Religion und Alltagsverstand
können keine geistige Ordnung bilden, weil sie sich nicht
einmal im Einzelbewußtsein, geschweige im Kollektivbewußtsein,
auf eine Einheit und einen Zusammenhang zurückführen lassen:
sie sind nicht »frei« auf Einheitlichkeit und Zusammenhang
zurückzuführen; denn dies könnte nur »autoritativ« erfolgen,
wie es in gewissen Grenzen in vergangener Zeit tatsächlich
geschehen ist. Das Problem der Religion, verstanden nicht im
konfessionellen, sondern im laizistischen Sinn, als
Glaubcnseinheit von Weltanschauung und einer ihr
entsprechenden Verhaltensnorm: aber warum soll man diese
Glaubenseinheit »Religion« und nicht »Ideologie« oder geradezu
»Politik« nennen?
Es gibt tatsächlich keine Philosophie im
allgemeinen: es gibt verschiedene Philosophien oder
Weltanschauungen, und man trifft zwischen ihnen immer eine
Wahl. Wie erfolgt diese Wahl? Ist diese Wahl eine bloß
geistige Angelegenheit oder ist sie komplexer? Und geschieht
es nicht oft, daß ein Widerspruch
zwischen geistigem Faktum und Verhaltensnorm besteht? Welches
wird dann die wirkliche Weltanschauung sein: die als geistiges
Faktum logisch behauptete oder die aus der wirklichen
Tätigkeit eines jeden Menschen hervorgehende, in seinem
Handeln implizit enthaltene? Und da Handeln immer politisches
Handeln ist, kann man nicht sagen, daß die wirkliche
Philosophie eines jeden in seiner Politik vollständig
enthalten ist? Dieser Kontrast zwischen Denken und Handeln,
d.h. die Koexistenz zweier Weltanschauungen, deren eine sich
in Worten, deren andere sich im tatsächlichen Handeln
ausdrückt, ist nicht immer auf böse Absicht zurückzuführen.
Böse Absicht kann eine ausreichende Erklärung für einige,
einzeln betrachtete Individuen sein, oder auch für mehr oder
minder zahlreiche Gruppen; jedoch reicht sie nicht aus, wenn
der Kontrast in den Lebensäußerungen großer Massen auftritt:
dann kann er nur Symptom tieferer
geschichtlich-gesellschaftlicher Gegensätze sein. Das
bedeutet, daß eine gesellschaftliche Klasse über eine eigene
und sei es auch nur embryonale Weltanschauung verfügt, die
sich sprunghaft und gelegentlich in der Aktion manifestiert,
wenn eine solche Gruppe sich als organisches Ganzes bewegt.
Diese Klasse hat, weil geistig unfrei und untergeordnet, die
fremde Anschauung einer anderen Gruppe entliehen, vertritt sie
mit Worten und glaubt ihr auch zu folgen, da sie ihr zu
»normalen Zeiten« folgt, d. h. solange ihr Verhallen nicht
unabhängig, sondern eben untergeordnet und unfrei ist. Daher
kann man Philosophie nicht von Politik trennen. Man kann im
Gegenteil beweisen, daß die Wahl einer Weltanschauung oder die
Kritik an ihr selbst politische Gegebenheiten sind.
Es ist also zu erklären, warum zu jeder
Zeit viele philosophische Systeme und Strömungen koexistieren,
wie sie entstehen, sich verbreiten, warum sie bei ihrer
Ausbreitung gewissen Bruchlinien und gewissen Richtungen
folgen, etc. Das zeigt, wie wichtig es ist, die eigenen Welt-
und Lebensintuitionen kritisch zu systematisieren. Dabei muß
genau definiert werden, was mit »System« gemeint ist, damit
der Begriff nicht im pedantisch-professoralen Sinne
mißverstanden wird. Aber die Erarbeitung dieser Frage darf nur
im Rahmen der Geschichte der Philosophie erfolgen. Sie zeigt
die Entwicklung des Denkens im Lauf der Jahrhunderte und welch
kollektive Anstrengung unsere jetzige, diese ganze vergangene
Geschichte zusammenfassende Denkweise gekostet hat, sie zeigt
sie auch in ihren Irrtümern und Delirien. Andererseits, wenn
diese Irrtümer auch zurückliegen und korrigiert wurden,
schließt das nicht aus, daß sie sich gegenwärtig nicht
wiederholen könnten und noch einmal eine Korrektur
erforderten.
Welche Vorstellung macht sich das Volk
von der Philosophie? Man kann es aus den Redewendungen des
gewöhnlichen Sprachgebrauchs rekonstruieren. Eine verbreitete
Redensart ist: »die Dinge philosophisch nehmen«, was, einmal
analysiert, nicht völlig zu verwerfen ist. Es ist wahr, daß in
dieser Redensart eine Aufforderung zur Resignation und zur
Geduld enthalten ist. Der wichtigste Punkt scheint indes die
Aufforderung zum Nachdenken zu sein und dazu, sich vernünftig
klarzumachen, das Geschehene sei im Grunde rational und müsse
als solches begriffen werden, indem man seine eigenen
rationalen Kräfte konzentriert und sich nicht von heftigen und
instinktiven Impulsen mitreißen läßt. Man könnte diese
Redensarten des Volkes, in denen die Begriffe »Philosophie«
und »philosophisch betrachtet« vorkommen, mit ähnlichen
Aussprüchen von volkstümlichen Schriftstellern vergleichen,
wie sie die großen Wörterbücher sammeln. Man wird sehen, daß
ihre Bedeutung sehr präzis ist und in der Überwindung der
tierischen und elementaren Leidenschaften liegt, in einer
Auffassung der Notwendigkeit, die dem eigenen Handeln eine
bewußte Richtung verleiht. Dies ist der gesunde Kern des
Alltagsverstands, der darum bon sens
genannt werden könnte und verdiente, weiter entwickelt und
einheitlich und kohärent gemacht zu werden. Deshalb ist wohl
auch die Trennung der sogenannten »wissenschaftlichen«
Philosophie von jener volkstümlichen und »vulgären«
Philosophie, die nur ein auseinanderfließender Ideen- und
Meinungskomplex ist, unmöglich.
