

• Angabe, warum und ggf. durch wen Aufforderung zur Antragstellung erfolgte.

• Arbeitsunfähigkeitsverläufe (z.B. Dauer, Häufigkeit und Ursachen vor allem der letzten 3 Jahre, erste AU wegen des zum Antrag führenden Leidens?)

• Frühere, laufende und beantragte Sozialleistungen (evtl. auch im Herkunftsland): z.B. medizinische Vorsorge- und/oder Rehabilitationsleistungen sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft, ambulant und/oder stationär, Renten (RV, UV o.a.), Kranken- bzw. Verletztengeld, Arbeitslosengeld oder -hilfe, Sozialhilfe, Leistungen der Pflegeversicherung, Leistungen durch das Gesundheitsamt und die Träger der sozialen Entschädigung, z.B. Versorgungsverwaltung, Angaben zum GdB (mit Merkzeichen), MdE, Pflegestufe, ggf. Rechtsmittelverfahren.

4.1.3.4 Sozialanamnese und Aktivitäten des täglichen Lebens

Soziales Umfeld, Angaben zu vorhandenen Fähigkeiten, Schwierigkeiten und Kompensationspotenzialen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (z.B. Beruf, Familie, Kommunikation, Freizeit mit Sport und Hobbys, kulturelle Aktivitäten, Ehrenämter, häusliche Situation, Garten, zu pflegende Angehörige, Finanzsituation, Haustiere). Ggf. Angaben zur jetzigen Versorgungs- und Betreuungssituation, wenn sie für die Feststellung der Leistungsfähigkeit oder eine Rehabilitationsleistung von Bedeutung sind.

4.2 Untersuchungsbefunde

Die klinische Untersuchung muss die Informationen aus der Anamneseerhebung und Auswertung früher erstellter Befunde und sonstiger Unterlagen berücksichtigen. Grundlage der gutachterlichen Beurteilung des Leistungsvermögens ist die präzise Beschreibung der Funktionen bzw. Funktionseinschränkungen, möglichst mit Maßangaben, zumal zwischen morphologischem Befund (z.B. Röntgenbild der Wirbelsäule) und Funktion nicht zwangsläufig eine Korrelation bestehen muss. Die medizinischtechnische Zusatzdiagnostik sollte der Objektivierung von Funktionseinbußen und -fähigkeiten dienen. Sie ist bei Bedarf um eine arbeitsplatz-und/oder alltagsbezogene Funktionsdiagnostik zu ergänzen.

4.2.1 Klinischer Untersuchungsbefund

Der behinderte oder von Behinderung bedrohte Mensch muss - sofern es die Fragestellung erfordert - vollständig untersucht und das Untersuchungsergebnis in seiner Gesamtheit dokumentiert und übersichtlich gegliedert werden. Auch bei Fachgutachten wird ein orientierender klinischer Gesamtstatus erwartet. Dies ist besonders wichtig, wenn fachgebietsbezogene Symptome/Befunde (z.B. Sehstörungen oder Tinnitus) an einen Zusammenhang mit anderen Erkrankungen (z.B. arterielle Hypertonie) denken lassen. Außerdem sollten klinische Hinweise auf Erkrankungen, die außerhalb des jeweiligen Fachgebietes liegen, dokumentiert werden (z.B. äußerlich sichtbare Veränderungen wie Zyanose oder Ikterus). Messbare Untersuchungsbefunde sollten unter Angabe ihrer Messgröße (z.B. Neutral-0-Methode, vergleichende Umfangsmessungen in cm u.a. m.), ggf. mit Einbeziehung von Messblättern, aufgezeigt werden. Die pauschale Zusammenfassung des Befundes in ”unauffällig” oder ”o.B.” ist nicht ausreichend.

Normalbefunde sind aufzuführen, insbesondere wenn

• Beschwerden vorgetragen werden

• pathologische Vorbefunde vorliegen

• das Krankheitsbild korrelierende pathologische Befunde erwarten lässt (z.B. Hodgkin-Lymphom, bei dem Milzgröße und Lymphknotenstatus unauffällig sind)

• die Untersuchung im symptomfreien Intervall einer typischerweise in Schüben bzw. klinisch sehr wechselhaft (z.B. mit Exazerbationen) verlaufenden Krankheit (z.B. Asthma bronchiale, rheumatoide Arthritis) erfolgt.

Eine orientierende Prüfung der Sinnesorgane, der Lese- und Schreibfähigkeit sowie des Sprachvermögens ist erforderlich.

Eine neurologische Untersuchung ist in ihrem Umfang aufzuzeigen (z.B. Angabe, ob die Sensomotorik geprüft wurde und Angabe der Händigkeit). Beschreibungen des Bewegungsablaufes (z.B. Stand, Gang, Sitzen, Bewegungen beim Aus- und Ankleiden, Aufrichten von der Untersuchungsliege, Nutzung von Hilfsmitteln, Gebrauchszustand der Hilfsmittel) sind weitere wichtige Informationen, auf die hingewiesen werden sollte. Unabhängig vom jeweiligen Fachgebiet müssen psychische Auffälligkeiten beachtet und mitgeteilt werden. Vor allem bei einer Diskrepanz zwischen ”Befund” und ”Befindlichkeit” müssen mögliche Zusammenhänge mit psychischen Störungen in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden.

Der psychische Befund wird mit Beschreibung u.a. von Stimmungslage und ggf. bestehenden Auffälligkeiten auch hinsichtlich der Konzentrationsfähigkeit dokumentiert.

(Handbuch für Fallmanager/innen nach SGB XII – Version 2.0 - , Stand: 15. März 2006 Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz Berlin)

Die Psychiaterin (Zusatzgutachten) will Dich unter Streß setzen, so sollst Du ihr zum Anfang deine Arbeitsbiographie mit genauen Zeit- und Stundenangaben schildern. Sie fragt Dich, was du vor deiner Krankheit gemacht hast. Ob du in deinem Beruf gearbeitet hast. Wenn du zum Beispiel deine vielen Jobs im 2. Arbeitsmarkt (gzA, Hilfe zur Arbeit, ABM, MAE oder was es alles gibt) nicht genau nach Datum aufzählen kannst, macht sie Druck. Natürlich wird jede/r Psychiater/in einen eigenen Stil haben, aber typische Fragen sind: Arbeitsbiographie und Krankheitsverlauf, dein ”typischer” Tagesablauf (dir wird Faulheit unterstellt), deine sozialen Kontakte zu Freunden, Bekannten, Angehörigen, Eltern, Kindern. Hast Du eine Beziehung? Rauchst Du? Wieviel? Trinkst Du? Wieviel? Nimmst Du Drogen? Welche Hobbys hast Du?

