Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen
Erste Schlussfolgerungen

12/09

trend
onlinezeitung

Am 24.12. 1979 verstarb Rudi Dutschke an den Spätfolgen des faschistischen Mordanschlags auf ihn zu Ostern 1968 in Westberlin.

Wenngleich sich Rudi Dutschke im Gründungsprozess der Grünen - von heute aus schwer nachvollziehbar - auch an der Seite von konservativen Kräften engagiert hat, so bleibt er doch ein wichtiger Theoretiker, dessen Analysen über die Entwicklung der Sowjetunion verbunden mit einer solidarischen Kritik an Lenin noch heute ihresgleichen suchen.

Wir reprinten seine "Schlussfolgerungen" nicht nur weil darin die Konsequenzen aus seiner Doktorarbeit gezogen werden, deren Studium wir dringend empfehlen,  sondern gerade auch deshalb, weil wir hoffen, dass Rudi Dutschkes Untersuchungansatz für eine zeitgenössische Begründung einer Alternative zum Kapitalismus allemal tauglicher ist, als das was die verschiedesten Zusammenhänge und Organisationen bisher dazu vorgelegt haben. Denn schließlich ist es eine Binsenweisheit, dass der Kommunismus nicht nur aus der Kritik der politischen Ökonomie abzuleiten ist, sondern auch aus der Analyse der Kämpfe um diese menschenwürdige Gesellschaft, was ja wohl die Analyse ihrer Fehler einschließt.

Es ist hier schon verschiedentlich von der Rolle einzelner Menschen für den Gang der Geschichte gesprochen worden. Das heißt aber nicht, und für historische Materialisten ist das eine Binsenweisheit, daß wir jetzt in einer Art umgekehrtem Personenkult den Zeigefinger erheben und auf Stalin richten, in der »Hoffnung«, in seinen persönlichen Fehlern die Fehler der sowjetischen Entwicklung dingfest gemacht zu haben, allenfalls noch Lenin in die Kritik mit-einbeziehen. Ich kann hier nicht die Diskussion führen, an welchen zeitlichen Punkten und durch welche verschiedenen objektiven Umstände die sowjetische Gesellschaft immer noch und immer wieder einen anderen Weg hätte nehmen können oder warum sie und wann sie immer tiefer in die Entwicklung geriet, die wir vor Augen haben und die sie so hoffnungslos weit entfernt hat von den Zielen ihrer Anfänge.


Rudi Dutschke
Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen
Westberlin 1974, S.332ff

Wer nun allerdings sagt, daß die internationale Lage, die ständige Bedrohung der jungen Sowjetunion durch das weltweite Kapital einen anderen Weg als den gegangenen nicht zuließ, dem ist zu antworten, daß marxistisches Determinismusverständnis dialektisch und nicht mechanisch ist. Das heißt: in jeder geschichtlichen Lage ist ein Rahmen von objektiven Möglichkeiten gegeben und damit ein Spielraum für unterschiedliche Entscheidungen. Ob beispielsweise gegen Faschismus proletarischer Internationalismus geübt oder bürgerliche Außenpolitik betrieben wird, das ist keine Frage opportuner Diplomatie, das ist eine Frage der innergesellschaftlichen Struktur. Die Bücher darüber müssen in der Sowjetunion geschrieben werden.(1) Sie sind für uns nützlich; es sind aber nicht die Bücher, die wir über unsere Vergangenheit und für unsere Zukunft zu schreiben haben. Um die Bolschewiki richtig verstehen zu können, ist es wichtig, nicht bei der Kritik an Lenin stehenzubleiben, sondern zurückzugehen zu den theoretischen und praktischen Anfängen des Sozialismus, um über diesen Weg dann schließlich wieder bei aktuellen Problemen zu landen. Dazu ist es nötig, die Geschichte des Sozialismus und die Geschichte des Sozialismusverständnisses ihrerseits dialektisch zu sehen. Das empfiehlt uns Karl Korsch.(2) Und er formuliert das im klassischen Dreischritt der Dialektik so: »Thesis: Utopischer Sozialismus. Antithesis: Wissenschaftlicher Sozialismus<. Synthesis: Die Abschaffungen, die die Anschaffungen sind.« Der »utopische Sozialismus«, das sind die »Schwärmer« von der Freiheit im 19. Jahrhundert, mit ihren phantastischen Entwürfen und Projekten einer kommunistischen Gesellschaft. Marx und Engels versuchten, diese Utopien auf die Begriffe der politischen Ökonomie zu bringen, die Träume zurückzuholen in die Realität der Gesellschaft und der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung, darum also »wissenschaftlicher Sozialismus«. Wobei dann der Traum vom Kommunismus, der mehr ist als der Vorentwurf der in der derzeitigen Realität angelegten Entwicklung, allmählich unterging.

