Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist
Bild schon bedeutend weiter: Bild weiß. Dicke
Überschrift auf der Titelseite der (Kölner) Ausgabe vom 23.
12.71: »Baader-Meinhof-Bande mordet
weiter.«
Im wesentlich kleiner gedruckten Bericht über den
Kaiserslauterer Bankraub liest man dann von vier maskierten
Gangstern, unter denen "vermutlich" eine Frau war; im
Verdacht, so liest man weiter, stehe »unter anderem« die
Gruppe um Ulrike Meinhof. Indizien: Informationen der
Polizei über den Aufenthalt der Gruppe, ein roter Alfa
Romeo, beim Überfall benutzt, Tage vorher in Stuttgart
gestohlen, schon einmal bei einer Fahndung nach der Gruppe
beobachtet;
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weitere Indizien: die » brutale Art« des Überfalls und die
»generalstabsmäßige Planung". Nun sind Banküberfälle
meistens brutal, auch wenn die Verdächtigten nicht der
Gruppe um Ulrike Meinhof angehören. Und gerade durch
generalstabsmäßige Planung eines Überfalls werden meistens
Opfer vermieden. |
Immerhin wird dann Herr Rauber, der Chef der
Kaiserslauterer Kriminalpolizei, zitiert: "Wir haben zwar noch keine konkreten
Anhaltspunkte, dass die Baader-Meinhof-Bande für den Überfall verantwortlich
ist. Aber wir ermitteln selbstverständlich in dieser Richtung." Das klingt schon
anders; nüchtern, sachlich, angesichts der Indizien plausibel, legitim, wenn man
es schon als legitim ansieht, dass Polizeibeamte für 1373 Mark monatlich ihr
Leben riskieren, unter anderem, um Banktresore zu schützen. Ein riskanter,
schlecht bezahlter Beruf. Im Manifest der Gruppe, nach dem Untertauchen erst
hektographiert, inzwischen im Wagenbach Rotbuch 26 (Alex Schubert:
Stadtguerillas) erschienen, ist über dieses Problem zu lesen: "Am 14. Mai (1970
bei der Befreiung Baaders in Berlin) ebenso wie in Frankfurt, wo zwei von uns
abgehauen sind, weil wir uns nicht einfach verhaften lassen wollten – haben die
Bullen zuerst geschossen. Die Bullen haben jedes Mal gezielte Schüsse abgegeben.
Wir haben z. T. überhaupt nicht geschossen, und wenn, dann nicht gezielt: in
Berlin, in Nürnberg, in Frankfurt. Das ist nachweisbar, weil es wahr ist."
"Wir machen nicht 'rücksichtslos von der Schusswaffe
Gebrauch'. Der Bulle, der sich in dem Widerspruch zwischen sich als ,kleinem
Mann‘ und als Kapitalistenknecht, als kleinem Gehaltsempfänger und
Vollzugsbeamten des Monopolkapitals befindet, befindet sich nicht im
Befehlsnotstand. Wir schießen, wenn auf uns geschossen wird. Den Bullen, der uns
laufen lässt, lassen wir auch laufen."
Hebt man die Kränkung, die in der Bezeichnung "Bulle"
liegt, gegen das Wort "Bande" auf, zieht man von den zahlreichen vermuteten die
bisher nachgewiesenen Taten ab und vergleicht man diese Passage mit dem wilden
Schluss des Manifests 2Den bewaffneten Kampf unterstützen. Sieg im Volkskrieg",
so klingt das nicht ganz so wahnwitzig wild und schießlustig, wie die Gruppe
bisher dargestellt worden ist. Ergänzt man die oben zitierte Passage durch eine
andere, die sich mit der lebensgefährlichen Verletzung des Angestellten Georg
Linke auseinandersetzt, so entsteht auch nicht gerade der Eindruck einer
uneingeschränkten Ballerideologie: "Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch
dann gemacht worden wäre, wenn wir gewusst hätten, dass ein Linke dabei
angeschossen wird – sie ist uns oft genug gestellt worden –, kann nur mit Nein
beantwortet werden." Die Kriegserklärung, die im Manifest enthalten ist, richtet
sich eindeutig gegen das System, nicht gegen seine ausführenden Organe. Es wäre
gut, wenn Herr Kuhlmann, der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft, dafür sorgte,
dass seine Kollegen, die einen so gefährlichen und schlecht bezahlten Beruf
ausüben, dieses Manifest einmal lesen.