Viele wollen ihre Gutachten und ihre Behandlung nicht öffentlich machen, weil damit eine Schwäche offenbart wird und sie sich ihre individuellen Strategien nicht verbauen wollen. Damit kriegen sie die Leuten klein, weil sie sich für ihre ”Schwächen” schämen und andererseits jede Gesetzeslücke gefüllt wird, wenn Leute ihre individuellen Tricks preisgeben.

Du kannst Akteneinsicht nach §25 SGBX beantragen. Im Gutachten steht dann lapidar:

”...Das Ausmaß der seelischen Minderbelastbarkeit wurde so eingeschätzt, dass weder eine Tätigkeit im erlernten Beruf noch im Rahmen der geplanten Selbständigkeit empfohlen werden kann. Eine Schulungsfähigkeit konnte nicht bejaht werden. Eine untervollschichtige Tätigkeit z.B. als Bürokraft, für eine gut strukturierte überschaubare Tätigkeit wäre möglich.”

Das Einstiegsgeld und ein Zuschuss werden abgelehnt. Du hast quasi Berufsverbot. 

Psychiatriebetroffene “dürfen” Zuverdienstmöglichkeiten nutzen, entweder Ein-Euro-Jobs oder gleich in Zuverdienstfirmen für psychisch Kranke. Das ist ein gutes Geschäft, nicht für die Betroffenen, sondern die Firmen.

Die Zuverdienst- Beschäftigungsindustrie

Peter Weber schreibt, dass im Jahre 2005 ca. 400 000 bis 500 000 Menschen im erwerbsfähigen Alter psychisch schwer erkrankt seien, die Zahl der Psychiatriebetroffenen wächst seitdem rasant. Von diesen Menschen seien nur ca. 10% in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert. Zusätzlich arbeiteten 9000 in Integrationsfirmen.

An dieser Stelle möchte ich auf eine “Merkwürdigkeit” hinweisen. Der Staat und die Versorgungs- und Betreuungssysteme sammeln zwar gewaltige Datenmengen von Psychiatriebetroffenen, seltsamerweise ist aber über die Armutssituation der meisten Psychiatriebetroffenen kaum etwas in der Öffentlichkeit bekannt. Auch Ernst von Kardorff weist in seinem Artikel “Zur Diskriminierung psychisch kranker Menschen” auf die schwierige bzw. unbefriedigende Datenlage hin. Er schreibt:

“Ein erster Blick in die unbefriedigende Datenlage zeigt, dass psychisch kranke Menschen im Vergleich mit der Normalbevölkerung

n    häufig niedrigere Arbeitseinkommen haben;

n    ein doppelt so hohes Risiko aufweisen, den Arbeitsplatz zu verlieren;

n    eine fast doppelt so hohe Erwerbslosigkeit aufweisen;

n    ein dreimal so hohes Risiko haben, verschuldet zu sein;

n    häufiger Mietrückstände haben;

n    sich eher in prekären sozialen Lagen befinden oder an der Armutsgrenze leben;

n    eine erhebliche Zahl von Obdachlosigkeit betroffen ist....

Erwachsene mit chronischen Verläufen psychischer Krankheiten sind nur in geringem Umfang voll erwerbstätig. Für Deutschland geht Hoffmann von folgenden Zahlen aus:

n    43 % sind aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, davon sind ca. 16,5% Langzeiterwerbslose (ALG II-Empfänger), ca. 12,5% erhalten Sozialhilfe bzw. Sozialgeld, ca. 14% beziehen Erwerbsunfähigkeitsrente;

n    nur ca. 5,6 % (!) der psychisch Kranken sind vollbeschäftigt;

n    ca. 6,5% sind teilzeitbeschäftigt;

n    ca. 20% haben einen geschützten Arbeitsplatz;

n    ca. 5% befinden sich in Maßnahmen der Beruflichen Rehabilitation.

Diese Ergebnisse zeigen, welchen Risiken psychisch Kranke in der vorrangig an Effizienz, Leistung und Perfektion orientierten modernen Arbeitsgesellschaft ausgesetzt sind...

Die Lebenssituation vieler psychisch kranker Menschen mit chronifizierten Störungen ist durch ein Leben am Armutsrand und durch Abhängigkeit von Institutionen gekennzeichnet.” (Ernst von Kardorff, S. 289ff.)

Diese Situation löst Gefühle der Scham und Erniedrigung aus, die entweder zu sozialem Rückzug oder zur Selbstisolation im psychiatrischen Versorgungssystem führen.

Viele Psychiatriebetroffene werden in Sonderarbeitsmärkten geparkt. In einer Gesellschaft, die Menschen nach ihrer Leistungsfähigkeit beurteilt, fehlt ihnen die Anerkennung. Auch hier befinden sie sich wieder in “ambulanten Ghettos”, die sie von der “normalen” Welt ausschließen.

Es kann sein, dass man als Psychiatriebetroffene/r in eine Behindertenwerkstatt geschickt wird. Für Psychiatriebetroffene gibt es Arbeitsmöglichkeiten in Behindertenwerkstätten und Zuverdienst- und Integrationsfirmen. Integrationsfirmen bieten sozialversicherungspflichtige Arbeit an, Zuverdienstfirmen eben einen Zuverdienst. Oftmals sind es nur einfache Tätigkeiten für Druckereien (Falzen und Heften), in Wäschereien, Küchen, Putzdienste, Lagerarbeiten oder Gartenarbeit. Die Stundenlöhne bewegen sich zwischen 1,50 bis 2,50 Euro.

