Postoperaismus und Wertkritik... 
...und der Klassenkampf

Referatsmanuskript  für den „Ums-Ganze“-Kongress in Frankfurt vom 7.-9.12.2007


von
Gerhard Hanloser

12/07

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0. Diskutieren über Postoperaismus und Wertkritik im Kontext der Frage, wie man das Ganze in den Blick bekommt, erscheint mir recht merkwürdig. Zielen Wertkritik und Postoperaismus denn aufs Ganze? Die Wertkritik würde es von sich behaupten; beim Postoperaismus, der als postmodernes Phänomen die Totalitätskategorie leugnet, kann man sich hier schon nicht mehr ganz sicher sein. Die Veranstalter des Kongresses haben sich die beiden Theorieentwürfe herausgesucht, weil sie nun mal in der Linken zirkulieren und angesagt sind. Das „Konzept Stadtguerilla“ der RAF beispielsweise, das zweifelsohne aufs Ganze zielen wollte, lockt dahingegen niemand hinterm Ofen vor. Der Kongress orientiert sich lieber an Theoriemoden. Und als solche sollten auch die beiden hier diskutierten Strömungen angesehen werden.

Als Mode hat sich die Wertkritik ausdifferenziert. Sie ist auf der einen Seite Priestertheorie geworden, mit einem ganzen Apparat sprachlicher Liturgieregelungen, der vorgibt, was man zu denken hat und was man unter allen Umständen zu denken vermeiden sollte. (Geboten ist: „Warenkritik“, „Kritik der Subjektillusion“, „kategoriales Programm der  Formkritik“; verboten ist: „struktureller Antisemitismus“, „verkürzte Kapitalismuskritik“) Die Priester sagen es vor, die Gemeinde soll es nachmurmeln. Um es verständlich zu machen, wird seit einiger Zeit jedoch die Liturgie einfacher gestaltet und muss sich auf vorhandene Praxisbedürfnisse der Gemeinde einstellen. Auf der anderen Seite gibt es die einsamen Propheten, die die reine Lehre verwässert sehen, ihnen geht es um Reinheit des Gedankens, Distanz zur korrumpierenden Wirklichkeit. Es gibt ein Priesterheft – das heisst „Krisis“, und es gibt ein Prophetenorgan namens „Exit“.  

Der Postoperaismus dagegen - um bei diesen religionssoziologischen Assoziationen zu bleiben – hat eher etwas von einem bunten Zauberkasten. Postoperaisten sind mal bessere mal schlechtere Zauberer, die riesige begriffliche Nebelwände produzieren und alles mögliche in Hüten verschwinden lassen und anderes hervorzaubern. Für kurze Zeit wurden mittels Postoperaismus sogar die deutschen Universitäten verzaubert. Auf einmal konnte an diesen Orten, an denen die letzten zehn Jahre nie von Klasse die Rede sein durfte, wieder in sozialwissenschaftlichen Seminaren über den Klassenbegriff diskutieren werden. Immerhin etwas, sagen manche.

Wertkritik und Postoperaismus scheinen zwei Extreme zu markieren, die etwas hilflos als Strukturalismus und Subjektivismus, als Theorie der Kämpfe und als Theorie der erdrückenden gesellschaftlichen Formen, oder - auf die psychologische Ebene verschoben - als Problem von haltlosem Optimismus und zermürbendem Pessimismus umrissen werden könnte.

Ich denke, dass die begrifflichen Instrumentarien weder des Postoperaismus noch der Wertkritik den richtigen kritischen Blick auf die Wirklichkeit schärfen helfen. Wenn es ums Ganze gehen soll – ich bin hier altmodisch – geht es um Antikapitalismus. Antikapitalismus muss aber in einem eindeutigen Verhältnis zur aktuellen Ausbeutung stehen, muss sich als Verbündeter der unterdrückten und ausgebeuteten Klasse begreifen und Antikapitalismus muss, damit er nicht reaktionär wird, eine Vorstellung von Klassenkampf beinhalten.

