Nach eigenem Eingeständnis seiner Vertreter entstand der
Existentialismus «in der verzweifelten Zeit nach dem ersten
Weltkrieg mit der ganzen damals über den [bürgerlichen] Menschen
hereinbrechenden Unsicherheit und trägt die Spuren dieser alles
ergreifenden Erschütterung deutlich an sich». Der
Existentialismus verdankt seinen «erneuten Durchbruch ... den
noch viel tiefer in das gesamte Gefüge unseres Daseins
eingreifenden Folgen des zweiten Weltkriegs und des nunmehr
totalen geschichtlichen Zusammenbruchs unserer ganzen bisherigen
geistigen Welt» (O. F. Bollnow,
Existenzphilosophie 1260.
Ideengeschichtlich setzt der Existentialismus bestimmte
Motive der Phänomenologie, vor allem der
Lebensphilosophie fort, die er radikalisiert. Als seine
Vorläufer im 19. Jahrhundert gelten Nietzsche,
besonders Kierkegaard. Im Gesamtprozeß
der Entwicklung der Philosophie stellt der Existentialismus eine
ausgesprochen reaktionäre Strömung dar, der es um die
Zurücknahme der positiven Errungenschaften der klassischen
bürgerlichen Philosophie von Descartes
bis Hegel und Feuerbach
unter gleichzeitiger Verfälschung und Bekämpfung des
dialektischen und historischen Materialismus zu tun ist.
Hauptvertreter des Existentialismus sind in Deutschland
Heidegger und Jaspers,
in Frankreich Sartre und
Marcel. Weitere Vertreter des
Existentialismus sind Eust,
Haecker,
Cuardini, Przywara,
Grisebach,
Häberlin, O. Becker, O. F.
Bollnow, Szilasi,
Gadamer, Volkmann-SchLuck;
Berdjajew, Simone
de Beauvoir, E. Mounier,
J. Wahl, Merleau-Ponty,
Kojeve; Abbagnano,
Grassi u.a.
In der Literatur wird der Name «Existentialismus» oft nur zur
Bezeichnung des sog. französischen Existentialismus (vornehmlich
Sartre) verwendet, während die im
deutschen Sprachgebiet wirkenden Existentialisten unter dem
Ausdruck «Existenzphilosophie» zusammengefaßt werden. Im
Hinblick auf Marcel, Wust,
Haecker, Guardini,
Przywara wird von christlicher
Existenzphilosophie oder von einem christlichen, auch
» katholischen Existentialismus gesprochen. Die Lehre
Heideggers wird auch
Existentialontologie oder ontologische
Existenzphilosophie genannt.
Die verschiedenen Spielarten des Existentialismus gehen in
ihren Betrachtungen vom Begriff der Existenz aus. Dabei
vermeiden sie es, diesen Begriff näher zu bestimmen. «Die
Existenz ist nichts, was man aus der Entfernung denken kann: das
muß dich plötzlich überfluten, das bleibt über dir, das lastet
schwer auf deinem Herzen wie ein großes unbewegtes Tier - sonst
ist da gar nichts» (Sartre). Allgemein
versteht der Existentialismus unter «Existenz» immer die
individuelle Existenz des Menschen. Existenz kommt nur
dein Menschen zu, nicht den Dingen. Sie ist die typische
Seinsweise des Menschen. Als solche ist sie dem Menschen nicht
gegeben, sondern nur seine Möglichkeit, die er
realisieren kann oder auch nicht. Der Mensch schafft nach
Ansicht der Existentialisten seine Existenz: sie ist sein
«Entwurf».
In der Sprache der Existentialisten erscheint der Mensch in
der Regel nicht so genannt, sondern wird als «Dasein»,
«Existenz», «Ich», «Fürsichseiendes» usw. bezeichnet.