Da sind z.B. Lebenswelten, die seit 1982 bestehen. Sie betreiben soziale Unternehmen in verschiedenen Branchen in Berlin. (http://www.lebenswelten.de/)

So zum Beispiel: Electronic Manufacturing Service (EMS)- Synergie durch Partnerschaft
 ”Wir sind Partner von Unternehmen, die für die Realisierung ihrer Ideen und Produkte Freiraum suchen, um den globalen Markt schnell und wirtschaftlich mit einem Maximum an Qualität zu bedienen. Produzieren lassen statt selbst fertigen schafft Freiräume für mehr Flexibilität und Geschwindigkeit. Unsere Kernkompetenz ist die Bestückung von elektronischen Baugruppen mit allen notwendigen Montagearbeiten, bis zur Fertigstellung des Produktes inklusive Materialwirtschaft und Versand an den Finalkunden.”

Lebenswelten betreibt auch die Spektrum GmbH-  Gesellschaft für berufliche Bildung und Integration … für Teilhabe am Arbeitsleben in Berlin. Berufliche Bildung, Beratung, Vermittlung und Beschäftigung für benachteiligte Menschen.

Desweiteren: Die Lebenswelten Restaurations GmbH ist Cateringunternehmen und gleichzeitig Integrationsbetrieb.

Und die Saldo Journale Services GmbH. Sie bieten Lösungen- Dienstleistungen im Bürobereich.
Der Betrieb wurde 1985 gegründet und arbeitet für freie Träger, Kulturbetriebe und Wirtschaftsunternehmen. Heute übernehmen 10 Mitarbeiter/innen Bürodienstleistungen für Firmenkunden. 

Da ist zum Beispiel die Albatros gemeinnützige Gesellschaft für soziale und gesundheitliche Dienstleistungen mbH. Sie bietet Unterstützung und Lebensbegleitung f. psychisch erkrankte Menschen, Arbeitstraining u. berufliche Rehabilitation, arbeitsorientierte u. psychosoziale Beratung . Zuverdienstmöglichkeiten gibt es bei  Renovierung u. Bauleistungen, Cafe, Restaurant, Kantine, Garten-u. Landschaftspflege, Reinigungsservice. 

ALBATROS e.V. wurde 1984 aus einer Selbsthilfegruppe für Menschen nach Selbsttötungsversuchen gemeinsam von Betroffenen, professionellen Helfern und Interessierten gegründet. 2010 wandelte sich der Verein in eine gGmbH um.  

In Pankow bieten sie den ”psychisch Kranken” folgende Zuverdienstmöglichkeiten an: 

Dienstleistungen und Beschäftigungsmöglichkeiten in folgenden Bereichen, die von einer einfachen dreistündigen Tätigkeit bis hin zu eines anspruchsvollen ”Arbeit” reichen können.

Gartenlandschaftspflege
Gartentätigkeiten jeglicher Art in Buch und Umgebung…
Grünflächenpflege
Unkrautentfernung
Rasen- und Heckenpflege
Laubentsorgung etc.

Verkauf von Obst & Gemüse aus unserem eigenen Bauerngarten

Botendienste
Verteilung von Zeitungen und Werbematerialien

Reinigungsservice
Reinigungsarbeiten im Haushalt, in Büro’s und Miethäusern

Renovierungs- und Umzugsservice
Renovierungsarbeiten, Ausführung von Maler- und Tapezierarbeiten

Umzugsservice
Hilfe beim Packen, Transport, Montage von Möbel

Second-Hand-Laden
Wir bieten an und nehmen nach Absprache kostenlos entgegen:
Bekleidung, Haurat, Möbel, Spielzeug, Bücher

In diesem Zusammenhang bieten sie auf Nachfrage auch Transporte an.

Bäckerei / Konditorei Catering / Partyservice
Herstellung von Backwaren und Konditorwaren aller Art
Ausführung von Cateringaufträge (gemeinnütziger Partyservice)
Warenauslieferung, Verkaufstätigkeiten auf Märkte

In Lichtenberg bieten sie folgendes an:

Sie bieten Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit psychischen Erkrankungen und für Menschen mit Suchterkrankungen, in den Bereichen: Maler- und Renovierungsservice, Tischlerarbeiten, Fahrradprojekt, Reinigungsservice, Wäscherei, Gastronomie, Concierge, Bootsverleih ”Am Fennpfuhl”, sowie im Beschäftigungsbreich Renovierung im KEH. Derzeit sind 97 Männer und Frauen von 18 bis 65 Jahren im Projekt tätig.

Maler- und Renovierungsarbeiten

Tapezieren von Raufaser- und Dekortapeten

   Streichen der Räume in verschiedenen Farbtönen

   Aufarbeiten von Türen/ Zargen und Fenstern

Tischlerarbeiten

Aufarbeiten von alten Möbeln

   Herstellung und Anpassung von Einbauregalen

   Verlegen von Laminat- und Parkettböden

   Abschleifen und Versiegeln von alten Dielen

Die Tischlerarbeiten bilden oft eine Ergänzung zum Renovierungsbereich.
In diesem Tätigkeitsfeld, sind derzeit 5 Klienten tätig.

Das Fahrradprojekt

Dieses Projekt entwickelte sich im Verlauf der vergangenen 3 Jahre im Rahmen des ergotherapeutischen Angebotes der Zuverdienstwerkstatt.
Derzeit sind in diesem Projekt 10 meist jüngere Klienten mit erhöhtem Anleitungs- und Betreuungsbedarf beschäftigt.
Das Tätigkeitenspektrum reicht von einfachen Schleifarbeiten bis zu fachlich sehr anspruchsvollen Montagearbeiten.

Reinigungsservice

Glas-, Gebäude- und Grünflächenreinigung
Reinigung von Hausaufgängen, Büroräumen und Privathaushalten
Ihre Auftraggeber sind auch hier soziale Träger, Wohnungsbaugesellschaften und Privatkunden.
Derzeit sind 10 Klienten in diesem Beschäftigungsbereich tätig.

Wäschereiservice

Abhol- und Lieferservice von Haushalts- und Gastronomiewäsche.
Das Tätigkeitsfeld umfasst Arbeiten wie Waschen, Mangeln, Bügel und Legen der Wäsche-
Ihre Auftraggeber sind hier ausschließlich soziale Träger.