Wertkritik und Postoperaismus sehen das zuweilen anders, und es gibt etliches, was diese doch so scheinbar fernen Theorien verbindet.  

       Der reale Zustand des Klassenkampfes und der theoretische Klassenbegriff ist beiden peinlich, der Begriff der Klasse wird als nicht mehr zeitgemäß auf der einen Seite und als noch nie radikal-sprengend auf der anderen Seite angesehen. Was die beiden Theorien strikt trennt ist die Sichtweise auf den Klassenkampf. Beim Postoperaismus erscheint der Klassenkampf als ungebrochene positive machtvolle Größe, bei der Wertkritik bleibt der Klassenkampf theoretisch ausgespartes Zentrum, bricht allerdings unbewußt in die Theorie hinein.   

       In beiden Darstellungsweisen und Theorien findet eine Verschmelzung von Arbeiter und Arbeit statt. Sie sind nicht mehr voneinander getrennt. Beim Postoperaismus schlägt ein unrealistischer „Arbeiterismus“ auf der Höhe der Selbstbeschreibung des neoliberalen Kapitalismus durch und eine affirmative, also nicht mehr kritische Darstellung der neuen Arbeitsverhältnisse. Bei der Wertkritik ist die Arbeit so verdammenswert wie die Arbeiter, die als mit der Arbeit identisch betrachtet werden. 

1. Michael Heinrich hat berechtigterweise darauf aufmerksam gemacht, dass allein die Rede von Klassen noch nicht revolutionär ist. Marx hat die Klassen und Klassenkämpfe bei französischen und englischen Historikern entdeckt. Genausowenig ist die Diagnose, dass den Produkten unserer Arbeit ein Wert zukommt, bereits etwas spezifisch Marxistisches oder Kritisches. Und auch die Feststellung, dass die Dinge in unserer Gesellschaft uns bestimmen, wir einer Entfremdung ausgesetzt wären und ähnliches, hat überhaupt nichts Radikales an sich. Die ganze deutsche Romantik lebte von diesem Leiden.

Marx führte diese Darlegungen jedoch zusammen und arbeitete heraus, dass die Existenz von Klassen, die Form des Werts und die Verdinglichung historische Phänomene des Kapitalismus sind, die es zu kritisieren und abzuschaffen gilt. So gibt es meines Erachtens entscheidende Stränge kritischen Denkens, die sowohl die Wertkritik, wie der Postoperaismus für sich reklamieren, die es aufzunehmen gilt, die aber, will man sie kritisch-revolutionär zu Ende führen, weder bei Wertkritik noch bei Postoperaismus enden. Das ist zum einen die Fetischismuskritik, zum anderen die Reflektion auf den Klassenkampf als dynamischer historischer Faktor. Den kritischen Begriff des Fetischs und der Fetischformen ist nachwievor ein Herzstück radikaler Kapitalismuskritik. Die kapitalistische Produktionsweise unterscheidet sich nämlich von anderen Ausbeutungs- und Herrschaftsformen dadurch, dass sie abstrakt-sachliche Herrschaft, also nicht personale Herrschaft ist. Herrschaft ist sachliche und versteckte. Legitimierten sich frühere Gesellschaften vorkapitalistischer Prägung durch die Existenz einer höheren Ordnung, Gott beispielsweise, und war der Herr und Gebieter meistens persönlich greifbar, so rutscht Herrschaft und irrationale Absicherung dieser Herrschaft im Kapitalismus in die Sachen, die wir produzieren und hervorbringen. Die Produktionsverhältnisse führen im Kapitalismus ein Eigenleben. Der neue Gott ist der Sachzwang.  