Aber hier stellt sich das Grundproblem
jeder Weltanschauung, jeder Philosophie, die zu einer
kulturellen Bewegung, einer »Religion«, zu einer praktischen
Aktivität geworden ist, zu der die Philosophie die
theoretische »Prämisse« darstellt (eine »Ideologie« könnte man
sagen, wenn man dem Terminus Ideologie eben die höhere
Bedeutung einer Weltanschauung verliehe, die sich implizit in
der Kunst, dem Recht, der ökonomischen Tätigkeit, in allen
individuellen und kollektiven Lebensäußerungen manifestiert).
Es ist das Problem, die ideologische Einheit des
gesellschaftlichen Blocks zu bewahren, der ja gerade durch
diese bestimmte Ideologie zementiert und vereinigt wurde. Die
Macht der Religionen und besonders der katholischen Kirche
bestand und besteht darin, daß sie deutlich die Notwendigkeit
spürte, die Einheit der Lehre für die gesamte »religiöse«
Masse zu wahren. Sie kämpfen gegen die Trennung der
intellektuell höher stehenden Schichten von den niedrigeren
Schichten. Die römische Kirche hat immer einen äußerst zähen
Kampf dagegen geführt, daß sich »offiziell« zwei Religionen
bildeten, die der »Intellektuellen« und die der »einfachen
Seelen«. Dieser Kampf war für die Kirche selbst nicht ohne
große Unannehmlichkeiten, aber sie sind mit dem
geschichtlichen Prozeß verknüpft, der die gesamte bürgerliche
Gesellschaft ändert und der en bloc eine ätzende Kritik der
Religionen enthält. Um so mehr springt die
Organisationsfähigkeit des Klerus auf kulturellem Gebiet ins
Auge und das abstrakt rationale und richtige Verhältnis, das
die Kirche in ihrem Einflußbereich zwischen Intellektuellen
und den einfachen Leuten hat herstellen können. Ohne Zweifel
sind die Jesuiten in erster Linie die Schöpfer dieses
Gleichgewichts gewesen. Um es zu konservieren, haben sie der
Kirche eine fortschrittliche Richtung verliehen, die gewissen
Bedürfnissen der Wissenschaft und der Philosophie
entgegenkommt, aber in einem so langsamen und methodischen
Rhythmus, daß die Veränderungen von der einfachen Masse nicht
wahrgenommen werden, obwohl sie den »Integralisten«
»revolutionär« und demagogisch vorkommen.
Eine der Hauptschwächen der
Immanenzphilosophien besteht gerade in ihrem Unvermögen, keine
ideologische Einheit zwischen oben und unten, den
Intellektuellen und den »Einfachen« hergestellt zu haben. In
der Geschichte der abendländischen Kultur zeigte sich dies auf
europäischer Ebene, nämlich an dem unmittelbaren Mißerfolg der
Renaissance und teilweise auch der Reformation gegenüber der
römischen Kirche. Diese Schwäche zeigt sich in der Behandlung
der Schulfrage. Die Immanenzphilosophien haben
noch nicht einmal den Versuch unternommen, eine
Anschauung zu entwickeln, die die
Religion in der Kindererziehung
hätte ersetzen können: daher der
pseudo-historische Sophismus, mit dem nichtreligiöse (nichtkonfessionelle),
in Wirklichkeit atheistische Pädagogen das Zugeständnis des
Religionsunterrichts machen, da die Religion die
Kindheitsphilosophie der Menschheit sei, die sich in jeder -
nicht metaphorisch gemeinten - Kindheit
erneuere. Der Idealismus hat sich auch kulturellen Bewegungen
des »ins Volk Gehens« gegenüber ablehnend gezeigt, die sich
in den sogenannten Volkshochschulen und ähnlichen
Institutionen manifestierten; und nicht allein wegen deren
Mängel, denn in einem solchen Falle haue man versuchen können,
es besser zu machen. Immerhin waren diese Bewegungen des
Interesses wert und verdienten, untersucht zu werden: sie
hatten Erfolg in dem Sinne, daß bei den »einfachen Leuten«
aufrichtiger Enthusiasmus und ein ausgeprägter Wille vorhanden
waren, sich zu einer höheren Form der Kultur und der
Weltanschauung emporzuarbeiten. Jenen volkspädagogischen
Bemühungen fehlten aber jegliche organische Struktur
philosophischen Denkens und organisatorische Festigkeit und
kulturelle Zentralisation. Man hat den
Eindruck, daß sie den ersten Kontakten zwischen den englischen
Händlern und den Negern Afrikas glichen: sie gaben
minderwertige Waren, um Gold zu erhalten. Andererseits konnten
eine organische Struktur des Denkens und kulturelle Festigkeit
nur dann erreicht werden, wenn die Intellektuellen und die
»Einfachen« dieselbe Einheit bildeten wie sie zwischen Theorie
und Praxis herrschen soll, wenn also die Intellektuellen auf
organische Weise die Intellektuellen jener Massen gewesen
wären, wenn sie die Probleme und Prinzipien, die die Massen
durch ihr praktisches Handeln schufen, ausgearbeitet und
kohärent gemacht, und so einen kulturellen und
gesellschaftlichen Block gebildet hätten. So stellt sich
erneut die bereits angedeutete Frage: Gibt es eine wirkliche
philosophische Bewegung nur in Form einer spezialisierten
Kultur für begrenzte Gruppen von Intellektuellen oder ist sie
nur dann wirklich eine philosophische Bewegung, wenn sie
während der Erarbeitung eines
wissenschaftlich kohärenten, dem Alltsgsverstand