Das bringt uns mit Korsch zu einer Kritik an den Anfängen des Marxismus selbst, zu einer Kritik an Marx, der glaubte, mit den Utopisten endgültig abgerechnet zu haben und damit eine wichtige Dimension aller Freiheitsbewegungen in Entsinnlichung und Intel-lektualisierung untergehen ließ. Die Folge, sagt Korsch, war die Spaltung der sozialistischen Bewegung und Theorie einerseits in »abstrakten Anarchismus«, andererseits in »sozialistische Weiterentwicklung des Kapitalismus«. Was heißt das? Daß Marx bei aller Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus selbst in den Kategorien des Kapitalismus befangen blieb. »Man kann die Marx als Sozialismus vorschwebende Planwirtschaft so auffassen, daß sie nur die alte Vernunft der Warenproduktion verwirklicht...«. »Wie Hegels Philosophie der Ausdruck einer schon bestehenden Restauration ist, so wäre Marx die antizipierte Restauration einer noch bevorstehenden Revolution.« (Alles Korsch) Marx negiert die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, geht aber noch nicht dazu über, die sozialistischen Freiheiten zu bestimmen. Die sozialistische Bewegung selbst wiederholt darum wesentliche Momente der kapitalistischen Arbeitsteilung. Arbeitsteilung in Kopfarbeit und Handarbeit; in Politik auf der einen, Ökonomie auf der anderen Seite; in hie Gewerkschaften, dort politische Massenbewegung; hier Bernstein, dort Rosa Luxemburg; hier »Reform« und dort »Revolution«. Mechanisches Geschichtsverständnis ist das Ergebnis. Die reale Geschichte der Sowjetunion (und später die der Länder des »Warschauer Paktes«), soviel ist gewiß, steht der »sozialistischen Weiterentwicklung des Kapitalismus« näher als der Verwirklichung der neuen Qualität der Freiheit. Die Einheit von wissenschaftlichem Sozialismus und aufgehobenem und nicht weggeworfenem utopischen Sozialismus, das ist bei Korsch die Synthese der »Abschaffungen, die die Anschaffungen sind«. Abschaffung des Herrschaftsstaates und Abschaffung der Lohnarbeit als höchstes Ziel. Entwicklung konkreter Übergangsprogramme, damit die historischen Schritte immer auch Schritte der Annäherung an eben diese Utopie sind. Diese Programme haben wir nicht. Wir brauchen sie. Wir brauchen sie jetzt.

Ein rückständiger Ethnologe konnte noch in den 20er Jahren sagen: »Ein Mensch ohne Staat ist allerhöchstens ein Halb-Mensch.« »Ein Mensch mit Staat« ist in der Gegenwart auf dem Wege, ein Halb-Mensch des 20. Jahrhunderts zu werden. Sozialismus mit konkreter Freiheit oder modernisierte Barbarei - das ist erneut die Frage.

Anmerkungen

1)  u. a. ist dafür lesenswert, insbesondere auch für Genossen, soweit sie etwas anderes als Bestätigungen zu ertragen imstande sind, das Buch »Das Jahrhundert der Wölfe«, Frankfurt, 1971, von Nadeschda Mandelstam, der Witwe des russischen Lyrikers Ossip Mandelstam, keine Sozialistin, aber eine Autorin, die Fragen nach den innerrussischen Gründen der Verfolgung stellt, um deren Beantwortung so leicht kein Sozialist herumkommen kann, dem es mit dem Kommunismus als Realisierung der Freiheit ernst ist.