Marx schrieb drei Bände unter anderem zu der Frage, wie sich im Kapitalismus gesellschaftliche Verhältnisse verselbständigen, und wie die Dinge ein Eigenleben zu führen beginnen, von der einzelnen Ware bis zum Produktionsprozess und dem Verwertungsprozess. Marx hatte vor, bis zum Weltmarkt eine Darstellung der Verselbständigungsbewegung auszuführen. Die Verselbständigungsbewegung, auch Mystifikation genannt, endet im dritten Band des Kapitals in der sogenannten trinitarischen Formel. Im mystifizierten Bewusstsein ist die Verfügung über ein bestimmtes Quantum unbezahlter fremder Arbeit als Geheimnis der Selbstverwertung des Kapitals ausgelöscht. „Im Kapital – Profit, oder noch besser Kapital – Zins, Boden – Grundrente, Arbeit – Arbeitslohn, in dieser ökonomischen Trinität als dem Zusammenhang der Bestandteile des Werts und des Reichtums überhaupt mit seinen Quellen ist die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das unmittelbare Zusammenwachsen der stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmheit vollendet: die verzauberte, verkehrte, auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieu le Capital und Madame la terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als blosse Dinge ihre Spuk treiben.“ Marx schreibt: „Diese Formel entspricht zugleich dem Interesse der herrschenden Klasse, indem sie die Naturnotwendigkeit und ewige Berechtigung ihrer Einnahmequellen proklamiert und zu einem Dogma erhebt.“

Diese Ausführungen von Marx sind zugespitzte Fetischismus- und Kapitalkritik. Er nimmt darin die Momente einer Kritik des Warenfetischismus auf, die er für eine hypothetische Gesellschaft einfacher Warenproduzenten, die es freilich nie gab, im ersten Band des Kapitals auf der Ebene einfachster Begriffe und Verhältnisse entwickelt hat, und vollendet die Kritik, indem er die Kritik der Mystifikationen, die Kritik der Klassengesellschaft und die Kritik des kapitalistischen Interesses zusammenführt. Verdinglichung und Klassenherrschaft gehören zusammen. Die Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse, die auch im Alltagsdenken scheinbar naturwüchsig hervorgebracht wird, legitimiert die Klassen. Ein einfaches Beispiel: der Profit, so wird gesagt, ist gerechtfertigt, denn der Unternehmer trägt ja auch das Risiko, er hat sich den Betrieb ja auch aufgebaut, erarbeitet usw.usf. Die Nichtproduzenten, die sich den Mehrwert aneignen, erscheinen als die eigentlichen Produzenten. In dieser Vorstellung offenbart sich der Kapitalfetischismus als Religion des Alltagslebens.  

Gegen die mystifizierende Religion des Alltagslebens gibt es auch eine entmystifizierende Erfahrung des Alltagslebens. Marx gibt hier auch wieder etliche Hinweise, beispielsweise auf die Erfahrung im unmittelbaren Produktionsprozess. In der Zirkulation, schreibt Marx, treten sich Kapitalist und Arbeiter nur als Warenverkäufer gegenüber. Das führt in der Wertkritik dazu, zu sagen: „Klassen sind bedeutungslos, es sind eben nur zwei unterschiedliche Formen von Warenbesitzern, von Warensubjekten, von Käufern und Verkäufern“. Nach Marx ist das die Position der Vulgärökonomen, die eine interessierte Ideologie von der klassenlosen kapitalistischen Gesellschaft vertreten. „Was den Arbeiter von anderen Warenverkäufern unterscheidet, ist nur die spezifische Natur, der spezifische Gebrauchswert der von ihm verkauften Ware. Aber der besondere Gebrauchswert der Waren ändert durchaus nichts an der ökonomischen Formbestimmtheit der Transaktion, nicht daran, dass der Käufer Geld und der Verkäufer Ware vorstellt. Um also zu beweisen, dass das Verhältnis zwischen Kapitalist und Arbeiter durchaus nichts als das Verhältnis zwischen Warenbesitzern ist, die zu ihrem wechselseitigen Vorteil und durch einen freien Kontrakt Geld und Ware mit einander austauschen, genügt es den ersten Prozess zu isolieren und an seinen formellen Charakter festzuhalten. Dies einfache Kunststück ist keine Hexerei, aber es bildet den ganzen Weisheitsvorrat der Vulgärökonomie.“ (Es bietet auch den ganzen Weisheitsvorrat der Neuen Deutschen Wertkritik, könnte man ergänzen.)