Es ist eine Kriegserklärung von verzweifelten
Theoretikern, von inzwischen Verfolgten und Denunzierten, die sich in die Enge
begeben haben, in die Enge getrieben worden sind und deren Theorien weitaus
gewalttätiger klingen, als ihre Praxis ist. Gewiss war die Befreiung Baaders
eben doch nicht der so ganz überzeugende (weder für Beobachter noch für
Mitwirkende überzeugende) Sprung von der Theorie in die Aktion. Das Manifest
enthält unter anderem auch fast so etwas wie ein Geständnis: "Weder das bisschen
Geld, das wir geklaut haben sollen, noch die paar Auto- und
Dokumentendiebstähle, derentwegen gegen uns ermittelt wird, auch nicht der
Mordversuch, den man uns anzuhängen versucht, rechtfertigen für sich den Tanz."
Es kann kein Zweifel bestehen: Ulrike Meinhof hat dieser Gesellschaft den Krieg
erklärt, sie weiß, was sie tut und getan hat, aber wer könnte ihr sagen, was sie
jetzt tun sollte? Soll sie sich wirklich stellen, mit der Aussicht, als die
klassische rote Hexe in den Siedetopf der Demagogie zu geraten? Bild, ganz und
gar vorweihnachtlich gestimmt, weiß ja schon: "Baader-Meinhof-Gruppe mordet
weiter." Bild opfert die Hälfte seiner kostbaren ersten und die Hälfte seiner
ebenso kostbaren letzten Seite dem Kaiserslauterer Bankraub. Auf der letzten
Seite von Bild (23. 12. 71) findet man nur noch wenig von polizeilichen
Ermittlungen. Stattdessen zwei Sonderspalten: "Die Opfer der
Baader-Meinhof-Bande", "Die Beute der Baader-Meinhof-Bande". Unter die Opfer
zählt Bild nicht nur das nachgewiesene (und zugegebene) Opfer Georg Linke, es
zählt auch alle die hinzu, bei denen noch nicht ganz geklärt ist, wer auf sie
geschossen hat: Helmut Ruf und Norbert Schmid, und da Bild schon einmal beim
Opfern ist, wird auch der Polizeiobermeister Herbert Schoner aus Kaiserslautern
der Einfachheit halber hinzugezählt.
Der Rentner Helmut Langenkämper aus Kiel wird immerhin nur
als einer bezeichnet, der sich "Bankräubern in den Weg stellte". Welchen
Bankräubern? Schwamm drüber, das nehmen wir nicht so genau, die
Vorweihnachtsopferlitanei darf nicht zu kurz ausfallen. Und wohl deshalb auch
zählt Bild Petra Schelm und Georg von Rauch (der hier zum Hauch wird) dazu. Das
soll sicher ein Witz sein.
Ich hoffe, dass Herrn Springer und seinen Helfershelfern
dieser Witz im Hals stecken bleibt mit den Gräten ihres Weihnachtskarpfens. Man
kann die Nase schön voll kriegen, und ich habe sie voll. Wahrscheinlich wird
Bild bald so weit sein, einen so armen Teufel wie Hermann Göring, der sich
leider selbst umbringen musste, unter die Opfer des Faschismus zu zählen. In der
zweiten Litaneispalte – "Beute der Baader-Meinhof-Bande" – wird schlicht auch
der Schaden aufgezählt, den die Frankfurter Kaufhausbrandstiftung verursacht
hat: 2,2 Millionen. Auch Baaders Befreiung und ein Schusswechsel am 24. 12. 70
in Nürnberg laufen unter "Beute". Natürlich werden die erbeuteten Summen der
Banküberfälle, bei denen die Polizei lediglich vermutet, Bild aber weiß, der
Beute zugeschlagen. Logischerweise werden die 134 000 Mark aus Kaiserslautern
mit –, aber nicht mehr aufgezählt, wo man doch Polizeiobermeister Schoner schon
unter die Opfer gezählt hat. Da stimmt doch etwas nicht an der Rechenmaschine,
die Bild bei solchen Additionen benutzt, denn es fehlen die 2,2 Millionen aus
Frankfurt, Beutespalte bleibt Beutespalte, oder etwa nicht? Fragen dürfen wird
man doch wohl. Ich kann nicht annehmen, dass Polizeibehörden und zuständige
Minister über Helfershelfer wie Bild glücklich sein können – oder sollten sie's
doch sein? Ich kann nicht begreifen, dass irgendein Politiker einem solchen
Blatt noch ein Interview gibt. Das ist nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr
faschistoid, das ist nackter Faschismus. Verhetzung, Lüge, Dreck. Diese Form der
Demagogie wäre nicht einmal gerechtfertigt, wenn sich die Vermutungen der
Kaiserslauterer Polizei als zutreffend herausstellen sollten. In jeder
Erscheinungsform von Rechtsstaat hat jeder Verdächtigte ein Recht, dass, wenn
man schon einen bloßen Verdacht publizieren darf, betont wird, dass er nur
verdächtigt wird. Die Überschrift "Baader-Meinhof-Gruppe mordet weiter" ist eine
Aufforderung zur Lynchjustiz. Millionen, für die Bild die einzige
Informationsquelle ist, werden auf diese Weise mit verfälschten Informationen
versorgt. Man hat ja wohl genug von den Verdächtigten oder nur verdächtig
Aussehenden des Herrn XY Zimmermann gehört.