Dieser sehr kleine Beschäftigungsbereich eignet sich besonders für Frauen-
Derzeit sind hier 5 Klienten tätig-

Restaurant ”Gundelfinger”

Das Restaurant wurde 1999 eröffnet
Hier gibt es die Möglichkeiten im Service oder im Küchenbereich tätig zu sein.
Sie bieten eine ausgewogene Speisekarte, mit wechselnden sesionale Angeboten, einen gemütlichen Gastraum, eine kleine Terrasse und einen Biergarten -
Derzeit sind in diesem sehr begehrten Beschäftigungsbereich 15 Klienten tätig-

Warum Zuverdienstmöglichkeiten so wichtig sind, erläutert jemand in der Psychosozialen Umschau 2/ 2009): ”Im Hinblick auf den Bedarf – so das Fazit der Recherchen – äußert niemand mehr ernsthafte Zweifel, dass es niedrigschwellige Zuverdienstmöglichkeiten geben muss zumal die Zahl von frühberenteten und behinderten Empfängern von SGB XII-Grundsicherung dramatisch wächst: von rund 440.000 im Jahr 2003 auf rund 730.000 im Jahr 2007! Mehr als ein Drittel der Frühberentungen ist inzwischen auf seelisch bedingte Leistungsstörungen zurückzuführen, Tendenz steigend. Das heißt: Insbesondere für den Personenkreis der chronisch psychisch kranken Menschen ist die Schaffung von Zuverdienstmöglichkeiten dringend geboten.”

Immer noch geht es um die Aufrechterhaltung des Lebenszieles “Arbeitsplatz”. Dabei sind auch Menschen mit Behinderung den sich rasant verändernden Arbeitsanforderungen  ausgesetzt. Der Druck und die Flexibilität am Arbeitsplatz wächst. Für die Kostenträger geht es immer noch um die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Dieses Ziel hat die berufliche Rehabilitation, für viele Menschen ist das aber mit einer Selbsttäuschung verknüpft. Das Ziel 1. Arbeitsmarkt werden sie nicht erreichen und ist daher kontraproduktiv. Die Forderung “Arbeit für alle” ist dabei Selbstbetrug.

Arbeit wird so hochgehoben, weil damit der Status und die Identität gefördert werde. Oftmals geht es auch um die Zeitstrukturierung. Viele Menschen haben es nicht gelernt, sich zu beschäftigen, ihnen fällt die Decke auf den Kopf. Nur die Lohnarbeit gibt ihnen einen Sinn. Für viele ist Arbeit aber auch nur Mittel, um die Existenz zu sichern, schlicht Geld zu verdienen.

Um sich gegen das Hohelied der Lohnarbeit zu wehren, ist es notwendig, seine eigene Zeit zu nutzen und zu strukturieren. Viele Psychiatriebetroffene finden keine Erwerbsarbeit, sie müssen sich einen Ersatz zu schaffen.

Wer sich langweilt, sehnt sich nach Lohnarbeit. Dabei ist Arbeit genügend vorhanden, z.B. soziale und kulturelle Tätigkeiten. Diese Tätigkeiten können die Lebensqualität der Psychiatriebetroffenen steigern. Wer Interessen und Hobbys hat, wird Betätigung finden.

Um eine sinnvolle Beschäftigung zu finden, können einige Fragen aus dem Buch “Tätigsein” sinnvoll sein:

An welche Tätigkeiten habe ich gute Erinnerungen?

War mir früher ein bestimmtes Hobby oder Interesse wichtig?

Was war ein richtig gutes Projekt, das ich einmal durchgeführt habe?

Wann vergeht die Zeit wie im Fluge? Was habe ich dann gerade getan?

Wann habe ich einfach Spaß im Tun gehabt? Welche Beschäftigung war das?

Was sind für mich wertvolle Tätigkeiten?

Welche meiner Fähigkeiten möchte ich gern erweitern?

Was hat mir bisher geholfen, Dinge anzufangen?

Welche Anlaufstellen gibt es in meinem Umfeld? Und welche passen zu mir?

Es gibt vielen Möglichkeiten, tätig zu werden.

So gibt es in Tauschringen die Chance, Tätigkeiten anzubieten. Dafür kann man Gegenleistungen in Anspruch nehmen.

Zudem gibt es die Möglichkeit der ehrenamtlichen Arbeit, z.B. bei Lebensmitteltafeln und anderen sozialen Einrichtungen.

Psychiatriebetroffene können auch in der Selbsthilfe aktiv sein, so in Selbsthilfegruppen der Psychiatrieerfahrenen, Gruppen für Menschen mit Depressionen, Angstsstörungen, Zwängen, Borderline, traumatischen Erfahrungen etc. Es gibt auch Psychose-Seminare.

Und es existieren auch politische Interessenvertretungen, wie die Irrenoffensive und andere antipsychiatrische Initiativen. Öffentlichkeitsarbeit wird dabei mittels Zeitschriften, Büchern und im Internet gemacht. Natürlich können sich auch Psychiatriebetroffene in anderen politischen Gruppen engagieren.

Und es gibt auch für Psychiatriebetroffene viele Bildungsmöglichkeiten. Bildung läßt sich nicht von außen festlegen, es geht um die eigenen Interessen und die Selbsttätigkeit.

Politische Bildung muß bei der Lebenswirklichkeit der Psychiatriebetroffenen ansetzen, das Ziel muß eine Veränderung der gesellschaftlichen Situation sein, um auch die Lebenssituation der Psychiatrierfahrenen zu verbessern.

Wohnen

Ein weiteres Problem für Psychiatriebetroffene ist das Thema Wohnen.  Da viele Psychiatriebetroffene von Hartz IV leben, müssen sie jederzeit mit einer Aufforderung zur Senkung der Mietkosten und damit einem Zwangsumzug rechnen. Wer verschuldet ist, hat es zusätzlich schwer, eine neue Wohnung zu finden.

Wer zu einem Wohnungshilfeverein geht, wird bei der Biographie zum Sozialpsychiatrischen Dienst geschickt und es soll ein Hilfeplan erstellt werden, der folgende Angaben enthält:

Arbeit, Ausbildung, Qualifizierung:

Ist-Zustand z.B.: arbeitslos, Maßnahme etc.

Was wünschen Sie sich in bezug auf die Arbeit?

Welche konkreten Ziele wollen Sie in nächster Zeit angehen?

Wie können wir Ihnen dabei helfen?