überlegenen Denkens nie vergißt mit den "Einachen"in
Kontakt zu bleiben, und gerade in diesem Kontakt die Quelle
für die /u untersuchenden und zu lösenden Probleme sieht? Nur
durch diesen Kontakt wird eine Philosophie »geschichtlich«,
reinigt sie sich von intellektualistischen Elementen
individueller Natur und wird »Leben«.(1)
Eine Philosophie der
Praxis kann zunächst nur polemisch und kritisch auftreten, als
Überwindung früherer Denkweisen und des bestehenden konkreten
Denkens (oder der bestehenden kulturellen Welt). Folglich vor
allem als Kritik des »Alltagsverstandes« (nachdem sie - auf
dem Boden des Alltagsverstandes stehend - bewies, daß »alle«
Philosophen sind und es sich nicht darum handelt, ex novo eine
Wissenschaft in das individuelle Leben »aller« einzuführen,
sondern darum, eine bereits vorhandene Tätigkeit zu erneuern
und »kritisch« zu machen) und dann als Kritik der Philosophie
der Intellektuellen, die zur Philosophiegeschichte Anlaß
gegeben hat; sie kann (und sie entwickelte sich in der Tat
wesentlich aus der Tätigkeit besonders begabter Individuen)
als eine Serie von »Höhepunkten« in der Entwicklung des
Alltagsverstandes betrachtet werden, zumindest des
Alltagsverstandes der gebildetsten Schichten der Gesellschaft
und durch diese wiederum auch des Alltagsverstandes des
Volkes. Somit muß eine Einleitung zum Studium der Philosophie
die im Entwicklungsprozeß der allgemeinen Kultur entstandenen
Probleme synthetisch darstellen. Die allgemeine Kultur
spiegelt sich nur teilweise in der Geschichte der Philosophie
wider, die dennoch mangels einer Geschichte des
Alltagsverstandes (unmöglich zu konstruieren wegen fehlenden
dokumentarischen Materials) wichtigster Bezugspunkt bleibt.
Solchermaßen können jene Probleme kritisiert, ihr wirklicher
Wert (wenn sie noch einen haben) oder ihre vergangene
Bedeutung als überwundene Glieder einer Kette aufgezeigt
werden, und man kann die neuen aktuellen Probleme oder die
aktuelle Formulierung alter Probleme feststellen.
Das Verhältnis zwischen
»höherer« Philosophie und Alltagsverstand wird von der
»Politik« gesichert, wie auch das Verhältnis zwischen dem
Katholizismus der Intellektuellen und dem der »Einfachen« von
der Politik garantiert wird. Der Unterschied ist jedoch
fundamental. Muß die Kirche ein Problem der »Einfachen«
aufgreifen, so ist das ein Symptom für einen Bruch in der
Gemeinschaft der »Gläubigen«, der nid« dadurch geheilt werden
kann, daß die »Einfachen« auf das Niveau der Intellektuellen
gehoben
werden (die Kirche stellt sich noch nicht einmal dieses
Problem, das ideell und ökonomisch über ihre gegenwärtigen
Kräfte ginge). Vielmehr wird eine eiserne Disziplin auf die
Intellektuellen ausgeübt, damit sie gewisse Grenzen der
Unterscheidung nicht überschreiten und diese damit
katastrophal und irreparabel machen. Früher wurden diese
»Brüche« in der Gemeinschaft der Gläubigen durch starke
Massenbewegungen geheilt, die zur Gründung neuer religiöser,
um starke Persönlichkeiten (wie Dominikus, Fran-ziskus)
versammelte Orden führten.(2)
Aber die Gegenreformation
hat dieses Emporkeimen von Kräften aus dem Volk sterilisiert:
der Jesuitenorden ist der letzte große religiöse Orden
reaktionär-autoritären Ursprungs und repressiven
»diplomatischen« Charakters, dessen Entstehen die Erstarrung
des katholischen Organismus kennzeichnete. Die später
entstandenen religiösen Orden haben eine äußerst geringe
»religiöse« und eine sehr große »disziplinäre« Wirkung auf die
Masse der Gläubigen, sie sind Auswüchse oder Fangarme der
Gesellschaft Jesu oder sind es geworden - Werkzeuge des
»Widerstands«, um erworbene politische Positionen zu halten,
aber nicht entwicklungsfähige Kräfte der Erneuerung. Der
Katholizismus ist »Jesuitismus« geworden. Der Modernismus hat
keine »religiösen Orden«, sondern eine politische Partei, die
christlichen Demokraten, hervorgebracht.(3)
Die Position der
Philosophie der Praxis steht der katholischen Philosophie
antithetisch gegenüber: die Philosophie der Praxis hat nicht
die Tendenz, die »Einfachen« in ihrer primitiven Philosophie
des Alltagsverstandes zu belassen, sondern will sie vielmehr
zu einer höheren Lebensauffassung führen. Wenn sie auf der
Notwendigkeit des Kontaktes zwischen Intellektuellen und
Einfachen besteht, dann nicht, um die wissenschaftliche
Tätigkeit zu begrenzen und eine Einheit auf dem niedrigen
Niveau der Massen beizubehalten, sondern gerade um einen
geistig-moralischen Block zu bilden,
der, politisch gesehen, einen intellektuellen Fortschritt der
Massen, und nicht nur kleiner Intellektuellengruppen,
ermöglicht. Der aktive Mensch aus der Masse handelt praktisch,
hat aber kein klares theoretisches Bewußtsein dieses seines
Handelns, das auch eine Erkenntnis der Welt ist, indem es sie
verändert. Sein theoretisches Bewußtsein kann sogar historisch
gesehen im Gegensatz zu seinem Handeln stehen. Man kann