Marx beschreibt ausserdem, dass der Arbeiter, wenn er seine Arbeitskraft verkauft – und er muss dies tun, denn er ist eigentumslos - , unter das Kommando des Kapitals tritt und im Produktionsprozess der Arbeiter zusammen mit anderen eine Erfahrung macht, die ihn radikal von der Erfahrung des Kapitalisten trennt. Während der Kapitalist durch das Einsaugen fremder Arbeit Zeitsouveränität und Lebenszeit gewinnt, verliert der Arbeiter Zeitsouveränität und Lebenszeit. „Die Funktionen, die der Kapitalist ausübt, sind nur die mit Bewußtsein und Willen ausgeübten Funktionen des Kapitals selbst, des sich verwertenden Werts durch Einsaugen der lebendigen Arbeit. Der Kapitalist funktioniert nur als personifiziertes Kapital, das Kapital als Person, wie der Arbeiter nur als personifizierte Arbeit, die ihm als Qual, als Anstrengung, die aber dem Kapitalisten als Reichtum schaffende und vermehrende Substanz gehört...“

Wir sollten also nach Marx die Erfahrung der Qual und der Anstrengung in der Arbeit als potentiell entmystifizierende ansehen. Das Kapital könnte demnach an den Lohnarbeitenden selbst eine Schranke finden. Sie sind es nach Marx, die den Fetischismus des Kapitals nicht nur theoretisch durchschauen, sondern auch praktisch zerstören können.

Jeder würde nun natürlich diese Diagnose mit der Wirklichkeit konfrontieren, mit der scheinbaren Harmonie des Arbeitsalltags, mit den Ritualen von Lohnverhandlungen usw. Dagegen hat die kritische Industriesoziologie von Baverman den untergründigen Antagonismus im Produktionsprozess gut beschrieben: „Die scheinbare Akklimatisierung des Arbeiters an die neuen Produktionsweisen ergibt sich aus der Zerstörung aller anderen Lebensformen, den Resultaten von Lohnverhandlungen, die eine gewisse Ausdehnung der traditionellen Subsistenzbeschränkungen der Arbeiterklasse erlauben, dem Aufbau des Netzwerks des modernen kapitalistischen Lebens, das alle anderen Lebensweisen unmöglich macht. Unter dieser scheinbaren Gewöhnung jedoch fließt die Feindseligkeit der Arbeiter gegenüber den degenerierten Arbeitsformen, die ihnen aufgezwungen werden, als ein unterirdischer Strom weiter, der sich seinen Weg zur Oberfläche erkämpft, wenn die Beschäftigungsbedingungen dies erlauben oder wenn der kapitalistische Drang nach einer größeren Arbeitsintensität die Grenzen der körperlichen und geistigen Belastbarkeit überschreiten. Sie erneuert sich in neuen Generationen, drückt sich in dem grenzenlosen Zynismus und Widerwillen aus, den zahllose Arbeiter gegen ihre Arbeit empfinden...“  