Bislang durchgeführte Maßnahmen

Wirtschaftliche Situation

Ist- Zustand, z.B. Einkommensart und Höhe

Wieder Wünsche, Ziele, wie helfen, durchgeführte Maßnahmen

Schulden:

Ist- Zustand, z.B. Mietschulden, Eidesstattliche Versicherung

Wieder Wünsche, Ziele, wie helfen, durchgeführte Maßnahmen

Soziale Situation:

Ist-Zustand, z.B. Familie, Soziale Kontakte, Freizeitgestaltung, KOnfliktverhalten

Wieder Wünsche, Ziele, wie helfen, durchgeführte Maßnahmen

Gesundheit:

Ist- Zustand, z.B. Erkrankungen, Krankschreibung, Medikamente

Wieder Wünsche, Ziele, wie helfen, durchgeführte Maßnahmen

Sucht:

Ist- Zustand, z.B. illegale Drogen, Alkohol, Medikamente etc.

Wieder Wünsche, Ziele, wie helfen, durchgeführte Maßnahmen

Rechtliche Situation:

Ist- Zustand, z.B. anhängige Strafsachen, Bewährungsauflagen etc.

Wieder Wünsche, Ziele, wie helfen, durchgeführte Maßnahmen

Und zum Schluß Wohnen:

Ist- Zustand, z.B. anstehender Wohnungsverlust, Kriseneinrichtung etc.

Wieder Wünsche, Ziele, wie helfen, durchgeführte Maßnahmen

Und dann soll man noch etwas über seine Allgemeine Lebensplanung schreiben.

Es ist unvorstellbar, welcher Informationssammelwut man in diesem Lande als armer Mensch ausgesetzt ist. Denn zu der Dokumentationsverpflichtung, die Professionelle im Umgang mit ”psychisch Kranken” haben, kommt ja noch dieser ganze Wust im Sozialhilfe- bzw. Hartz IV-Bereich. Über die Anträge und Regelungen zu Hartz IV braucht man an dieser Stelle wohl nichts zu sagen.

Viele Psychiatriebetroffene sind allerdings nicht nur mit dem Hartz IV-System konfrontiert, sondern auch mit dem Betreuungssektor.

Ein prima Geschäft- Betreutes Wohnen

Der Sektor ”Betreutes Wohnen” ist inzwischen ein riesiger Markt. Schauen wir uns mal einen Träger an: Jugendwohnen im Kiez

1978

Im (West-)Berliner Arbeitskreis Betreutes Jugendwohnen entwickeln mehrere in Jugendwohngemeinschaften Beschäftigte die Idee, einen Träger für die eigene Arbeit aufzubauen.

1979

Jugendwohnen im Kiez e.V. entsteht. Erstes Arbeitsfeld sind zwei Jugendwohngemeinschaften, die die Gründer aus ihrer bisherigen Arbeit "mitbringen".

1988

In Moabit wird mit einem Projekt die Arbeit im Angebotsbereich Betreutes Einzelwohnen aufgenommen. Acht Jugendliche werden in Einzimmerwohnungen untergebracht und betreut und können eine Ladenwohnung in unmittelbarer Umgebung als Anlaufstelle und Treffpunkt nutzen.

1988

Für die Beschäftigung und Qualifizierung von jungen Sozialhilfeempfängern gründet Jugendwohnen im Kiez die Tochtergesellschaft Schildkröte.  Sie ist eine der ersten gemeinnützigen GmbHs in Berlin. Im Februar 1989 starten 15 Teilnehmer und bieten in Kreuzberg Mittagessen in einem Restaurant für einkommensschwache Bewohner aus der Umgebung und gesunde Kost für Kindereinrichtungen.

1990

Jugendwohnen im Kiez engagiert sich im Ostteil von Berlin bei der Beratung von Kollegen aus dem Jugendhilfebereich und hilft mit, den Träger Neues Wohnen im Kiez e.V. ins Leben zu rufen.

Um für Jugendliche, die aus der Jugendhilfe ausscheiden, bezahlbaren Wohnraum akquirieren zu können, gründet Jugendwohnen im Kiez die Tochtergesellschaft Neuraum GmbH

Danach entstehen dann noch die WIBB GmbH, die WIBO GmbH, Ambulante Hilfen, Tagesgruppen und GEMINI.

1998

Jugendwohnen im Kiez bündelt die Berliner Angebote der Kinder- und Jugendhilfe in der Tochtergesellschaft Jugendwohnen im Kiez- Jugendhilfe gGmbH.

2001

Die Vereine Jugendwohnen im Kiez e.V. und ajb e.V. bündeln Ihre Kompetenzen in der gemeinsamen Gesellschaft  ajus- Dachgesellschaft für Arbeit, Jugend und Soziales und bringen insgesamt fünf Tochtergesellschaften in den Trägerverbund ein.

Im Jahre 2009 feiern sie 30 Jahre Jugendwohnen im Kiez.

Auch für  ”Psychisch Kranke” gibt es diverse gGmbH`s, die sich mit deren ”Betreuung” beschäftigen. Mittlerweile ist das ein umkämpfter Markt, in dem viel Geld fließt.

So die Pinel gGmbH- Initiative für psychisch Kranke in Berlin: http://www.pinel-online.de/

Im Stadtbranchenbuch finden sich zu ”Betreutes Wohnen” ca. 100 Einträge. Und mehrheitlich gGmbH`s. So die Aktion Weitblick- betreutes Wohnen gGmbH, die Brücke gGmbH, WIB, Weißenseer Integrationsbetriebe GmbH, FOGS GmbH, Haus Phoenix Pankow gGmbH, LfB gGmbH, Treberhilfe Berlin gGmbH, USE gGmbH und viele mehr. Ein tolles Geschäft.

Auch die Sozialarbeit wird zunehmend ökonomisiert. Die Sozialarbeit wird zu einem Marktsegment.

Wer die Illusion hat, das psychiatrische System würde einem irgendwie helfen, muß sich mit diesem auseinandersetzen. Ansonsten halte dich von dem System fern!

(Hier ist das psychiatrische Versorgungssystem in Berlin zu finden: http://www.berlin.de/lb/psychiatrie/versorgungssystem/)

Antipsychiatrische Initiativen in Berlin sind Folgende: 

Die Irrenoffensive: http://www.antipsychiatrie.de/

Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt (mit Weglaufhaus und Support): http://www.weglaufhaus.de/verein/index.html

AK Psychiatriekritik bei der Naturfreundejugend: http://www.naturfreundejugend-berlin.de/node/235

Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen: http://www.bpe-online.de/

http://www.psychiatrie-erfahrene.de/

Wichtig ist auch eine Broschüre der Überflüssigen: ”Diagnose Kapitalismus- Therapie Pause”: http://www.krank-feiern.org/

Selbsthilfegruppen für Psychiatriebetroffene der Selbsthilfezentren. Die findest du hier: http://www.sekis-berlin.de

Was kann Dir in der Krise weiterhelfen?