beinahe sagen, er habe ein zweifaches theoretisches Bewußtsein
(oder ein widersprüchliches Bewußtsein): ein seinem Handeln
implizites Bewußtsein, das ihn real mit allen seinen
Mitarbeitern in der praktischen Veränderung der Wirklichkeit
vereint, und ein oberflächlich explizites oder verbales, aus
der Vergangenheit übernommenes, kritiklos akzeptiertes
Bewußtsein. Dennoch ist diese »verbale« Anschauung nicht ohne
Konsequenzen: sie verknüpft ihn mit einer bestimmten
gesellschaftlichen Klasse, beeinflußt sein moralisches
Verhalten, seine Willensrichtung in mehr oder minder
energischer Weise, möglicherweise in einem Grad, daß die
Widersprüchlichkeit des Bewußtseins keine Aktion, keine
Entscheidung, keine Wahl mehr erlaubt und einen Zustand
moralischer und politischer Passivität bewirkt. Das kritische
Selbstverständnis
erfolgt also durch einen Kampf politischer »Hegemonien« und
kontrastierender Zielvorstellungen
erst auf ethischem, dann auf politischem Gebiet, bis es zu
einem höheren Gebilde der eigenen Anschauung der Wirklichkeit
vorstößt. Das Bewußtsein, Teil einer bestimmten hegemonialen
Kraft zu sein (d. h. das politische Bewußtsein), ist die erste
Phase einer weiteren, fortschreitenden Selbsterkenntnis, wo
Theorie und Praxis schließlich zu einer Einheit gelangen.
Folglich ist auch die Einheit von Theorie und Praxis keine
mechanische Gegebenheit, sondern historisches Werden, dessen
ursprüngliche und elementare Phase in der »Unterscheidung«,
der »Loslösung«, der instinktiven
Unabhängigkeit liegt und bis zum wirklichen und vollständigen
Besitz einer kohärenten und einheitlichen Weltanschauung
fortschreitet. Daher muß man betonen, daß die politische
Entwicklung des Begriffs Hegemonie nicht allein einen
politisch-praktischen, sondern auch einen großen
philosophischen Fortschritt darstellt. Er bezieht
notwendigerweise eine geistige Einheit mit ein und setzt diese
voraus, sowie eine Ethik auf Grund einer
Wirklichkeitsanschauung, die den Alltagsverstand
überwunden hat und - sei es auch noch innerhalb gewisser enger
Grenzen - kritisch geworden ist.
Jedoch ist während der jüngsten Entwicklung der Philosophie
der Praxis die Vertiefung des Begriffs der Einheit von Theorie
und Praxis noch in einem Anfangstadium: es sind noch Reste von
Mechanizismus geblieben, weil man von der Theorie als
»Komplement«, »Zubehör« der Praxis spricht, die Theorie als
Magd der Praxis ansieht. Es ist wohl richtig, auch diese Frage
historisch, als einen Aspekt der politischen
Lage der Intellektuellen, zu sehen. Kritische
Selbsterkenntnis bedeutet historisch und
politisch die Bildung einer Elite von Intellektuellen:
eine Menschenmasse »unterscheidet« sich
nicht und wird nicht »für sich« unabhängig, wenn sie sich (im
weiten Sinne) nicht organisiert Es gibt keine
Organisation ohne Intellektuelle, d. h. ohne
Organisatoren und Führer, und ohne eine konkrete Manifestation
der theoretischen Seite des Theorie-Praxis-Nexus in Form einer
»spezialisierten«, mit begrifflich philosophischer Arbeit
befaßten Schicht. Aber dieser Prozeß der Heranbildung von
Intellektuellen ist lang, schwierig, äußerst widerspruchsvoll,
wobei die »Treue« der Massen manchmal einer schweren Prüfung
umerzogen wird. (Und Treue und Disziplin sind zunächst die
Form, in der sich die Zustimmung der
Masse und ihre Mitarbeit an der
Entwicklung des gesamten kulturellen
Phänomens äußern.) Der Entwicklungsprozeß ist an eine
Dialektik Intellektuelle - Masse gebunden,
die Schicht der intellektuellen
entwickelt sich quantitativ und qualitativ, aber jeder Sprung
zu einer neuen »Weitläufigkeit« und Komplexität
der Intellektuellenschicht ist an eine analoge Bewegung der
Masse der Einfachen gebunden, die sich zu höheren Kulturstufen
erhebt und zugleich ihren Einflußbereich erweitert, mit mehr
oder weniger wichtigen individuellen oder klassengebundenen
Vorstößen auf die Schicht der spezialisierten Intellektuellen
hin. Jedoch wiederholen sich im Prozess ständig
Momente, in denen zwischen Masse und Intellektuellen (oder
gewissen Intellektuellen oder einer Gruppe von ihnen) eine
Trennung erfolgt, ein Kontaktverlust und es entsteht der
Eindruck des »Akzessor sehen«, Komplementären,
Untergeordneten. Auf dem »praktischen«'
Element des Theorie-Praxis-Nexus zu bestehen, nachdem
beide Elemente gespalten, getrennt und nicht bloß
unterschieden wurden (dies ist eben eine bloß mechanische und
konventionelle Operation), bedeutet, daß man eine relativ
primitive, eine noch ökonomischkorporative Phase durchläuft,
in der sich der allgemeine Rahmen der »Basis-Struktur«
quantitativ verändert und die entsprechende Überbau-Qualität
zwar im Entstehen begriffen ist, sich aber noch nicht
organisch entwickelt hat. Man muß die Bedeutung der
politischen Parteien in der modernen Welt bei der Erarbeitung
und Verbreitung der Weltanschauungen hervorheben, da sie die
entsprechende Ethik und Politik entscheidend beeinflussen, d.