Die Bezeichnung Rechtsstaat wird fragwürdig, wenn man die
gesamte Öffentlichkeit mit ihren zumindest unkontrollierbaren Instinkten in die
Exekutive einbezieht; wenn man die Qualität des Rechts der Quantität von Erfolg
und Popularität opfert. Die nach Indizien zurechtdramatisierten
Spielfilmrekonstruktionen, die Herr Zimmermann als Illustrationen zeigt, sind
doch nichts weiter als miese Grusicals für den Spießer, der in Pantoffeln
dasitzt, Bier trinkt und glaubt, er würde zum Augenzeugen, wo er doch nur einer
undurchsichtigen Mischung von fact und fiction zuschaut, gelegentlich solchen,
in denen Leichenteile die Hauptrolle spielen. Wir wär's, wenn Herr XY Zimmermann
einen der immer noch gesuchten Naziverbrecher in der heiligen Krimistunde suchen
ließe? Nur als Probe, um zu testen, wie's deutsche Krimigemüt darauf reagieren
würde? Die Bundesrepublik Deutschland hat 60.000.000 Einwohner. Die Gruppe um
Meinhof mag zur Zeit ihrer größten Ausdehnung 30 Mitglieder gehabt haben. Das
war ein Verhältnis von 1:2.000.000. Nimmt man an, dass die Gruppe inzwischen auf
6 Mitglieder geschrumpft ist, wird das Verhältnis noch gespenstischer:
1:10.000.000.
Das ist tatsächlich eine äußerst bedrohliche Situation für
die Bundesrepublik Deutschland. Es ist Zeit, den nationalen Notstand auszurufen.
Den Notstand des öffentlichen Bewusstseins, der durch Publikationen wie Bild
permanent gesteigert wird. Was richtet eine Überschrift wie die zitierte an? Wer
zieht Bild zur Rechenschaft, wenn die Vermutungen der Polizei sich als
unzutreffend herausstellen? Wird Bild dementieren, sich korrigieren, oder wird
Herr Springer sich an der Bildspalte auf Seite 5 trösten, die die Überschrift
trägt: "So viel Liebe auf einmal." Dort werden die weihnachtlichen Spenden
publiziert. Gott segne das ehrbare Handwerk. Ich hoffe, die Gräten im
Weihnachtskarpfen waren nicht zu weich und haben sich tatsächlich quergelegt.
