Gespenster der Vergangenheit
Berlin-Zehlendorf, 18. Dezember 2009, im siebzigsten Jahr der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Nazideutschland

von Antonín Dick

12/09

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Schneegestöber, Menschenauflauf, Polizeieinsatz: amtliche Einweihung einer Stele in Erinnerung an die Errichtung der „SS-Kameradschaftssiedlung Krumme Lanke“ an der Zufahrtsstraße „Teschener Weg“, benannt nach der immer noch nicht vom Bezirksamt umbenannten Hitlereroberung von Český Těšín / Cieszyn, einer tschechisch-polnischen Grenzstadt, im Jahre 1939 zu „Teschen“ germanisiert.

Die SS-Funktionärssiedlung wurde zwischen 1938 und 1940 von der Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Angestellten-Heimstätten (GAGFAH) errichtet, der sie heute noch gehört, „Seit langem ist es schon mein Wunsch, für die drei SS-Hauptämter in Berlin eine geschlossene Siedlungsanlage zu schaffen, in der die Angehörigen der SS ausreichenden und gesunden Wohnraum finden, der insbesondere den Aufstieg der Familie zu fördern geeignet ist“, schrieb Reichsführer SS Heinrich Himmler am 2. Juni 1937 an das Reichsarbeitsministerium, das ihm per „Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit“ Billigarbeitskräfte zur Verfügung stellte.

Formelhaft-sakral die Einweihungsrede der Zehlendorfer Kulturstadträtin Cerstin Richter-Kotowski, fälschend-jovial das Referat des Architekturforschers und Gedenkstelentextautors Wolfgang Schäche. Daß mit dieser Siedlung das Nazikonzept „Zurück zum Dorf! Zurück zur Ständegesellschaft des Mittelalters!“ umgesetzt wurde, und dies militarisiert mit Betonstraßen und Luftschutzkellern, übergeht er und suggeriert, die Siedlung sei ein Beispiel für urbane Gartenstadtkultur. Die SS ein Wegbereiter der Moderne? Es ächzen die zwischen den volkstümelnden Bauernhäusern stehenden Blautannen, die wegen ihrer nordamerikanischen Herkunft damals hier nicht leben durften.

Schneegestöber, Wortgestöber …

Was auffällt: Kein Repräsentant der GAGFAH als Gedenkredner. Das hat Gründe: Mindestens 15 Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat der GAGFAH waren hohe bis höchste NS-Würdenträger. Bis heute wird die enge Verflechtung von GAGFAH, NSDAP, SS und NS-Staat verschwiegen, die Einsetzung einer Unabhängigen Historischen Kommission verhindert.

SS-Brigadeführer Herbert Backe, Leiter des „Siedlungsamtes im Rasse- und Siedlungshauptamt SS“, vertrauensvoller Kooperationspartner der GAGFAH beim Bau dieser Siedlung; Johann Wilhelm Ludowici, Mitglied des Aufsichtsrates der GAGFAH, Leiter des Reichsheimstättenamtes und Siedlungsbeauftragter der NSDAP für ganz Deutschland im Verbindungsstab des Stellvertreters des Führers; NSDAP-Aktivist Willy Marschler, Vorsitzender des Aufsichtsrates der GAGFAH und von 1933 bis 1945 Ministerpräsident des Landes Thüringen. Weiter? Holte als Landessiedlungschef 1935 die GAGFAH-Zentrale nach Weimar, und mit dem Aufbau des KZ Buchenwald standen ihm und der GAGFAH eine der größten Sklavenarmeen Deutschlands zur Verfügung. Weiter? Baukosten der Siedlung, auch nach Schäches Architekturkompendium, angeblich unbekannt. Im Gedenkstelentext steht nichts von alledem. Als schuldig identifiziert wird einzig und allein der Oberbürgermeister von Berlin, genauer gesagt, seine Unterschrift, und aus der GAGFAH, die sich bis heute weigert, ihre Geschäftsbücher aus der Nazizeit zu veröffentlichen, wird unversehens ein unschuldiges Opfer der SS – dies die Quintessenz des auch von den Zehlendorfer Sozialdemokraten und Grünen beschlossenen Gedenkstelentextes.

Wenige Tage vor Einweihung der Gedenktafel Spuk am Führerplatz, pardon, Selmaplatz, Gewisper in und vor den kleinen Läden, ein meldender Anwohner hinter vorgehaltener Hand: „Die Juden! Die Juden haben das ausgeheckt! Die Juden wollen nicht, daß sich die Wunden schließen!“ Wie eine Anfrage ergab, hat die Jüdische Gemeinde zu Berlin nicht einmal etwas gewußt von diesem Gedenkspektakel.

Rotarmisten befreiten 1945 auch dieses Viertel, die SS-Männer entzogen sich ihrer Verantwortung durch Flucht. Die Alliierten sorgten dafür, daß hier Naziverfolgte einzogen: Häftlinge der Lager und Zuchthäuser, Widerstandskämpfer, ausgebombte Nazigegner, jüdische Illegale und politische Emigranten. Einige der Überlebenden wohnen nach wie vor in diesem Viertel. Befragt worden sind sie zur Gedenkstele nicht, weder zur Idee noch zum Text.

Was hinter dem Gedenkpulk gerade geschieht, wo sich die Siedlung still hinstreckt bis zum Grunewald? Ein Ächzen der Anwohner, denn die GAGFAH führt großen Stils nicht nur Ansehens-, sondern auch Mietssteigerungen durch. Kürzlich ist ein arbeitsloser Angehöriger der Zweiten Generation des Befreiervolkes aus seiner Wohnung gedrängt worden, nicht ohne höflichen Hinweis von GAGFAH und Jobcenter auf seine nichtdeutsche Herkunft. Ein russisch-jüdischer Wohnungsunternehmer rettete ihn und seine Habe. Die Juden, ja, wieder die Juden. Ratlos schaut man unwillkürlich nach oben, doch plötzlich Gesichter im Schneegestöber, hoch über dem Gedenkpulk Backe, der sich nach 1945 entleibte, Ludowici, der spurlos verschwand, auch Marschler, der sich mittels Westflucht verflüchtigte, und all die anderen GAGFAH-isten, für eine Sekunde sogar der durch Selbstvergiftung verschwundene Himmler, keine Fratzen, keine Bestien, sondern ganz normale Menschengesichter, die, wenn man sie …
 

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel und das Foto vom Autor.