h. fast als geschichtliche »Experimentatoren« dieser
Anschauungen fungieren. Die Parteien
treffen individuell unter der handelnden Masse eine Auswahl.
Diese Auswahl erfolgt auf praktischem wie auf theoretischem
Gebiet, und das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist um
so enger, je radikaler und vital erneuernd und
antagonistischer sich diese Anschauungen den alten Denkweisen
gegenüber verhalten. Deshalb kann man sagen, daß die
Parteien Schöpfer einer neuen integralen und
totalitären Intellektualität sind, Schmelztiegel der
Vereinigung von Theorie und Praxis, verstanden als realer
geschichtlicher Prozeß. Man versteht, daß die individuelle
Mitgliedschaft und nicht die lose indirekte Mitgliedschaft vom
Typ der Labour-Party zur Parteibildung
notwendig ist, denn die Leitung »der gesamten
ökonomisch-aktiven Masse« erfolgt dann nicht nach alten
Schemata, sondern auf dem Wege der Erneuerung, die in ihren
ersten Stadien nur vermittels einer Elite Massencharakter
annehmen kann. Bei dieser Elite ist die der menschlichen
Tätigkeit implizite Anschauung in gewisser Weise schon zu
einem systematischen, kohärenten, aktuellen Bewußtsein und
einem präzisen, entschiedenen Willen geworden. Eine dieser
Phasen kann man in jener Diskussion untersuchen, in der sich
die neuesten Entwicklungen der Philosophie der Praxis
manifestieren, einer Diskussion, die in einem Artikel von D.S.
Mirskij, Mitarbeiter der Cultura (4)
zusammengefaßt wurde. Man kann sehen, wie sich der
Übergang von einer mechanistischen, bloß äußerlichen
Anschauung zu einer aktivistischen Anschauung vollzogen hat,
die - wie bemerkt wurde - sich einem richtigen Verständnis der
Einheit von Theorie und Praxis nähert, obwohl sie deren
synthetische Bedeutung noch nicht völlig erkannt hat. Man kann
beobachten, wie das deterministische, fatalistische,
mechanistische Element ein unmittelbares ideologisches »Aroma«
der Philosophie der Praxis war, eine Form von Religion und
Reizmittel (aber im Sinne der Rauschgifte), das durch den
»subalternen« Charakter bestimmter gesellschaftlicher
Schichten sich als geschichtlich notwendig erwies und als
solches gerechtfertigt ist. Wenn man im Kampf die Initiative
nicht ergreifen kann und der Kampf selbst aus einer Reihe von
Niederlagen besteht, wird der mechanische Determinismus zu
einer erstaunlichen Kraft des moralischen Widerstands, des
Zusammenhalts, des obstinaten und geduldigen Durchhaltevermögens.
»Ich bin im Augenblick besiegt, aber auf lange Sicht arbeitet
die Macht der Dinge für mich.« Der reale Wille verkleidet
sich, in einem Akt des Glaubens an eine gewisse Rationalität
der Geschichte, in eine empirische und primitive Form
leidenschaftlicher Vorherbestimmung, die wie ein Ersatz der
Prädestination, der Vorsehung etc. der konfessionellen
Bekenntnisse aussieht. Man muß die Tatsache betonen, daß auch
in einem solchen Fall in Wirklichkeit eine starke
willensmäßige Aktivität besteht, ein direkter Eingriff in die
»Macht der Dinge«, aber eben in einer verhüllten, impliziten
Form, die sich ihrer selbst schämt; und deshalb ist das
Bewußtsein widersprüchlich, ermangelt einer kritischen
Einheit. Aber wenn der »Subalterne« zum Führer und
Verantwortlichen für die ökonomische Aktivität der Massen
wird, wird von einem gewissen Punkt an der Mechanizismus zur
drohenden Gefahr. Es kommt zu einer Revision der gesamten
Denkweise, weil sich der gesellschaftliche Status änderte. Der
Herrschaft der »Macht der Dinge« werden engere Grenzen
gesetzt. Warum? Weil im Grunde der Subalterne gestern eine
Sache war und heute nicht mehr Sache, sondern geschichtliche
Person, ein Protagonist, ist. War er gestern unverantwortlich,
weil einem fremden Willen gegenüber »resistent«, so fühlt er
sich heute verantwortlich, weil er nicht mehr widerspenstig,
sondern handelnd und notwendig aktiv und unternehmend ist.
Aber war er gestern je bloßer »Widerstand«, bloße »Sache«,
bloße »Unverantwortlichkeit«? Gewiß nicht. Man muß vielmehr
hervorheben, daß der aktive und reale Wille von Schwachen sich
in das Gewand des Fatalismus kleidet. Deswegen sollte man
immer auf die Fragwürdigkeit des medianischen Determinismus
hinweisen, der als naive Philosophie der Massen erklärbar und
nur als solche ein von innen kommendes Element der Kraft ist,
aber zur Ursache von Passivität und blöder Selbstgenügsamkeit
wird, sobald er als reflektierte und kohärente Philosophie von
Intellektuellen übernommen wird, und das, ohne daß man wartet,
bis der Subalterne führend und verantwortlich geworden ist.