Ich wiederhole: Kein Zweifel – Ulrike Meinhof lebt im Kriegszustand mit dieser
Gesellschaft. Jedermann konnte ihre Leitartikel lesen, jedermann kann inzwischen
im Rotbuch 26 des Wagenbach Verlages das Manifest lesen, das nach dem
Untertauchen der Gruppe geschrieben ist. Es ist inzwischen ein Krieg von 6 gegen
60.000.000. Ein sinnloser Krieg, nicht nur nach meiner Meinung, nicht nur
generell, auch im Sinne des publizierten Konzeptes. Ich halte es für
psychologisch aussichtslos. Kleinbürgern, Arbeitern, Angestellten, Beamten (auch
Polizeibeamten), die vom Erlebnis zweier totaler Inflationen geschreckt sind,
ihren relativen Wohlstand ausreden zu wollen, wenn man ihnen nicht erst einmal
ausführlich und nationalökonomisch exakt darlegt, wie fürchterlich "gleich" die
Chancen bei der Währungsreform waren. Und hat je einer die jüngeren
Polizeibeamten darüber informiert, auf dem Hintergrund welcher Polizeigeschichte
die ihren tatsächlich schweren Beruf ausüben? Es gab einmal kurzfristig einen
Bundesminister in einem CDU-Kabinett, der sofort, fast über Nacht aus dem
Verkehr gezogen wurde und dann auch zurücktrat, als sich herausstellte, dass er
einmal Richter in Schneidemühl gewesen war. Für einen so abscheulichen Satrapen
wie Baldur von Schirach, der einige Millionen junger Deutscher in die
verschiedensten Todesarten trieb und zu den verschiedensten Mordarten ermutigte,
sogar für ihn gab es Gnade. Ulrike Meinhof muss damit rechnen, sich einer
totalen Gnadenlosigkeit ausgeliefert zu sehen. Baldur von Schirach hat nicht so
lange gesessen, wie Ulrike Meinhof sitzen müsste. Haben die Polizeibeamten,
Juristen, Publizisten je bedacht, dass alle Mitglieder der Gruppe um Ulrike
Meinhof, alle, praktische Sozialarbeit getan haben, und Einblick in die
Verhältnisse genommen, die möglicherweise zu dieser Kriegserklärung geführt
haben? Schließlich gibt es das Rotbuch 24 des Wagenbach Verlags, Titel: Bambule,
Verfasserin: Ulrike Marie Meinhof. Lesenswert, aufschlussreich – als Film immer
noch nicht gesendet. Wie viel junge Polizeibeamte und Juristen wissen noch,
welche Kriegsverbrecher, rechtmäßig verurteilt, auf Anraten Konrad Adenauers
heimlich aus den Gefängnissen entlassen worden und nie wieder zurückbeordert
worden sind? Auch das gehört zu unserer Rechtsgeschichte und lässt Ausdrücke wie
Klassenjustiz so gerechtfertigt erscheinen wie eine Theorie des Strafvollzugs
der politischen Opportunität.
Ulrike Meinhof und der Rest ihrer Gruppe haben keinerlei
Chance, irgendjemand politisch opportun zu erscheinen. Äußerste Linke, äußerste
Rechte, linke und rechte Mitte, Konservative und Progressive aller
Schattierungen, sie alle kennen keine Parteien mehr, sie sind dann nur noch
Deutsche und sich einig, einig, wenn sie endlich in ihre deutsche
Schwatzgenüsslichkeit zurückfallen, sich ungestört ihrem Fraktionschinesisch
ergeben können, wenn geschehen sollte, was nicht geschehen darf; wenn man eines
Tages lesen würde, dass auch Ulrike Meinhof, später Grashof, dann Baader und
Gudrun Ensslin als "erledigt" zu betrachten sind. Erledigt wie Petra Schelm,
Georg von Rauch und der Polizeibeamte Norbert Schmid. Erledigt, vom Tisch, wie
man so hübsch sagt, und aus dem deutschen Gemüt, mag's sich noch so links
dünken. Man wird das uralte Gesabbere hören. Es müsste ja so kommen. Schade,
aber ich hab's ja immer gesagt. Diese ganze verfluchte nachträgliche
Rechthaberei, wie sie Eltern missratenen Kindern hinterher beten. Und dann kann
man weiter seine verschiedenen Gebetsmühlen drehen. Man hat ja recht gehabt, man
hat's ja immer gewusst, und es musste ja so kommen. Paulinchen war allein zu
Haus.
Muss es so kommen? Will Ulrike Meinhof, dass es so kommt?
Will sie Gnade oder wenigstens freies Geleit? Selbst wenn sie keines von beiden
will, einer muss es ihr anbieten. Dieser Prozess muss stattfinden, er muss der
lebenden Ulrike Meinhof gemacht werden, in Gegenwart der Weltöffentlichkeit.
Sonst ist nicht nur sie und der Rest ihrer Gruppe verloren, es wird auch weiter
stinken in der deutschen Publizistik, es wird weiter stinken in der deutschen
Rechtsgeschichte.
Haben alle, die einmal verfolgt waren, von denen einige im
Parlament sitzen, der eine oder andere in der Regierung, haben sie alle
vergessen, was es bedeutet, verfolgt und gehetzt zu sein? Wer von ihnen weiß
schon, was es bedeutet, in einem Rechtsstaat gehetzt zu werden von Bild, das
eine weitaus höhere Auflage hat, als der Stürmer sie gehabt hat?