Die Vertreter des Existentialismus geben vor, zum Begriff der
Existenz durch ein sog. existentielles Erlebnis zu
gelangen. Heidegger gibt als solches die
Erfahrung des Todes (den «Vorlauf zum Tode»), Sartre
den Ekel (nausée), Marcel
das Mysterium als religiöses Grunderlebnis
des Menschen, Jaspers die Brüchigkeit des
Seins, das Scheitern des Menschen in den «Grenzsituationen»
(Tod, Leiden, Schuld), O. F. Bollnow die
Ungeborgenheit des Menschen an, wodurch ihre Philosophie einen
ausgesprochen subjektivistischen Charakter erhält. Vom
Begriff der Existenz ausgehend verwerfen die Existentialisten
die erkenntnistheoretische Unterscheidung von Materie und
Bewußtsein (Objekt und Subjekt). Für sie ist die Grundfrage
der Philosophie ein Vorurteil der bisherigen philosophischen
Entwicklung. Der Existentialismus setzt damit die menschliche
Erkenntnisfähigkeit herab, entwertet
insbesondere die wissenschaftliche Erkenntnis. Die objektive
Realität ist für die Existentialisten im wissenschaftlichen
Sinne unerkennbar: sie kann nur (individuell) erlebt werden.
Dabei ist festzuhalten, daß der Existentialismus «Erleben» und
«Denken» gleichsetzt. «Daß Wissenschaft überhaupt sein soll, ist
niemals unbedingt notwendig» (Heidegger,
Die Selbstbehauptung der deutschen Universität 8). «Die
Geschichte, die Kunst, die Dichtung, die Sprache, die Natur, der
Mensch, Gott - bleibt den Wissenschaften unzugänglich ... Das
Wesen der genannten Bereiche ist Sache des Denkens», d. i., des
irrationalen Erlebens (Heidegger, Was
heißt Denken? 161).
Die Triebkraft des Erlebens der objektiven Realität ist
vornehmlich die Angst. Durch die Angst wird der Mensch
seiner endlichen Stellung im Weltganzen gewahr, d. h.,
durch die Angst erlebt er seine Ungeborgenheit, seine
Geworfenheit, die Brüchigkeit seines Seins, das von Anfang an
durch den Tod bestimmt ist, dem er nicht entrinnen kann.
Der Existentialismus proklamiert dergestalt einen absoluten
Irrationalismus. Er geht sowohl methodisch als auch
systematisch bei seinen Betrachtungen irrationalistisch vor und
schaltet von vornherein jede rationale Erkenntnisweise aus. Er
stellt fest, daß es Blindheit wäre, «wenn man die irrationale
Bewegung einfach als eine Art Sündenfall der menschlichen
Vernunft betrachten würde, den es möglichst bald durch
entsprechende Reue wieder rückgängig zu machen gelte (oder wenn
man gar im Irrationalismus nichts anderes als den ideologischen
Ausdruck bestimmter politischer Tendenzen sehen wollte). Es
kommt vielmehr darauf an, die Entdeckung des Irrationalen und
die dadurch ermöglichte Ausweitung unserer geistigen Welt voll
anzuerkennen und auf diesem Boden dann eine Lösung zu suchen»
(O. F. Bollnow, Die Vernunft und die
Mächte des Irrationalen 93). Die Abwertung der Ratio zugunsten
der Irratio wird im Existentialismus auf die Spitze getrieben.
War die Vernunft einst Waffe des revolutionären Bürgertums in
seinem Kampf gegen die feudalklerikale Gesellschaft, ihre
Institutionen und Ideologie, so wird sie von seinen reaktionären
Nachfahren zur Schimäre herabgewürdigt. Kennzeichnend für den
gesamten Existentialismus ist der durchgängige Bruch mit der
philosophischen Tradition, mit der philosophischen
Überlieferung. Die philosophiehistorische
Grundthese des Existentialismus lautet: die philosophische
Entwicklung ging seit Platon und
Aristoteles in die Irre. Deshalb kommt es
unter Ausschaltung der philosophischen Tradition darauf an,
völlig von vorn zu beginnen. heidegger nennt solches Herangehen
an die philosophische Überlieferung «Destruktion»,
Jaspers «Synthesis».