2) In seinem Entwurf zum »Buch der Abschaffungen«, einem rund 30 Seiten langen, noch ungedruckten Manuskript aus den frühen fünfziger Jähren, aus der Zeit also, in der sich Korsch intensiv mit Problemen der Gesellschaften im Übergang zum Sozialismus beschäftigte.

Ulrich Chaussy über Rudi Dutschkes Dorktorarbeit

Drei Jahre lang quälte sich Rudi Dutschke mit seiner Doktorarbeit herum. Sie war eine doppelte, eine aufzehrende Herausforderung. »Moralisch fiel es mir schwer, diese Studie, an der ich jahrelang gearbeitet hatte, dazu zu gebrauchen, den Titel eines >Dr. phil.< zu erwerben. Mein inneres Selbstverständnis sprach dagegen.

Dienstag, den 15.12.2009, 20.30 Uhr
Aufrecht Gehen
Rudi Dutschke - Spuren

Dokumentarfilm von Helga Reidemeister, BRD 1988 16, 92 Minuten [Mehr..]

Freunde, Genossinnen und Genossen, und auch Gretchen sagten übereinstimmend: >Vergiß nicht, die Bourgeoisie und viele andere wollen dich als >Ausgeschiedenen< als >Arbeitsunfähigen< exemplarisch denunzieren. Zeig denen nicht nur ein Buch, das vielleicht erst nach Jahren in der sozialistischen Diskussion anerkannt sein wird, absolviere damit gleich auch noch die Prüfungen an der Freien Universität!<«

Das Thema war keine akademische Pflichtübung, sondern der Versuch Dutschkes, die für ihn dringlichste politische Frage zu klären. Düsterer noch als in seinen frühen Aufsätzen über die Sowjetunion sah er deren Rolle seit der Niederschlagung der sozialistischen Erneuerung in der CSSR durch die Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968. Kritische Abgrenzung war nötiger denn je. Die antiautoritäre Studentenbewegung zerfiel. Der SDS löste sich im September 1969 selbst auf. Eines der ersten Spaltprodukte dieses Auflösungsprozesses wurde die DKP, die eilends versicherte, der Einmarsch der Roten Armee und der Bruderarmeen des Warschauer Paktes sei erfolgt, um das tschechoslowakische Volk vor einer Konterrevolution, einem Rückfall in den Kapitalismus zu retten. »Am allermeisten machte mir die Wendung so vieler SDSler meiner Generation zu schaffen«, schrieb Dutschke 1977 rückblickend. »Am 21. August 1968 waren noch so viele bei der Demonstration gegen die Okkupation der CSSR durch die Armeen des Warschauer Pakts dabei. Kurz danach aber wurden diese Leute >Marxisten-Leninisten<. Es quälte mich in den nächsten Jahren darum immer mehr die Frage, wie Sozialisten-Kommunisten demokratischen Typs zu >Marxisten-Leninisten< werden können. War die Erbschaft der bürgerlichen Revolution, die Demokratiefrage, nicht ernst genommen worden? In dieser Not stand für mich nur eine Wendung zur Debatte. Es war die Notwendigkeit, sich erneut an die Wurzeln und Resultate der >Großen Oktoberrevolution heranzuarbeiten.«

Mitte 1974 promovierte Dutschke mit seiner Arbeit »Zur Differenz des asiatischen und europäischen Weges zum Sozialismus« an der Freien Universität Berlin zu Dr. phil. Rudi Dutschke. Noch im August dieses Jahres erschien die leicht umgearbeitete Dissertation unter dem Titel »Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen« als Buch.....

