Ungefähr siebzig Jahre vor
dem bereits zelebrierten Nationalen Bildungsgipfel (NBG) im
Bundeskanzleramt, am 19. Dezember 1938, trafen sich im Hause
des Malers und Juristen Fred Uhlmann in London eine Handvoll
hochherziger Intellektueller, Vertriebene aus Deutschland wie
Johann Fladung, Alfred Meusel, Gerhard Hinze, Jürgen Kuczynski,
Ernst Hermann Meyer, Alfred Kerr, Oskar Kokoschka, Berthold
Viertel und Stefan Zweig, um den Freien Deutschen Kulturbund
in Großbritannien (FDKB) zu gründen.
Einmütig wählten die
Gründungsmitglieder die vier Letztgenannten zu ihren
Präsidenten. Der FDKB verstand sich als überparteiliche
Flüchtlingsorganisation, die sich zur Aufgabe stellte, Kultur,
Bildung und Wissenschaft gegen die Nazibarbarei zu
verteidigen, sich für die Lebensinteressen der Flüchtlinge
einzusetzen, solidarisch mit anderen Flüchtlingsorganisationen
zusammenzuarbeiten und das gegenseitige Verständnis zwischen
den Flüchtlingen und dem englischen Volk zu vertiefen.
Repräsentanten der britischen Gesellschaft, von Labour bis zu
konfessionellen Institutionen, förderten dieses Kulturprojekt.
So stellte der Schriftsteller Walter Hudd seine Wohnung
dem Vorstand des Kulturbundes als Büro zur Verfügung, später
übergab die Anglikanische Kirche dem Kulturbund ein Haus in
der Upper Park Road 36 in Hampstead, einem im Nordwesten
Londons gelegenen Stadtteil, in dem unzählige Emigranten
Zuflucht gefunden hatten. Im Mai 1940 wurden bereits über 1200
deutsche Emigranten und über 100 Briten als Mitglieder
registriert. Die ersten Ortsgruppen außerhalb Londons
entstanden in Birmingham, Glasgow, Leeds, Manchester und
Oxford. Ihre Zahl erweiterte sich bis 1944 um zwölf weitere
Ortsgruppen, darunter um die in Royal Leamington Spa, die
meine Mutter Dora Dick gegründet hatte.
Es war dies keine
wohltemperierte Veranstaltung mit Bankett und Proporz, es war
eine geistige Barrikade, die im freien London eilig errichtet
wurde. Man wollte kämpfen, sich nicht in der Ferne geistig
abschlachten lassen. Und man kämpfte. Aber trat man in den
Kampfpausen aus der Barrikade heraus, entstanden die kühnsten
Ideen, die weit über das hinausgingen, was die Sehnsucht nach
dem Sieg über Hitler hergab.
Das Beispiel Oskar Kokoschka, des Maler-Schriftstellers,
der mit einer Fünf-Pfund-Banknote nach London floh. Am 5.
Mai 1938 zerschnitt die Gestapo im besetzten Wien ein Bild
von ihm. Am 1. Oktober 1938 marschierte die Wehrmacht in
die Tschechoslowakei ein, worauf der Reichssender Breslau
Kokoschka unverhohlen drohte: „Wenn wir nach Prag kommen,
wirst du am ersten Laternenpfahl hängen.“ Seine Prager
Lebensgefährtin Olda Palkovska orderte die Flugtickets.