Ein Teil auch der subalternen Massen ist immer führend und
verantwortlich, und die Philosophie dieses Teiles geht immer
der Philosophie des Ganzen voraus, nicht allein als
theoretische Antizipation, sondern auch als aktuelle
Notwendigkeit.
Daß die mechanistische Auffassung eine Religion der
Subalternen gewesen sei, ergibt eine Analyse der Entwicklung der
christlichen Religion. Sie war bis zu einer gewissen
geschichtlichen Periode und unter bestimmten geschichtlichen
Bedingungen eine »Notwendigkeit«, eine notwendige Form des
Willens der Volksmassen, und als solche besteht sie noch weiter.
Sie war eine bestimmte Form der Rationalität der Welt und des
Lebens und schuf den allgemeinen Rahmen für die reale praktische
Tätigkeit. Im folgenden Abschnitt eines Artikels der Civilt ä
Cattolica (Heidnischer und christlicher Individualismus,
5. März 1932) scheint mir diese
Funktion des Christentums gut charakterisiert: »Der Glaube an
eine sichere Zukunft, an die Unsterblichkeit der zur
Glückseligkeit bestimmten Seele, die Sicherheit, in die ewige
Seligkeit eingehen zu können, waren Triebfedern für eine
intensive Arbeit innerer Vervollkommnung und geistiger Erhebung.
Hier hat der wahre christliche Individualismus den Impuls zu
seinen Siegen gefunden. Alle Kräfte des Christen waren auf
dieses edle Ziel gerichtet. Vom spekulativen, die Seele im
Zweifel entnervenden Schwanken befreit, und
von ewigen Prinzipien erleuchtet, fühlte der
Mensch die Hoffnungen-Wiederaufleben; in der Gewißheit, von
einer höheren Macht Im Kampf gegen
das Übel gestützt zu werden, tat er sich Gewalt an und besiegte
die Welt.« Aber auch in diesem Fall versteht man darunter das
naive Christentum, nicht das jesuitisch verformte
Christentum, das zu einem Narkotikum für
die Volksmassen geworden ist.
Aber die Position des Calvinismus, der mit seiner ehernen
Prädestinations- und Gnadenlehre eine
große Expansion des Unternehmungsgeistes bewirkt (oder zur Form
dieser Bewegung wird) ist noch ausdrucksvoller und bedeutsamer.(5)
Warum und wie verbreiten sich die neuen Weltanschauungen und
werden populär? Beeinflussen sie (wie und in welchem Maße)
während dieses Verbreitungsprozesses
(der zugleich Altes ersetzt und sehr oft Neues und Altes
kombiniert) die rationale Form, in der die neue Anschauung
kommentiert und dargestellt wird, beeinflussen sie die Autorität
ihres Kommentators und die der Denker oder Wissenschaftler
(soweit sie zumindest generell anerkannt und geschätzt werden),
auf die der Kommentator sich zu seiner Unterstützung beruft, und
beeinflussen sie die Zugehörigkeit zur Organisation derjenigen,
die die neue Anschauung vertreten (nachdem sie jedoch der
Organisation aus anderen Motiven beigetreten
sind)? In der Wirklichkeit .variieren diese Elemente je nach
Gesellschaftsklasse und Kulturstufe der entsprechenden Gruppe.
Aber die Untersuchung interessiert besonders hinsichtlich der
Volksmassen, die ihre Anschauungen langsamer ändern, und die sie
auf jeden Fall nie ändern, indem sie sie in sozusagen »reiner«
Form übernehmen, sondern sie machen sie sich immer nur in mehr
oder minder bizarren und sonderbaren Kombinationen zu eigen. Die
rationale, logisch kohärente Form, das gründliche Abwägen, das
kein positives oder negatives Argument von einigem Gewicht
vernachlässigt, hat seine Wichtigkeit, ist aber bei weitem nicht
entscheidend; es kann in untergeordneter Weise entscheidend
sein, wenn die betreffende Person sich bereits in einer
intellektuellen Krise befindet, zwischen Altem und Neuem hin und
her treibt, den Glauben an das Alte verloren und sich noch nicht
für das Neue entschieden hat etc.
Folgendes kann man über die Autorität der Denker und
Wissenschaftler sagen: Sie ist im Volk sehr groß, aber faktisch
hat jede Anschauung ihre Denker und
Wissenschaftler, und die Autorität ist entsprechend verteilt; es
besteht weiterhin für jeden Denker die Möglichkeit zu
unterscheiden, zu bestreiten, es gerade auf diese Weise gesagt
zu haben etc. Daraus ist zu schließen, daß die Verbreitung neuer
Anschauungen aus politischen, in letzter Instanz
gesellschaftlichen Gründen erfolgt, daß aber das formale Element
der logischen Kohärenz, das autoritative und das organisatorische
Element dieses Prozesses eine sehr große Rolle spielen, sobald
sich - sei es bei den Einzelnen, sei es
bei zahlreicheren Gruppen - eine allgemeine Orientierung
vollzogen hat. Daraus folgert man jedoch, daß in den
Massen als solchen die Philosophie nur
als Glaube gelebt werden kann. Man stelle
sich übrigens einmal die intellektuelle Position eines Mannes
aus dem Volk vor. Er hat sich Meinungen, Überzeugungen,
Kriterien der Unterscheidung und Verhaltensnormen gebildet.