2. Die Wertkritik als Marxismus nach 1989 behauptet vor dem Hintergrund einer Kritik der Arbeitsethik, die auf eine Denktradition verweist, die zwischen Paul Lafargue und Max Weber angesiedelt ist, dass die Arbeiter restlos unter die Arbeit subsumiert sind, dass sie blosses variables Kapital darstellen würden. Sie fallen als revolutionäres Subjekt aus, weil sie „verhausschweint“ sind, so Robert Kurz redundant im „Schwarzbuch Kapitalismus“[1]; die Arbeit zu kritisieren heisst somit auch die Existenz und den Zustand von Arbeiter/innen zu kritisieren, weil angenommen wird, dass die Arbeiter niemals aus ihrer Formbestimmung treten wollen und können, weil eine Möglichkeit der Selbstbefreiung nicht gegeben ist. Eine solche Behauptung mag auf die schlechte Realität reflektieren, die von den großen Niederwerfungen und Rekuperationen der Klassenkampfperioden beispielsweise der 20er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt ist. Damit wird dieser Antikapitalismus jedoch idealistisch oder romantisch, - man könnte auch augenzwinkernd sagen: strukturell reaktionär. Es gibt eine lange Tradition von Kritik am Kapitalismus und einem Leiden an der Moderne, das entweder – im besten Fall – einen elitären Rückzug auf den richtigen Gedanken im ganzen Falschen propagiert, oder diesen scheinbar richtigen Gedanken – jenseits des Klassenkampfs und teilweise auch gegen die vorherrschende Arbeiterschaft in die Tat umsetzen will – und das ist zweifelsfrei der schlechtere Fall. Heidegger überantwortete seine Kritik der technologischen Entfremdung in der Moderne an den Führer, ganze Heerscharen sog. Konservativer Revolutionäre propagierten eine radikale Kritik der Entfremdung in der Moderne, der Tauschverhältnisse, der Dekadenz im Kapitalismus. Der ehemalige Sozialdemokrat Werner Sombart, der schließlich nach der Enttäuschung über das Aussetzen des reale Proletariats als Hoffnungsträger Elitetheoretiker wurde, fand so seinen Weg zum Führer.

Wenn also die Wertkritik vor allerhand Verkürzungen warnt, unterliegt sie in ihrer scheinbaren Radikalität selbst einer gefährlichen Verkürzung: sie will eine Kritik des Kapitalismus sein ohne auf den Klassenkampf zu reflektieren, ohne dass ihre Kritik auf die Praxisformen der Ausgebeuteten reflektieren oder die eigene Existenz als Ausgebeuteter thematisieren muss.  

Liest man jedoch aktuelle Kommentare von prominenten Wertkritikern, so fällt auf, dass mittlerweile unter der Hand der Klassenkampf doch Einzug in die Theorie erhält. Das ist kein Lob. Denn damit ist alles über die Wertkritik ausgesagt: Sie unterliegt – wie jede Theorie – den Wechselfällen des Klassenkampfes, die angebliche Autonomie und ewige Gültigkeit, die sie vorspiegelt, kann sie nicht einhalten. In der Zeit der gefeierten Selbstverwertung des Kapitals in den 90er Jahren (wir erinnern uns an die gefeierte New Economy) und der Unsichtbarkeit des Klassenkampfes, in diesem Zustand breiter gesellschaftlicher Mystifizierung, behauptete auch die Wertkritik Klassenkampf gäbe es nicht mehr und das Kapital müsse man als automatisches Subjekt betrachten. Angesichts des jetzt wieder auftauchenden Klassenkampf in Form des partikularen Arbeitskampfes rücken wieder andere Subjekte, Streikende der GDL beispielsweise, ins Blickfeld. Das ist ein Erkenntnisfortschritt, der aber jederzeit wieder rückgängig gemacht werden kann, weil die Kritik, die die Wertkritik sein will, als intellektuelle Leistung hypostasiert wird. Sie will und kann sich nicht als Ausdruck einer vor sich gehenden Bewegung reflektieren. Die Praxisformen, in denen wir gezwungen sind im Bestehende zu bestehen, und darin die potentiell sprengenden Kräfte zu suchen, ist nicht die Sache der Wertkritik. Dadurch muss sie sich auf die Suche nach von ihrer Theorie radikal getrennter Praxis begeben, wobei es ihr eigentlich egal ist, was man tun, Hauptsache ist man hat das richtige (eben die Wertkritik) im Kopf. Die Praxis, also die Art und Weise wie wir leben, die Spannung zwischen dem, wie wir gezwungen sind zu leben und wie wir leben wollen, ist nicht das Vorrangige, auf das die Wertkritik reflektiert. Die Wertkritik als mystifizierende Theorie stellt somit auch die Marxsche Praxisfrage auf den Kopf. Man bildet zuerst eine schöne radikale Kritik im Denken heraus (die vor allem viele Verbotsschilder aufstellt, was man auf gar keinen Fall denken sollte) und versucht dann im zweiten Schritt „diese Kritik innerhalb sozialer Auseinandersetzungen praxisrelevant werden zu lassen“, so das österreichische Wertkritikmagazin „Streifzüge“. Nach Marx haben Kommunisten dahingegen auf die vor sich gehende Bewegung zu reflektieren, um darin die kommunistischen Momente zu entdecken.  

