Das Philosophische Wörterbuch  BAND 1

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

12/08

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Existentialismus [lat] - einflußreiche subjektiv-idealistische und irrationalistische Strömung der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie.
Der Existentialismus entstand und entwickelte sich im Zusammenhang mit den einschneidenden Krisenerscheinungen des kapitalistischen Systems (Weltwirtschaftskrise) der dreißiger Jahre zunächst in Deutschland, fand dann in Frankreich Eingang und Verbreitung und wurde schließlich nach dem zweiten Weltkrieg zu einer Art Modeweltanschauung und Modelebenshaltung breiter Kreise der bürgerlichen Intelligenz und kleinbürgerlicher Schichten in den westeuropäischen kapitalistischen Ländern (besonders in Westdeutschland, Frankreich, Italien),

Nach eigenem Eingeständnis seiner Vertreter entstand der Existentialismus «in der verzweifelten Zeit nach dem ersten Weltkrieg mit der ganzen damals über den [bürgerlichen] Menschen hereinbrechenden Unsicherheit und trägt die Spuren dieser alles ergreifenden Erschütterung deutlich an sich». Der Existentialismus verdankt seinen «erneuten Durchbruch ... den noch viel tiefer in das gesamte Gefüge unseres Daseins eingreifenden Folgen des zweiten Weltkriegs und des nunmehr totalen geschichtlichen Zusammenbruchs unserer ganzen bisherigen geistigen Welt» (O. F. Bollnow, Existenzphilosophie 1260.

Ideengeschichtlich setzt der Existentialismus bestimmte Motive der Phänomenologie, vor allem der Lebensphilosophie fort, die er radikalisiert. Als seine Vorläufer im 19. Jahrhundert gelten Nietzsche, besonders Kierkegaard. Im Gesamtprozeß der Entwicklung der Philosophie stellt der Existentialismus eine ausgesprochen reaktionäre Strömung dar, der es um die Zurücknahme der positiven Errungenschaften der klassischen bürgerlichen Philosophie von Descartes bis Hegel und Feuerbach unter gleichzeitiger Verfälschung und Bekämpfung des dialektischen und historischen Materialismus zu tun ist. Hauptvertreter des Existentialismus sind in Deutschland Heidegger und Jaspers, in Frankreich Sartre und Marcel. Weitere Vertreter des Existentialismus sind Eust, Haecker, Cuardini, Przywara, Grisebach, Häberlin, O. Becker, O. F. Bollnow, Szilasi, Gadamer, Volkmann-SchLuck; Berdjajew, Simone de Beauvoir, E. Mounier, J. Wahl, Merleau-Ponty, Kojeve; Abbagnano, Grassi u.a.

In der Literatur wird der Name «Existentialismus» oft nur zur Bezeichnung des sog. französischen Existentialismus (vornehmlich Sartre) verwendet, während die im deutschen Sprachgebiet wirkenden Existentialisten unter dem Ausdruck «Existenzphilosophie» zusammengefaßt werden. Im Hinblick auf Marcel, Wust, Haecker, Guardini, Przywara wird von christlicher Existenzphilosophie oder von einem christlichen, auch » katholischen Existentialismus gesprochen. Die Lehre Heideggers wird auch Existentialontologie oder ontologische Existenzphilosophie genannt.

Die verschiedenen Spielarten des Existentialismus gehen in ihren Betrachtungen vom Begriff der Existenz aus. Dabei vermeiden sie es, diesen Begriff näher zu bestimmen. «Die Existenz ist nichts, was man aus der Entfernung denken kann: das muß dich plötzlich überfluten, das bleibt über dir, das lastet schwer auf deinem Herzen wie ein großes unbewegtes Tier - sonst ist da gar nichts» (Sartre). Allgemein versteht der Existentialismus unter «Existenz» immer die individuelle Existenz des Menschen. Existenz kommt nur dein Menschen zu, nicht den Dingen. Sie ist die typische Seinsweise des Menschen. Als solche ist sie dem Menschen nicht gegeben, sondern nur seine Möglichkeit, die er realisieren kann oder auch nicht. Der Mensch schafft nach Ansicht der Existentialisten seine Existenz: sie ist sein «Entwurf».