Vielleicht ein persönlicher Krisenplan:

Zunächst notiert man die wichtigsten Frühwarnzeichen.

Dann: Im Falle einer Krise will ich folgende Maßnahmen treffen.

Schließlich zu wem man aus seinem privaten Umfeld Kontakt aufnehmen, und zu welchen professionellen AnsprechpartnerInnen. (Name, Telefon etc.)

Der Umgang mit Psychiatriebetroffenen in dieser Gesellschaft ist kaum aufgearbeitet, die paar kritischen Beiträge im Internet sind unerheblich.

Es geht darum, dass die Gesellschaft begreift:

Eine andere Wahrnehmung des Verhaltens von Ver-Rückten ist notwendig. Verrückte Phasen sind ein Teil des Lebens und nicht sinnlos. Statt den Umgang mit den ”psychisch Kranken” an den Staat abzuschieben und ihn zu institutionalisieren, geht es um Gespräche mit den Betroffenen über ihre Probleme. Nehmt euch die Zeit, mit jenen, die nicht funktionieren, zu reden. Und helft ihnen konkret. Zum Beispiel bei der Beratung, Ämterbegleitung, Wohnungssuche etc. Der Staat kann mit seinem psychiatrischen System so agieren und Zwänge ausüben, weil die nicht funktionsfähigen Menschen in einer individualisierten Gesellschaft von den Funktionierenden allein gelassen werden. Immer stärker wird zwischen Leistungsträgern und Kostenfaktoren (”Parasiten”) gesprochen. Die sozialdarwinistischen Tendenzen im Neoliberalismus nehmen zu, wehret den Anfängen. Sarrazin ist ein Beispiel...

Es geht darum, dass die Psychiatriebetroffenen begreifen:

Wir sind die Experten unseres Lebens. Wir brauchen basisdemokratische Entscheidungsstrukturen und keine Hierarchien, Autoritäten, die über unser Leben bestimmen. Nicht Fremdbestimmung sondern Selbstbestimmung. Dabei geht es auch nicht darum, dass wir selbsthilfeorientiert nur unter uns hocken. Nach der Devise: Wer ist der Betroffenste? Und uns mit unseren Problemen gegenseitig herunterziehen. Wir brauchen Verbündete in der Gesellschaft. Die uns helfen, in dem System zurechtzukommen, ohne dass wir in eine Gesellschaft integriert werden, in die wir gar nicht integriert werden wollen.

Wir werden in diesem Lande überwacht, es werden Informationen in einem unvorstellbaren Maße über uns gesammelt. Wir sind gläserne Menschen.

Wehrt euch gegen die Datensammler, Betreuer und Experten, die auch noch ein gutes Gewissen haben, weil sie euch ja so helfen...Die Akten gehören in den Müll!

Literatur:

Peter Weber (Hg.), Tätig sein!, Psychiatrie-Verlag Bonn 2005

Ernst von Kardorff , Zur Diskriminierung psychisch kranker Menschen, In: Hormel, Scherr (Hg.), Diskriminierung, VS Verlag Wiesbaden 2010

Weitere Texte von mir zu dem Thema sind hier zu finden:
http://www.freiheitpur.i-networx.de/verruecktheit.html  

Wer mehr über Zwangspsychiatrie wissen möchte, lese folgende Bücher:

Kerstin Kemper, Peter Lehmann (Hg.), Statt Psychiatrie,  Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag Berlin 1993 (mit einem Ratgeber für Psychiatriebetroffene)

Peter Lehmann, Peter Stastny (Hg.), Stattt Psychiatrie 2 , Antipsychiatrieverlag Berlin Eugene Shrewsbury 2007

Irren-Offensive e.V. (Hg.) Irren-Offensive, AG Spak 2010

Weitere Bücher unter: http://www.antipsychiatrieverlag.de/  

Wer Probleme im Psych-Bereich zu lösen hat, findet auch einiges in Internetforen

http://www.tacheles-sozialhilfe.de/

http://www.elo-forum.org/schwerbehinderte-gesundheit-rente/

Zum Schluß ein Flugblatt des “Runden Tisches gegen Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung”. Dort könnt Ihr auch Eure Erfahrungen schildern. Siehe Email am Schluß.

 Keiner geht allein zum (Amts-) Arzt 

Psychologische Gutachten zur Leistungsfähigkeit

Bei Erwerbsloseninitiativen und bei Rechtsanwält_innen werden inzwischen wiederholt Hartz IV-Beziehende angetroffen, für die Jobcenter aus mitunter rechtswidrigen Gründen “psychologische Gutachten eingeleitet haben oder die bereits begutachtet wurden. Grundlage dessen ist eine Norm der Bundesagentur für Arbeit (BA), in der es zu den Grenzen des Psychologischen Dienstes der BA heißt: “In Hinblick auf die Feststellung der Erwerbsfähigkeit kann der psychologische Dienst ausschließlich eine Aussage treffen, ob und inwieweit psychische Faktoren das Leistungsvermögen der Kundin oder des Kunden mindern. Wird während der psychologischen Begutachtung deutlich, dass zusätzlich eine ärztliche Aussage notwendig ist, so wird in jedem Fall eine ärztliche bzw. eine fachärztlich-psychiatrische Begutachtung empfohlen. Geht es um körperliche Einschränkungen, ist in jedem Fall der Ärztliche Dienst einzuschalten.”1

Die Gründe für die Einschaltung des Psychologischen Dienstes sind tabellarisch angeführt. “Einlassungen zu psychischen oder Drogenproblemen können aus dem Programm “Verbis” (“Vier-Phasen-Modell der Integrationsarbeit”)” bundesweit gelesen werden und sind durch das neue Verfahren ggf. leichter auffindbar.”2 U.a. deshalb befürchten Sozialarbeitende, dass ihre Berichte über sehr private Angelegenheiten der ihnen Anvertrauten über das PC-Netzwerk der BA in falsche Hände geraten. So könnten Arbeitgeber über sich neu Bewerbende Kenntnis erlangen.