Jeder Vertreter eines ihm entgegen
gesetzten Standpunktes kann - sofern er ihm intellektuell
überlegen ist - seine Argumente besser vorbringen, ihn logisch
sozusagen in den Sack stecken etc. Sollte aber deswegen der Mann
aus dem Volk seine Überzeugungen ändern? Weil er diese in der
unmittelbaren Diskussion nicht zur Geltung bringen kann? Aber
dann könnte es ihm ja geschehen, seinen Standpunkt einmal pro
Tag zu ändern, d. h. jedesmal, wenn er auf einen intellektuell
höherstehenden ideologischen Gegner trifft. Auf welchen
Elementen beruht also seine Philosophie? Und besonders seine
Philosophie in jener Form, die für ihn als Verhaltensnorm von
höchster Wichtigkeit ist? Unzweifelhaft ist das wichtigste
Element nichtrationalen, glaubensmäßigen Charakters. Aber
Glauben an wen und was? Besonders an die Gesellschaftsklasse,
der er angehört, wenn sie diffus denkt wie er. Der Mann aus dem
Volk denkt, daß sich einfach nicht so viele irren können, wie
der argumentierende Gegner ihn glauben machen will, es stimme
zwar, daß er selbst nicht fähig sei, seine Gründe vorzubringen
und zu entwickeln wie der Gegner, aber d?ß es in seiner Gruppe
jemanden gebe, der dies könne, gewiß auch besser als dieser
Gegner hier. Und er erinnert sich daran, einmal eine Darstellung
der Elemente seines Glaubens weitläufig, zusammenhängend gehört
zu haben, so daß er davon überzeugt
wurde. Er erinnert sich der Gründe nicht
konkret und wüßte sie auch nicht zu wiederholen, aber er weiß,
daß es sie gibt, weil er sie hat darlegen hören und von ihnen
überzeugt wurde. Daß er einmal
durchschlagend überzeugt wurde, ist der beständige Grund für das
Andauern dieser Überzeugung, auch wenn er die ihr
zugrundeliegenden Argumente nicht mehr zusammenbringt.
Aber diese Überlegungen führen zu dem Schluß, daß die neuen
Überzeugungen der Volksmassen extrem labil sind, besonders wenn
sie den orthodoxen (auch neuen) Anschauungen zuwiderlaufen, die
den allgemeinen Interessen
der herrschenden Klassen gesellschaftlich konform sind. Man kann
dies sehen, wenn man über den Erfolg der Religionen und Kirchen
nachdenkt. Die Religion oder eine bestimmte Kirche erhält sich
ihre Gemeinschaft der Gläubigen (in gewissen Grenzen der
Notwendigkeiten der allgemeinen historischen Entwicklung), wenn
sie permanent und organisiert den eigenen Glauben stützt,
unermüdlich dessen Apologetik wiederholt in jedem Augenblick mit
den stest gleichen Argumenten kämpft und eine Hierarchie von
Intellektuellen unterhält, die dem Glauben zumindest den Schein
der Würde des Denkens geben. Jedesmal, wenn aus politischen
Gründen die Kontinuität des Verhältnisses zwischen Kirche und
Gläubigen gewaltsam unterbrochen wurde, wie während der
Französischen Revolution, waren die von der Kirche erlittenen
Verluste nicht zu errechnen und, hätte der Umstand der
erschwerten Religionsausübung eine gewisse Zeit überschritten,
so kann man sich vorstellen, daß die
Verluste definitiv gewesen wären. Eine
neue Religion wäre entstanden,
wie sie übrigens in Frankreich in Kombination mit dem alten
Katholizismus entstanden ist. Daraus lassen sich bestimmte
Notwendigkeiten für jede kulturelle Bewegung ableiten, die dahin
tendiert, den Alltagsverstand und generell die alten
Weltanschauungen zu ersetzen: i. nie müde zu werden, die
eigenen Argumente zu wiederholen (wobei ihre literarische Form
wechseln kann): die Wiederholung ist das wirksamste didaktische
Mittel, um auf die Volksmentalität einzuwirken; 2. unermüdlich
zu arbeiten, um intellektuell immer umfassendere Volksschichten
intellektuell zu fördern, dem amorphen Massenelement
Persönlichkeit zu verleihen, was bedeutet, an der Bildung eines
neuen Typs von Intellektuellen-Eliten zu arbeiten, die direkt
aus der Masse hervorgehen und gleichwohl mit ihnen in Verbindung
bleiben, um zu »Korsettstangen« zu werden. Wird diese zweite
Notwendigkeit erfüllt, so verändert sie wirklich das
»ideologische Panorama« einer Epoche. Andererseits können diese
Eliten sich nicht bilden und entwickeln, ohne daß eine
hierarchische Gliederung der Autorität und intellektuellen
Kompetenz entsteht, die in einem großen einzelnen Philosophen
gipfeln kann, falls er fähig ist, sich konkret die Bedürfnisse
der massiven ideologischen Gemeinschaft zu vergegenwärtigen, und
zu verstehen, daß sie nicht die Wendigkeit eines individuellen
Gehirns haben kann, und falls es ihm dennoch gelingt, die
kollektive Lehre formal in einer Weise auszuarbeiten, die der
Denkweise eines Kollektivdenkers am meisten entsprechend und
angepaßt ist.