In der Sprache der Existentialisten erscheint der Mensch in der Regel nicht so genannt, sondern wird als «Dasein», «Existenz», «Ich», «Fürsichseiendes» usw. bezeichnet.

Die Vertreter des Existentialismus geben vor, zum Begriff der Existenz durch ein sog. existentielles Erlebnis zu gelangen. Heidegger gibt als solches die Erfahrung des Todes (den «Vorlauf zum Tode»), Sartre den Ekel (nausée), Marcel das Mysterium als religiöses Grunderlebnis des Menschen, Jaspers die Brüchigkeit des Seins, das Scheitern des Menschen in den «Grenzsituationen» (Tod, Leiden, Schuld), O. F. Bollnow die Ungeborgenheit des Menschen an, wodurch ihre Philosophie einen ausgesprochen subjektivistischen Charakter erhält. Vom Begriff der Existenz ausgehend verwerfen die Existentialisten die erkenntnistheoretische Unterscheidung von Materie und Bewußtsein (Objekt und Subjekt). Für sie ist die Grundfrage der Philosophie ein Vorurteil der bisherigen philosophischen Entwicklung. Der Existentialismus setzt damit die menschliche Erkenntnisfähigkeit herab, entwertet insbesondere die wissenschaftliche Erkenntnis. Die objektive Realität ist für die Existentialisten im wissenschaftlichen Sinne unerkennbar: sie kann nur (individuell) erlebt werden. Dabei ist festzuhalten, daß der Existentialismus «Erleben» und «Denken» gleichsetzt. «Daß Wissenschaft überhaupt sein soll, ist niemals unbedingt notwendig» (Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität 8). «Die Geschichte, die Kunst, die Dichtung, die Sprache, die Natur, der Mensch, Gott - bleibt den Wissenschaften unzugänglich ... Das Wesen der genannten Bereiche ist Sache des Denkens», d. i., des irrationalen Erlebens (Heidegger, Was heißt Denken? 161).

Die Triebkraft des Erlebens der objektiven Realität ist vornehmlich die Angst. Durch die Angst wird der Mensch seiner endlichen Stellung im Weltganzen gewahr, d. h., durch die Angst erlebt er seine Ungeborgenheit, seine Geworfenheit, die Brüchigkeit seines Seins, das von Anfang an durch den Tod bestimmt ist, dem er nicht entrinnen kann.

Der Existentialismus proklamiert dergestalt einen absoluten Irrationalismus. Er geht sowohl methodisch als auch systematisch bei seinen Betrachtungen irrationalistisch vor und schaltet von vornherein jede rationale Erkenntnisweise aus. Er stellt fest, daß es Blindheit wäre, «wenn man die irrationale Bewegung einfach als eine Art Sündenfall der menschlichen Vernunft betrachten würde, den es möglichst bald durch entsprechende Reue wieder rückgängig zu machen gelte (oder wenn man gar im Irrationalismus nichts anderes als den ideologischen Ausdruck bestimmter politischer Tendenzen sehen wollte). Es kommt vielmehr darauf an, die Entdeckung des Irrationalen und die dadurch ermöglichte Ausweitung unserer geistigen Welt voll anzuerkennen und auf diesem Boden dann eine Lösung zu suchen» (O. F. Bollnow, Die Vernunft und die Mächte des Irrationalen 93). Die Abwertung der Ratio zugunsten der Irratio wird im Existentialismus auf die Spitze getrieben. War die Vernunft einst Waffe des revolutionären Bürgertums in seinem Kampf gegen die feudalklerikale Gesellschaft, ihre Institutionen und Ideologie, so wird sie von seinen reaktionären Nachfahren zur Schimäre herabgewürdigt. Kennzeichnend für den gesamten Existentialismus ist der durchgängige Bruch mit der philosophischen Tradition, mit der philosophischen Überlieferung. Die philosophiehistorische Grundthese des Existentialismus lautet: die philosophische Entwicklung ging seit Platon und Aristoteles in die Irre. Deshalb kommt es unter Ausschaltung der philosophischen Tradition darauf an, völlig von vorn zu beginnen. heidegger nennt solches Herangehen an die philosophische Überlieferung «Destruktion», Jaspers «Synthesis».