Der Existentialismus ist von seinen verschiedenen Vertretern
unterschiedlich ausgestaltet worden. Sie bedienen sich unterschiedlicher
Terminologien, unterschiedlicher Darstellungsweisen
und unterschiedlicher Methoden. Gemeinsam ist jedoch allen
Spielarten des Existentialismus, daß sie vom Begriff der
Existenz ausgehen, der von ihnen völlig subjektivistisch gesetzt
wird, ihre Verachtung und Herabsetzung des wissenschaftlichen
Denkens, der Wissenschaft überhaupt, ihr Agnostizismus, ihr
bewußt vollzogener Bruch mit der philosophischen Tradition, ihre
zentrale Behandlung zum Teil psychisch abnormer Zustände wie
Angst, Ekel usw. als wesentliche Fragen der Philosophie, ihr in
methodischer und systematischer Hinsicht gewellter
Irrationalismus, ihre Ersetzung des wissenschaftlichen Denkens
durch das Erleben, nicht zuletzt ihr Eklektizismus, schließlich
ihre abstrakte, metaphysische und unhistorische, von den
gesellschaftlichen Bedingungen losgelöste Behandlung des
Menschen. Im Ergebnis seiner Bemühungen kommt der
Existentialismus zu der Schlußfolgerung, daß das menschliche
Leben der Anfang des Totseins ist: «Der Tod ist eine Weise zu
sein, die das Dasein [der Mensch] übernimmt, sobald es ist» (Heidegger,
Sein und Zeit 245) oder «Dasein heißt: Hineingehaltenheit in das
Nichts» (Heidegger, Was ist Metaphysik?
32). Seinem Charakter nach ist der Existentialismus vom Anfang
wie vom Ergebnis her eine zutiefst pessimistische und
nihilistische Lehre. Ihre Wirkungen gehen in Richtung der
Auflösung aller kollektiven Verantwortung, der Zerschlagung
jedweder Ideale und der Negation objektiver Maßstäbe. Der
Existentialismus versucht zu begründen, daß dem Menschen sowohl
als Einzel- wie als Gattungswesen von Haus aus jeder Halt und
jede Orientierung und jede Bezogenheit auf ein anderes abgeht,
insbesondere jede gesellschaftliche Bezogenheit.
Jaspers faßte diese Auffassung in dem Satz zusammen:
«Aber als soziales Ich bin ich nicht ich selbst» (Philosophie
II, 30). Die gesellschaftliche Funktion des
Existentialismus ist negativer Natur. Die Bewegung des sog.
deutschen Existentialismus war es vornehmlich, die in den
dreißiger Jahren weite Kreise der bürgerlichen Intelligenz und
des gebildeten Kleinbürgertums in den Strudel intellektuellen
Abenteurertums hinabzog, den Prozeß ihrer Abwendung von den
Idealen echter Menschlichkeit der bürgerlichen Klassik
beschleunigte und sie dadurch gleichsam weich, d. h. für die
Ideologie und Praxis des deutschen Faschismus empfänglich
machte. Genau dieselbe Rolle spielte der Existentialismus nach
dem zweiten Weltkrieg und spielt er noch heute in
Westdeutschland. Es ist kein Zufall, daß sich die führenden
Vertreter des Existentialismus einst dem deutschen Faschismus
verschrieben, vorab Heidegger,
und sich heute in den Dienst der Atomkriegspolitik des
westdeutschen Imperialismus stellen.
Im Unterschied zum sog. deutschen Existentialismus hat sich
der sog. französische Existentialismus nur zum Teil den
politisch reaktionären Kräften verschrieben. Während
Marcel zur offiziellen katholischen Lehre
in Opposition steht, nahm Sartre am
Widerstand gegen den deutschen Faschismus teil und arbeitet
aktiv in der Weltfriedensbewegung mit. Was der Existentialismus
als «Existenz» oder als «Dasein», als Wesen des Menschen
ausgibt, ist in Wirklichkeit die aussichtslose Lage des
bürgerlichen Menschen in der Epoche des Übergangs vom
Kapitalismus zum Sozialismus. Der Existentialismus ist mit
seiner Problematik wie kaum eine andere Richtung der
gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie auf das Dasein des
bürgerlichen Menschen in einer bestimmten
historischgesellschaftlichen Situation zugeschnitten. Die vom
Existentialismus aufgeworfenen «ewigen Fragen» sind nichts
anderes als ideologischer Widerschein der Krise des
imperialistischen Gesellschaftssystems.