|
|
„In den hundert Jahren unserer
technischen Zivilisation hat der Mensch mit dem
Abstimmungszettel, den wir Bürger nennen, seine Erziehung vom
Staat erhalten, dem weniger an den christlichen Tugenden und
mehr an der genügend rationalen Ausbildung des Einzelnen
gelegen ist, um ihn mit Nutzen in den Prozess der
Industrialisierung einzustellen“, „Ein unvorbereitetes
Staatsbeamtenheer, welches zum wenigsten aus
Menschheitslehrern und zumeist aus intellektuellen Taglöhnern
besteht, hält Schule, wie es die politische Tagesordnung
vorschreibt“, „Soziale Planung führt in die Irre, wenn sie das
Prinzip des schöpferischen Menschen leugnet, welches heißt,
daß sich logische Vorgänge und Vorstellungskraft gegenseitig
ergänzen“, „Die neue kapitalistische Politik bewegt sich auf
der rein mechanischen Ebene“, „Der Ursprung der mentalen Krise
ist ein Schrumpfungsprozeß der menschlichen Fähigkeiten. Wer
nicht mehr an die Ethik seiner Arbeit glaubt, ist unfähig,
Arbeit zu vergeben, zu finden und zu gestalten. Das würde
bedeuten, daß die Unfähigkeit zur Arbeit notwendigerweise zum
Krieg führen müßte, denn nützliche soziale Arbeit, das ist
Frieden“, „Ein demokratischer Schulpakt müßte die raison
d’être dieser Gesellschaft sein“ – mit solchen und ähnlichen
Postulaten und Erfahrungssätzen trat der Bildungsforscher
Oskar Kokoschka auf den Plan, sich stark machend für eine
Revolution des gesamten Bildungssystems in den
Industriestaaten, für, um im Bild zu bleiben, die Erstürmung
aller möglichen NBG, gleichgültig welcher Nationalität. „Eine
größere Revolution der Menschheit gegen Tyrannei und Barbarei
als der Sturm auf die Bastille könnte die Einführung der
allgemeinen, freien und obligatorischen Elementarschule sein“,
so fasste Kokoschka die Ergebnisse seiner langjährigen
Forschungsarbeit zusammen. In Beiträgen für die „Freie
Deutsche Kultur“, die Monatszeitschrift des FDKB, in
Rezensionen, Essays, Briefen und theoretischen Fragmenten
entwarf er das Bild eines schöpferischen Zeitalters, das die
Naturvoraussetzung einer Gesellschaft – den einzelnen,
unverwechselbaren Menschen – für unantastbar erklärt, damit
Bildung endlich aufhört, fremdbestimmt zu sein.. Es „hat die
staatlich kontrollierte Volkserziehung die Umformung des
menschlichen Geistes zum Ziel“, so charakterisierte er in
seiner „Bittschrift eines ausländischen Künstlers an das
gerechte Volk von Großbritannien um einen sicheren und
gerechten Frieden“ das gegenwärtige Bildungssystem. „Bevor ein
neues Mitglied von der industriellen Gesellschaft akzeptiert
wird, muss es sich den Initiationsriten des mechanischen
Denkens unterziehen. Dies ist ein schmerzlicher Prozess
geistiger Umformung, der – nicht ohne harten Kampf des Opfers
unfreiwilliger Gedankenkontrolle – in der Volksschule sich
vollzieht. Es gilt nicht mehr als Kennzeichen eines gesunden
Geistes, die Welt als Ganzes, als den spontanen Ausdruck eines
lebenden Wesens, einer Zukunft im Farbenschmuck mannigfacher
Kultur, fruchtbarer Phantasie eines persönlichen Ich, als das
Wunder unseres schöpferischen Geistes zu verstehen. Aber nur
einem Erzieher von heute, einem studierten Menschen, gelingt
es, ein Kind zu bewegen, an ‚tote Dinge, tote Seelen’ zu
glauben. Tod ist sinnlos für die Jugend, die den Pulsschlag
der kosmischen Realität fühlt. Das ungeschulte Kind lebt noch
jenseits unserer oberflächlichen und verarmten Gegenwart.