Der Existentialismus ist von seinen verschiedenen Vertretern unterschiedlich ausgestaltet worden. Sie bedienen sich unterschiedlicher Terminologien, unterschiedlicher Darstellungsweisen und unterschiedlicher Methoden. Gemeinsam ist jedoch allen Spielarten des Existentialismus, daß sie vom Begriff der Existenz ausgehen, der von ihnen völlig subjektivistisch gesetzt wird, ihre Verachtung und Herabsetzung des wissenschaftlichen Denkens, der Wissenschaft überhaupt, ihr Agnostizismus, ihr bewußt vollzogener Bruch mit der philosophischen Tradition, ihre zentrale Behandlung zum Teil psychisch abnormer Zustände wie Angst, Ekel usw. als wesentliche Fragen der Philosophie, ihr in methodischer und systematischer Hinsicht gewellter Irrationalismus, ihre Ersetzung des wissenschaftlichen Denkens durch das Erleben, nicht zuletzt ihr Eklektizismus, schließlich ihre abstrakte, metaphysische und unhistorische, von den gesellschaftlichen Bedingungen losgelöste Behandlung des Menschen. Im Ergebnis seiner Bemühungen kommt der Existentialismus zu der Schlußfolgerung, daß das menschliche Leben der Anfang des Totseins ist: «Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein [der Mensch] übernimmt, sobald es ist» (Heidegger, Sein und Zeit 245) oder «Dasein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts» (Heidegger, Was ist Metaphysik? 32). Seinem Charakter nach ist der Existentialismus vom Anfang wie vom Ergebnis her eine zutiefst pessimistische und nihilistische Lehre. Ihre Wirkungen gehen in Richtung der Auflösung aller kollektiven Verantwortung, der Zerschlagung jedweder Ideale und der Negation objektiver Maßstäbe. Der Existentialismus versucht zu begründen, daß dem Menschen sowohl als Einzel- wie als Gattungswesen von Haus aus jeder Halt und jede Orientierung und jede Bezogenheit auf ein anderes abgeht, insbesondere jede gesellschaftliche Bezogenheit. Jaspers faßte diese Auffassung in dem Satz zusammen: «Aber als soziales Ich bin ich nicht ich selbst» (Philosophie II, 30). Die gesellschaftliche Funktion des Existentialismus ist negativer Natur. Die Bewegung des sog. deutschen Existentialismus war es vornehmlich, die in den dreißiger Jahren weite Kreise der bürgerlichen Intelligenz und des gebildeten Kleinbürgertums in den Strudel intellektuellen Abenteurertums hinabzog, den Prozeß ihrer Abwendung von den Idealen echter Menschlichkeit der bürgerlichen Klassik beschleunigte und sie dadurch gleichsam weich, d. h. für die Ideologie und Praxis des deutschen Faschismus empfänglich machte. Genau dieselbe Rolle spielte der Existentialismus nach dem zweiten Weltkrieg und spielt er noch heute in Westdeutschland. Es ist kein Zufall, daß sich die führenden Vertreter des Existentialismus einst dem deutschen Faschismus verschrieben, vorab Heidegger, und sich heute in den Dienst der Atomkriegspolitik des westdeutschen Imperialismus stellen.

Im Unterschied zum sog. deutschen Existentialismus hat sich der sog. französische Existentialismus nur zum Teil den politisch reaktionären Kräften verschrieben. Während Marcel zur offiziellen katholischen Lehre in Opposition steht, nahm Sartre am Widerstand gegen den deutschen Faschismus teil und arbeitet aktiv in der Weltfriedensbewegung mit. Was der Existentialismus als «Existenz» oder als «Dasein», als Wesen des Menschen ausgibt, ist in Wirklichkeit die aussichtslose Lage des bürgerlichen Menschen in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Der Existentialismus ist mit seiner Problematik wie kaum eine andere Richtung der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie auf das Dasein des bürgerlichen Menschen in einer bestimmten historischgesellschaftlichen Situation zugeschnitten. Die vom Existentialismus aufgeworfenen «ewigen Fragen» sind nichts anderes als ideologischer Widerschein der Krise des imperialistischen Gesellschaftssystems.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 1, Berlin 1970, S.350ff

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