Vorsicht vor psychologischen Begutachtungen

Die “Aktion Agenturschluss” aus Köln schreibt: “Neben den Einkommenseinbußen und dem Drangsalieren werden Erwerbslose mehr durchleuchtet als andere. Sie erstellenein Profil von Dir, machen psychologische Tests, mit denen sie geistige und sonstige Fähigkeiten bewerten ähnlich wie in der Kriminologie. So ist ein ganzer Wirtschaftszweig entstanden. Gesellschaften von Sozialarbeitern und

Psychologen schleusen Hunderte von Arbeitslosen durch,für die das Procedere im Ein-Euro-Job endet.”3

Die Betroffenen selbst sind sich mitunter dessen, was mit ihnen passiert, nicht bewusst oder fragen: "Warum nicht?" Mitunter wundern sie sich dann aber sehr über die Aussteuerung aus dem Hartz IV-Bezug und die Aufforderung der ARGE, einen Antrag für die Grundsicherung für Erwerbsgeminderte beim SGB XII-Träger (Sozialamt) zu stellen oder aber sich bei einer Schwerbehindertenwerkstatt zu bewerben.

Denn mit dem “psychologischen Gutachten” wird ihnen die Leistungsfähigkeit zu regulärer Erwerbsarbeit für den allgemeinen Arbeitsmarkt mit “psychologischen Diagnosen" nach dem Katalog der “psychischen Krankheiten4 aberkannt oder sie in psychiatrische Behandlung gezwungen5. Psychologen/ Psychiater deuten das Verhalten und das Gesagte von Leuten und stellen es als krankhaft hin6 

Teilnahme an der Erwerbsarbeit ist Maßstab

Psychologische Gutachten entscheiden über die Möglichkeit, ob jemand an der Erwerbsarbeit teilnehmen

kann oder nicht. Sind zunächst körperliche bzw. organische Krankheiten nicht erkenn- oder lokalisierbar, werden psychische Begutachtungen eingesetzt, um die Ursache der Nichtteilnahme an der Erwerbsarbeit herauszufinden. Im Umkehrschluss entspricht dies dem Wunsch von Arbeitgebern, die “völlig funktionierende” Arbeitskräfte mit “Power”, “Engagement”, “voll bei der Sache” wollen und die die entsprechende Menge und Qualität an Arbeit in der vereinbarten Zeiteinheit leisten, ohne viel Pausen oder

Ausfall bei Krankheit. Deshalb werden u.a. nach Intelligenztests so genannte Minderleister für “geistig

behindert” erklärt und in Schwerbehindertenwerkstätten verwiesen.7 Gewerkschaftlich Aktiven wird nach

Probezeitkündigungen versucht, die eigene Schuld mittels psychologischer Gutachten zuzuweisen, oder politisch aktiven Erwerbslosen wird damit der Berufsabschluss aberkannt. 

Selbstschutz ist angesagt

Betroffene von ähnlichen Ansinnen der JobCenter sollten sich am besten bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener8 http://www.psychiatrie-erfahrene.de/ erkundigen, was es mit psychologischen Untersuchungen, Diagnosen und Behandlungen auf sich hat. Denn häufig steuert die ARGE Leute als “leistungsgemindert” zwischen 3 - 6 Stunden oder “nicht erwerbsfähig” aus dem SGB II aus.

Sinnvoll ist, sich vor einem Besuch beim ärztlichen Dienst der Arbeitsagentur vor einer psychologischen Untersuchung sich einer Patientenverfügung (PatVerFü) mit einer Vorsorgevollmacht zu befassen und eine solche auszufüllen. Erklärung und Mustervollmacht stehen unter http://www.patverfue.de/. Eine PatVerFü9 unterbindet die Erstellung psychiatrischer Diagnosen, untersagt Behandlungen gegen den Willen des Betroffenen und stellt klar, welche Behandlung er_sie wünscht und wen er_sie als Vorsorgebevollmächtigten einsetzt. Die PatVerFü muss bei einer Gerichtsverhandlung vom entsprechenden Richter berücksichtigt werden. Nach Ansicht des Werner-Fuss-Zentrums10 verhindert die (ordentlich gemachte) PatVerFü rechtswirksam gerichtliche Anordnungen, seien es Zwangseinweisungen oder -betreuungen, da Richter sich an das Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29.07.200911 halten müssen. Unwirksam ist die PatVerFü bei Strafverfahren und Zwangsbegutachtungen lt. § 126. Nur dadurch können Zwangsbegutachtungen gegen eine existierende PatVerFü erzwungen werden, weil in diesem Fall ein Patt entsteht: Zwei Gesetze widersprechen sich und dann - und nur dann - hat der Richter sozusagen “freie Wahl”, an was er sich halten will. Es handelt sich um eine (sozusagen garantierte) Verhinderung von zwangspsychiatrischen Handlungsmöglichkeiten. Das Gericht muss feststellen, ob eine PatVerFü vorliegt. Ist das der Fall, hat es der Richter besonders einfach. Sobald eine PatVerFü vorgelegt werden sollte, kann das Verfahren sofort eingestellt werden. Am besten immer, ein Original der PatVerFü bei sich tragen noch vor dem Richter wissen Ärzte dann, “was gespielt wird”, und ihnen fällt eine Entscheidung leicht. Eine Pat VerFü kann Untersuchung und Diagnose untersagen. Die Untersagungsmöglichkeit einer Untersuchung ist explizit im neuen Gesetz angeführt (www. patverfue.de/gesetz.html).   

Verständigung suchen

Als sinnvoll erscheint es außerdem, sich mit qualifizierten Sozialpädagog_innen zum Sinn und Zweck der Maßnahme im speziellen Einzelfall zu unterhalten, um das genaue Ansinnen der Behörde besser durchblicken zu können. Hierzu werden Ansprechpartner_innen empfohlen, die sich als antipsychiatrisch betrachten, und Anlaufstellen bzw. Mitarbeiter_innen empfehlen können, die sich nicht als “Staatsdiener_innen” betrachten. 