3. Der Postoperaismus sieht eine kommunistische Praxis bereits im Bestehenden vorliegen. Darin ist sie marxistischer als die Wertkritik, ebenso orientiert sie sich mehr am Marxschen Erbe als die Wertkritik, wenn sie auf den Klassenkampf zu sprechen kommt. Sie ist kein Marxismus nach 89, sondern eine Theorie, die ihre Wurzeln in den Kämpfen der Klasse der 60er und 70er Jahre. Der Postoperaismus wusste im Gegensatz zur Wertkritik schon immer von der potentiell sprengenden Kraft des Klassenkampfes. Der Postoperaismus weiss aufgrund der Erfahrung der Klassenkämpfe in den 60ern und 70ern: die Arbeitsethik ist recht löchrig. Er bietet eine Beschreibung der kapitalistischen Gesellschaft vor dem Hintergrund sozialer Auseinandersetzungen und kann so Brüche und Prozesse wahrnehmen, die in der Wertkritik untergehen.

Zuweilen führt er das Ende fordistischer Arbeitsverhältnisse auf die Kämpfe der Klasse gegen diesen Zustand zurück. Neue Arbeitsformen werden nicht bloß von oben, in repressiver Form durchgesetzt, sondern nehmen Begehrensströme, Kämpfe, Verweigerungen, neue Formen gesellschaftlicher Verkehrsformen auf. Alte Ausbeutungsformen werden nie bloß von oben umgemodelt und transformiert, sondern zuweilen revolthaft von unten in Frage gestellt. Im Neuen erkennen wir so auch unsere alten Kämpfe – das sagt der Postoperaismus. Da er aber eine ideologische Mobilisierungsideologie ist, kann er nicht hinzufügen: Im Neuen erkennen wir unsere alten Kämpfe und Forderungen – allerdings in verdrehter, gegen uns gerichteter Form. Als Mobilisierungsideologie kann der Postoperaismus nicht von dem Scheitern der Revolte gegen die Fabrikgesellschaft sprechen, er kann auch nicht von einem vorläufigen Sieg der neoliberalen Konterrevolution ausgehen. Damit ist er unfähig zu erkennen, dass die Revolte und die Klassenkämpfe nach 68 zwar das keynesianisch-fordistische System in die Krise getrieben haben, aber auf diese Kämpfe mit einer beispiellosen Reorganisation der Ausbeutungssphäre reagiert wurde. Formen neuer Selbständigkeit in Form kapitalkonforme Individualisierung, Umbau des Staates, innerbetriebliche Hierarchisierung (Stichwort: Zeitarbeit), Auslagerungen, verschärfter Druck auf Arbeitslose, das sind die neuen Arbeits- und Lebensverhältnisse, die die neoliberale Konterrevolution markieren,  die vor allem auf die Zerstörung von Klassenidentität, Klassenmacht und Solidarität setzt.