Enttäuscht war Dutschke über die Aufnahme seines Buches innerhalb der Linken. Unübersehbar war, was er geschrieben hatte, linke, marxistische Kritik an der Oktoberrevolution, an Lenin: Eine detailgenaue Untersuchung der russischen Gesellschaft vor der Revolution nach marxistischen Kriterien war sein Ausgangspunkt. Die Fragen: Wie wurde produziert im vorrevolutionären Rußland? Unter welchen Bedingungen wurde in Landwirtschaft, im Handwerk, in der erst beginnenden Industrie gearbeitet? Wer eignete sich die Arbeitsprodukte an und in welcher ökonomischen Form lief diese Aneignung ab? Das Ergebnis war: Nach der von Marx getroffenen Unterscheidung von Gesellschaftsformen durch ihre Produktionsweise fanden Lenin und die Bolschewiki im zaristischen Rußland weder eine feudalistische noch eine kapitalistische, sondern eine asiatische Produktionsweise vor. Das im Umkreis einiger Städte bereits entstandene Industrieproletariat machte nur eine verschwindende Minderheit der russischen Bevölkerung aus. Die große Mehrheit der Bauern und Handwerker kannten weder Privateigentum an Boden oder Produktionsmitteln noch Lohnarbeit, Warenproduktion und entwickelten -austausch. »Eine Produktionsweise, die sich in den voneinander isolierten Dorfgemeinschaften stagnierend bewegte, hielt die Entwicklung der Produktivkräfte und der >Zivilisation< niedrig. (. . .) Daß in einem Gesellschaftstypus, in welchem autarke Dorfgemeinschaften isoliert voneinander sich reproduzieren, die bedroht werden durch >ausländische< Intervention, durch regelmäßig auftretende Überschwemmungen im Bereich großer Flüsse etc. - daß solche Dorfbewohner einer besonderen Staatsform >bedürf-tig< wurden, ist selbstverständlich. Die besondere asiatische Staatsform dieser Epoche bildet sich in einem langen und schmerzvollen Prozeß voller Kämpfe heraus.« (Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, S. 35.)

Dutschke argumentierte, daß sich auf dieser wirtschaftlichen Basis auch nicht ein politisches Selbstbewußtsein der Produzenten erheben konnte, wie das in der den Feudalismus sprengenden bürgerlichen Revolution Westeuropas der Fall war. Dort entstanden die Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, um die kapitalistische Produktionsweise gegen hemmende Feudalverhältnisse durchzusetzen. Diese Forderungen, letztlich im Kapitalismus für die Arbeiterklasse nicht einlösbar, wiesen mit der Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit über die bestehende kapitalistische Ordnung hinaus - auf den Sozialismus. In ihm erst ließen sich die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft in gesellschaftliche Realität umsetzen. Weit entfernt von diesen Voraussetzungen sieht Dutschke das zaristische Rußland. Der den Bolschewiki zur Unzeit gelungenen militärischpolitischen Machtübernahme entsprach kein von unten entwickeltes, sozialrevolutionäres Bedürfnis der Massen nach Sozialismus. Anstatt die ökonomische und politische Form der Umwälzung auf die Bedürfnisse der tatsächlich unter dem Zarismus leidenden, potentiell revolutionären Bauernschaft abzustellen, folgerte Dutschke, sei der Sozialismus zur Unzeit nur durch die Erziehungsdiktatur der Kommunistischen Partei zu erreichen gewesen. Ihren politisch-organisatorischen Ausdruck habe diese Entwicklung in der leninistischen Parteistruktur, im sogenannten demokratischen Zentralismus gefunden. Gerade deshalb bestehe heute für westeuropäische Sozialisten und Kommunisten nicht der geringste Anlaß, dieses leninistische Parteimodell wieder zu beleben. Damit bezog Dutschke bereits wieder Stellung zur aktuellen Entwicklung der Linken in der Bundesrepublik. Ehemals antiautoritäre Genossen präsidierten diversen Zentralkomitees. Die Unterschiede in der Einschätzung der bundesdeutschen Verhältnisse entschied sich vorwiegend an der Frage, ob die Genossen mehr dazu neigten, ihre Sichtweise eher der Einschätzung der sowjetischen oder eher der chinesischen Genossen anzugleichen. Entsprechend fielen die Reaktionen auf das Lenin-Buch aus. Dutschke mußte sich staunend daran gewöhnen, von den jeweils verschiedenen Organisationen nicht mehr als ein abgrenzende Etikette verpaßt zu bekommen. Die erhofften inhaltlichen Diskussionen konnte er nicht auslösen. Seine in der erzwungenen Abgeschiedenheit erarbeiteten Thesen erwiesen sich als sperrig und störend im hektischen politischen Geschäft, in dem er keine Rolle mehr spielte, keinen Posten bekleidete, keinerlei Einfluß besaß.

Quelle: Ulrich Chaussy, Die drei Leben des Rudi Dutschke,Darmstadt 1983, S. 310ff

Texte von Rudi Dutschke bei INFOPARTISAN