Beistand mitnehmen

Ist ein Termin bei einem Facharzt für Psychologie, Psychiatrie und/oder Neurologie kurzfristig angesetzt, muss niemand allein zum Amts-Arzt gehen, auch nicht zu diesem. Die Mitnahme eines Beistandes nach § 13 Abs. 4 SGB X ist empfehlenswert. Seinen Namen muss der Beistand nicht nennen. Es besteht keine Pflicht, aktenkundig zu werden. Eine abschließende Anzahl der Beistände findet sich in der Gesetzesauslegung nicht. Mit Beistand kann u.U. eine Begutachtung mit Diagnose vermieden werden. Auf jeden Fall können aber die Behauptungen des jeweiligen Facharztes über das Verhalten und die Aussagen des Betroffenen mittels des Beistandsberichtes in sozialrechtlichen Prozessen in Frage gestellt werden. Psychologische Gutachter_innen lehnen meistens einen Beistand ab. Sie berufen sich dabei auf eine Empfehlung eines Fachdienstes. Deshalb ist eine Abwehr einer solchen Begutachtung durch Klärung des Sachverhalts, vorsorglichen Widerspruch an das Fallmanagement oder eine Dringlichkeitsklage beim Sozialgericht unausweichlich. Kommt erst ein amtsärztliches Gutachten zustande, kann guter Rat tatsächlich teuer werden, denn Gegengutachten und u.U. gerichtliches Prozessieren kosten Geld. 

Was tun?

Nach den schlechten Erfahrungen, die inzwischen Erwerbslose mit Diagnosen und anderen Folgemaßnahmen gesammelt haben, empfehlen viele, zwar zum Termin zu gehen, aber dort nichts zu sagen. Im Prinzip könnte jede_r auch eine Begutachtung ablehnen/ vermeiden, denn formal gesehen erschien sie_er zum Meldetermin. Allerdings ist hier Vorsicht angesagt, denn neuerdings wird in den Sperrzeitandrohungen der Arbeitsagentur vermerkt, dass die Mitwirkung bei einer ärztlichen Untersuchung (medizinische und/ oder psychologische) nach § 65 SGB I sich auf A. das Erscheinen und B. die Untersuchung erstreckt. Hier muss taktisch und mit Plan A und Plan B vorher genau überlegt werden, in welcher Art und Weise die 50 Minuten Begutachtung verstreichen sollen und ggfs. welche Papiere des Hausarztes ausgehändigt werden. Sind erst einmal Diagnosen gestellt, kann nur noch nach Akteneinsicht auf die Löschung der Eintragung in den (elektronischen) Akten geklagt werden. Eine PatVerFü mit Vorsorgevollmacht kann auch sowohl zur Arbeitsagentur, zum Fallmanager als auch zum ärztlichen Dienst der Arbeitsagentur mitgenommen werden. Wird dies jedoch als Ablehnung einer Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit sanktioniert, dann ist Klage vor dem Sozialgericht unausweichlich.

Prinzipiell ist es wichtig, Erscheinungen der “Psychiatrisierung von Erwerbslosen” und Beschäftigten vor dem Hintergrund der Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich und der Entwicklung von Krankenkassen zu Versicherungskonzernen genauer im Auge zu behalten und grundsätzlicher zu diskutieren. Um die Dimension solcher Entwicklungen bundesweit einschätzen zu können, bitten wir Euch, an die E-Mail-Adresse: schischimo7@gmx.de Eure Erfahrungen mit dem Problem zu schildern. Anliegen ist es, eine an Beispielen belegte Dokumentation zu verfassen.

V.i.S.d.P.: Runder Tisch gegen Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung, c/o K. Blume, Heidelbeerweg 5, 12526 Berlin. 

1) HEGA 04/08 - 20 - Dienstleistungen des PD für die Integrationsfach-kräfte in ARGEn / AagAw, Geschäftszeichen: SP II PD – II- 1910.2, Gültig ab:20.04.2008 Gültig bis 31.12.2010 Weisungscharakter: nein unter: http://www.bundesagenturfuerarbeit.de/nn_176696/zentraler-Content/HEGA-Internet/A10-Fachdienste/Dokument/HEGA-04-2008-VG-Dienstleistungen-PD.html

2 Hey, Hans-Dieter: Wieder arges EDV-Programm in den ARGEn Murks bei Olaf Scholz, in: Neue Rheinische Zeitung, Rubrik: Arbeit und Soziales unter: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14138

3 Nelli Kemper: Es ist ein rechtsfreier Raum entstanden, in: junge welt, 30. 11. 2009

4 Psychische und Verhaltensstörungen http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2009/chapter-v.htm

5 Schriftverkehr von A. Skugar mit der ARGE Friedrichshain-Kreuzberg http://alex-sk.de/prozesse/BA3.html

6 Anmerkung: Solidarität zum “Helfersyndrom”. Linke Gesinnung als pathologisches Phänomen (siehe K. Bonhoeffer: Vgl.: Halmi, Alice: Kontinuitäten der (Zwangs-) Psychiatrie. Eine kritische Betrachtung, Berlin, 2008, S. 109, 172, 179, 183, 187 unter: http://www.irrenoffensive.de/kontinuitaeten.htm). Einkommensarmut erscheint als soziale Abweichung (Entartung/ Degeneration) Dieselbe S. 18ff, S. 37 unten, 40.

7 Ralph Hötte, Frank Konopatzki (Bericht): “Behindert nach Aktenlage”, WDR, Monitor, 13. August 2009, http://www.wdr.de/tv/monitor/sendungen/2009/0813/behindert.php5

8 http://www.psychiatrie-erfahrene.de/, www.irrenoffensive.de

9 “Schlupfloch aus und vor der Zwangspsychiatrie, Nachfragen der quer-Redaktion”, in: Arbeitslosenzeitung quer, November 2009

10 www.zwangspsychiatrie.de

11 § 1901a Patientenverfügung Abs. 1-3, 3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29.07.2009, in: BGBl, Jg. 2009, Teil I Nr. 48, Seite 2286-2287 und § 1904 Abs. 4 Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bei ärztlichen Maßnahmen, ebenda.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel von der Autorin für diese Ausgabe.

Der Vortrag wurde stark gekürzt in dem Seminar “Was tun, wenn ich nicht funktioniere” am 12./13.11.2010 im Mehringhof in Berlin gehalten.

  Den Vortrag als PdF-Datei laden.