Es gibt im Moment keine machtvolle Multitude, es gibt einzelne Segmente in der BRD-Gesellschaft wie die Lokführer, die über relative Produktionsmacht verfügen und diese in einem Arbeitskampf einsetzen können. Erkennen andere Lohngruppen und Segmente in den Lokführern nur eine besondere Gruppe, die sich das Streiken eben trauen kann; kommuniziert der Kampf nicht mit anderen; wird er nicht als Möglichkeit eines eigenen Kampfes gesehen, so bleibt er isoliert, bleibt er Arbeitskampf und wird nicht Klassenkampf. 

Dieser Zustand wird vom Postoperaismus verdrängt. Stattdessen wird das Bild einer machtvollen Multitude gezeichnet. Der Postoperaismus zeichnet damit in alter sozialdemokratischer Manier Klasse nicht als zerrissene potentiell negative Kraft, sondern als gigantische positive Größe. Um die vermeintliche Macht zu objektivieren, werden die Arbeitsformen, mit der ein kleiner Teil der Multitude betraut ist, als Vorformen oder unmittelbar vorliegendes kommunistisches Vermögen beschrieben.

Um dieses zu befreien müsse die Multitude nur noch die parasitäre äußere Hülle abstreifen, da der Kommunismus bereits als technischer vorhanden. Das Leiden – um mit Adorno zu sprechen - oder die Qual und Anstrengung in der Lohnarbeit – um mit Marx zu sprechen - ist aus der Theorie ausgetrieben worden. Kampf heisst nur noch Emanzipation von parasitären Hüllen und ein Identisch-Werden mit den vorgegebenen Arbeitsformen und Produktivkräften. Entfaltung von Produktivkräften und Entfaltung des Vermögens der Multitude fallen zusammen. Negativität, Zerstörung vorgegebener Formen sind in diesem Konzept nicht mehr vorgesehen. Die postoperaistische Beschreibung der Wirklichkeit entpuppt sich als Ideologie, wenn man auf den Terror neuer selbständiger Arbeit reflektiert, auf die Situation in Schreibstuben, Webdesignbüros, in der privaten und stationären Pflege oder am heimischen Laptop. 

Der Postoperaismus traut seinen eigenen Prophezeiung jedoch keineswegs. Auch wenn ein vermittlungsloser Durchmarsch der Multitude durch das Empire behauptet wird, auch wenn ein „Wir leben schon im Kommunismus!“ ausgerufen wird, auch wenn die Multitude als nicht repräsentierbar vorgestellt wird, greifen Michael Hardt und Antonio Negri und die an sie anschließenden Post-Operaisten auf politizistische Praxis-Konzepte zurück. Rettung soll bringen: Garantierte Grundsicherung, Bürgerrechte, europäische Verfassung, „Spielbein Bewegung – Standbein Partei“.

 


[1]Merke: wer Private Equity Fonds als „Heuschrecken“ tituliert, ist „strukturell antisemitisch“, wer Arbeiter als Hausschweine ansieht, ist profunder, kategorialer Kapitalismuskritiker. Ist, wer „Männer sind Schweine“ ruft, bereits struktureller kritischer Wertabspaltungstheoretiker?

Editorische Anmerkungen

Aktuelle Informationen zum Kongress no way out?:  http://ugkongress.blogsport.de/

In dieser Ausgabe siehe dazu auch:

Hype um den Postoperaismus
F. Katz und I. M. Zimmerwald befragt zum Kongress No Way Out
von der Gruppe "Zlatan Orek"

Gerhard Hanloser diskutierte auf dem Kongress mit Sven Ellmers (Ruhr Uni Bochum) und Robert Foltin (Grundrisse) über Klasse/Klassenkampf/soziale Kämpfe/ Multitude. Er gab uns sein Referatsmanuskript am 11.12.2007 zur Veröffentlichung.