Waren nicht auch sie, die ehemals Verfolgten, einmal
erklärte Gegner eines Systems, und haben sie vergessen, was sich hinter dem
reizenden Terminus "auf der Flucht erschossen" verbarg? Wollen sie in dieser
überreizten Situation, in dieser gegenseitigen Verhetzung, die Entscheidung ganz
allein den Polizeibeamten überlassen, die verstört und überarbeitet sind und –
hier mag's angebracht sein – auf eine psychologisch gefährliche Weise
frustriert? Weiß keiner mehr, was es bedeutet, einer gnadenlosen Gesellschaft
gegenüberzustehen? Wollen die ehemals Verfolgten die verschiedenen Qualitäten
des Verfolgtseins gegeneinander ausspielen und ernsthaft die Termini "kriminell"
und "politisch" in absoluter Reinheit voneinander scheiden, einer Gruppe
gegenüber, die ihre Erfahrungen unter Asozialen und Kriminellen gesammelt hat,
und auf dem Hintergrund einer Rechtsgeschichte, wo das Stehlen einer Mohrrübe
schon als kriminell galt, wenn ein Pole, Russe oder Jude sie stahl? Das wäre
weit unter einem Denkniveau, wie es unter verantwortlichen Politikern üblich
sein sollte. Ulrike Meinhof will möglicherweise keine Gnade, wahrscheinlich
erwartet sie von dieser Gesellschaft kein Recht. Trotzdem sollte man ihr freies
Geleit bieten, einen öffentlichen Prozess, und man sollte auch Herrn Springer
öffentlich den Prozess machen, wegen Volksverhetzung.
Die inzwischen längst nicht mehr so jungen Herren
Pragmatiker, die allerorts in wichtigen beratenden Funktionen sitzen, manche von
ihnen mitten in der politischen Verantwortung; sie, die gelegentlich Plattheit
und Pragmatismus aufs gröblichste miteinander verwechseln; die so mühelos und
schmerzlos vom Faschismus in die freiheitlich demokratische Grundordnung
übergewechselt haben oder worden sind; sie waren bis 1945 zu gläubig oder zu
dumm, um nachdenklich zu werden, im Jahre 1945 waren sie zu jung, um für
schuldig gehalten zu werden. Sie waren "desillusioniert", ein bisschen reumütig,
sehr rasch bekehrt, und ihre Schmerzen waren nicht viel mehr als ein bisschen
Hitlerjugendwehwehchen.
Diese gelegentlich etwas glattzüngigen Mechaniker, die
alles so gut und das meiste besser wissen und nun, im Vollgefühl ihrer
Etabliertheit, hin und wieder mit gelinder Wehmut sich nach Ideologie sehnen
(wie nach einem Parfüm, das ihnen fehlt in ihrer absoluten Geruchlosigkeit), ist
es ihnen nicht ein bisschen zu leicht geworden und gemacht worden, haben sie
nicht ein bisschen zu wenig Ideologie, Weltanschauung, Metaphysik in Erinnerung,
als dass sie begreifen könnten, was sie nie erfahren haben: was es bedeutet:
verfolgt und gehetzt zu sein, ständig auf der Flucht? Als Politischer, als
Krimineller, und als "Krimineller"? Wollen sie, dass ihre freiheitlich
demokratische Grundordnung gnadenloser ist als irgendein historischer
Feudalismus, in dem es wenigstens Freistätten gab, auch für Mörder, und erst
recht für Räuber? Soll ihre freiheitlich demokratische Grundordnung sich als so
unfehlbar darstellen, dass keiner sie in Frage stellen darf? Unfehlbarer, als
alle Päpste zusammen je waren? Ich weiß, das sind viele Fragen, aber fragen
dürfen wird man ja noch. Die Bundesrepublik hat mehr als 60.000.000 Einwohner,
die Gruppe um Ulrike Meinhof wahrscheinlich inzwischen sechs Mitglieder. Die
Auflage von Bild liegt wohl um die 4.000.000, die Zahl der Leser wahrscheinlich
um die 10.000.000. Die Weihnachtsbotschaft von Herrn Springer lautete: "Baader-Meinhof-Guppe
mordet weiter." Mordet. Weiter. Fröhliche Weihnachten gehabt zu haben und ein
glückseliges Neues Jahr. Harte Gräten, zähe Karpfen. So viel Liebe auf einmal,
wie Herr Springer sie uns bietet, ist schwer zu ertragen, besonders in einem
Rechtsstaat.
Editorische
Anmerkungen
Der Artikel erschien im SPIEGEL am 10.
Januar 1972
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