Psychologische Forschungen beweisen, dass das Kind schon ein
Wissen um den Lebenszusammenhang, dessen Inhalt nur indirekt
durch Schrift und Sprache ausgedrückt werden kann, erworben
hat, bevor es durch Druck gezwungen wird, unserer
Interpretation der Wirklichkeit, die wir als logische
Kontinuität verstehen, zuzustimmen.“
Wie aber diesen meist unsichtbaren Zyklopenbau tagtäglicher
Vergewaltigung des Kindes erstürmen? Kokoschka hatte keinen
Plan, lediglich die Vermutung eines Weges, unaufhörlich
schlängelt sich dieser durch all seine bildungstheoretischen
Ansätze und Schlüsse: Zurück zu den primitiven demokratischen
Gesellschaften, denn sie gehören zu unserem kostbaren Erbe,
zurück „zum primären Instinkt, der Mensch und Tier gemeinsam
ist, nämlich eine Familie in natürlicher Umwelt aufzuziehen.“
Nicht als antizivilisatorischer Rückschlag war dies in die
Diskussion gebracht, sondern als Aufforderung, sich dieses
verschütteten Erbes zu erinnern, d. h. den Menschen wieder als
Schöpfer demokratisch organisierter Lebensprozesse zu
entdecken. Goethe beschwor eine solche primitive demokratische
Gesellschaft in seiner Kinder-Ballade „Magisches Netz“, Thomas
Mann in seiner Erzählung „Unordnung und frühes Leid“, in den
sogenannten Entwicklungsländern findet man sie zuhauf, was
nicht zuletzt junge Familienlose der englischen Mittelschicht
beweisen, die, längst erwachsen und allen Therapien zum Trotz,
eine afrikanische oder asiatische Familie verzweifelt um ihre
Adoption ersuchen, mit einem Bündel Banknoten in der Hand.
Noch weiter zurück geht der zeitgenössische irische Dichter
und Nobelpreisträger Seamus Heaney, wenn er anhand einer
Zweierbeziehung zwischen Mensch und Tier, die nur für die
Dauer eines Blickwechsels aufflammt, die ganze Not des
technisierten Menschen aufzuzeigen vermag: Der Dichter, der
einen VW steuert und unverhofft auf einen Fuchs trifft. Den
Blick des nackten Tieres in seinen Augen spürend, wird ihm,
wie er da abgekapselt in einem künstlichen Fortbewegungsgerät
sitzt, mit einem Schlag das ganze Ausmaß der Beschädigung der
Beziehungen zwischen Mensch und Tier bewusst, und er kann
plötzlich nicht mehr weiterfahren, ihn trifft der Blitz der
Erkenntnis, aussteigen, umkehren: „Laß die Wiedergeburt durch
Wasser kommen, durch Begehren, / Durch Rückwärtskriechen über
Klinikböden: / Ich muß zurück durch diese aufgescheuchte
Iris.“ Eines sehend Gewordenen Abwehr eines Angriffs auf eine
vom Untergang bedrohte Welt. „Eines Kindes Abwehr“, hätte
Kokoschka vermutlich präzisiert. „Die Wirklichkeit der
primitiven demokratischen Gesellschaft, die heute durch die
Angriffe des Industrialismus fast ausgestorben ist“, sagte er
in jener Bittschrift, „gleicht der Welt des Kindes“. Mit
Leidenschaft organisierte er in London Ausstellungen mit
Bildern von Flüchtlingskindern aus ganz Europa, während Hitler
die Stadt bombardieren ließ.
Und das Ziel? Umwälzung des Bildungssystems, global und
dezentral, Einführung der allgemeinen, freien und
obligatorischen Elementarschule im Kokoschkaschen Sinne, um
den Möglichkeiten zur Entfaltung aller schöpferischen Anlagen
des Menschen keine künstlichen Grenzen mehr zu setzen. Bis
dahin wird es allerdings noch so manche Schülerdemonstration
geben. Und so manchen NBG. Allgemein? Das heißt eine Schule,
die nicht mehr an nationale Egoismen gebunden wäre. Frei? Das
heißt eine Schule, die unabhängig vom Staat existierte.
Obligatorisch? Das heißt eine Schule, auf die jedes Kind einen
rechtmäßigen Anspruch hätte. Schulen also, wie Kokoschka
forderte, „die von einem Bunde freier Völker, nicht vom
Einzelstaat kontrolliert wären“, konkret, von einem
„Welterziehungsrat“, getragen von Schülern, Lehrern,
Erziehungsfachleuten und Wissenschaftlern aller Nationen.
Editorische
Anmerkungen
Text und Scans erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
|