Es ist evident, daß eine derartige massenwirksame
Konstruktion nicht »willkürlich« um irgendeine Ideologie herum
errichtet werden kann. Der formal konstruktive Wille einer
Persönlichkeit oder einer Gruppe, die sich dies aus einem den
eigenen philosophischen oder religiösen Überzeugungen
entspringenden Fanatismus vornimmt, genügt nicht. An der
Art, wie die Masse einer Ideologie anhängt oder nicht anhängt,
erweist sich die reale Kritik der Rationalität und
Geschichtlichkeit der Denkweisen. Die willkürlichen
Konstruktionen scheiden mehr oder weniger schnell aus dem
historischen Wettkampf aus, auch wenn es ihnen auf Grund einer
Kombination unmittelbar günstiger Umstände gelingt, sich einer
gewissen Popularität zu erfreuen; die Konstruktionen hingegen,
die den Bedürfnissen einer komplexen und organischen
geschichtlichen Periode entsprechen, werden sich schließlich
immer durchsetzen und vorherrschen, auch wenn sie viele
Zwischenphasen durchlaufen, in denen sie sich nur in mehr oder
minder bizarren und sonderbaren Kombinationen behaupten können.
Diese Überlegungen werfen viele Probleme auf: die wichtigsten
lassen sich in der Beschaffenheit und in der Qualität der
Beziehungen zwischen den verschiedenen intellektuell
qualifizierten Schichten ausdrücken, d. h. in der Bedeutung und
in der Funktion, die der schöpferische Beitrag der
höherstehenden Gruppen haben kann und soll in Verknüpfung mit
der organischen Fähigkeit der intellektuell untergeordneten
Gruppen zur Diskussion und zur Erarbeitung neuer kritischer
Begriffe. Es handelt sich also darum, die Grenzen der Freiheit
der Diskussion und der Propaganda festzulegen. Die Freiheit darf
nicht administrativ und vom Polizeistandpunkt aus begriffen,
sondern muß im Sinne der Selbstbeschränkung aufgefaßt werden,
die die Führer ihrer eigenen Tätigkeit auferlegen, also
eigentlich im Sinne der Fixierung einer kulturpolitischen Linie.
Mit anderen Worten: wer fixiert die »Rechte der Wissenschaft«
und die Grenzen der wissenschaftlichen Forschung? Und können
diese Rechte und Begrenzungen eigentlich festgelegt werden? Die
Erforschung neuerer und besserer Wirrheiten,
klarerer und kohärenter Formulierungen der Wahrheiten sollte der
freien Initiative der einzelnen Wissenschaftler selbst
überlassen sein, auch wenn sie ständig die wesentlichsten
Prinzipien zur Diskussion stellen. Es wird übrigens leicht
festzustellen sein, wenn dergleichen Initiativen interessierte
Motive nichtwissenschaftlicher Natur zugrunde liegen. Es ist
auch unschwer vorstellbar, daß die individuellen Initiativen
diszipliniert und geordnet werden, durch das Sieb von Akademien
oder kultureller Institutionen verschiedener Art gehen und erst
nach einer Selektion veröffentlicht werden etc.
Es wäre interessant, in einem Land jene kulturelle
Organisation konkret zu untersuchen, die die ideologische Welt
in Bewegung hält, und ihr praktisches Funktionieren zu
beobachten. Eine Untersuchung des Zahlenverhältnisses zwischen
dem beruflich sich aktiver Kulturarbeit widmenden Personal und
der Bevölkerung der einzelnen Länder wäre auch nützlich, bei
annähernder Berechnung der freien Kräfte. Die Schule in
allen Abstufungen
und die Kirche sind, was das beschäftigte Personal betrifft, die
beiden führenden kulturellen Organisationen eines Landes. Die
Zeitungen, Zeitschriften und der Buchhandel, das
Privatschulwesen, sei es als Ergänzung des Staatsschulwesens,
sei es als Kulturinstitution vom Typ der Volkshochschulen.
Andere Berufe verkörpern in ihrer spezialisierten Tätigkeit eine
nicht unerhebliche Fraktion, wie die Mediziner, die Offiziere,
die Richter. Aber hervorzuheben ist, daß in allen Ländern, wenn
auch in verschiedenem Maß, ein großer Riß zwischen Volksmassen
und den intellektuellen Gruppen klafft, selbst bei so großen und
den Randgebieten des nationalen Lebens nahen Gruppen wie den
Lehrern und Pfarrern; und das, weil selbst dort, wo es die
Regierenden betonen, der Staat als solcher keine einheitliche,
kohärente und homogene Anschauung hat, so daß die
intellektuellen Gruppen von Schicht zu Schicht und selbst
innerhalb ein und derselben Schicht divergieren. Die
Universitäten, von einigen Ländern abgesehen, üben keinerlei
vereinheitlichende Funktion aus, oft hat ein freier
Denker mehr Einfluß als die gesamte
Institution der Universität.
Über die geschichtliche Funktion der fatalistischen
Auffassung von der Philosophie der Praxis könnte man eine Totenrede
halten, wobei ihre Nützlichkeit für einen gewissen
Geschichtsabschnitt verteidigt werden darf, aber gerade deswegen
die Notwendigkeit betont werden muß, daß sie nun mit allen
angebrachten Ehren zu begraben ist. Man könnte ihre Funktion
wirklich mit der Gnaden- und Prädestinationslehre vom Beginn der
Moderne vergleichen, die dann in der klassischen deutschen
Philosophie und ihrer Auffassung der Freiheit als Bewußtsein der
Notwendigkeit gipfelte. Sie war ein populäres Surrogat des
Ausrufs »Gott will es so«, jedoch auch auf dieser primitiven und
elementaren Stufe war sie der Beginn einer moderneren und
fruchtbareren Anschauung als der, die im »Gott will es so« oder
in der Gnadenlehre enthalten war. Ist es möglich, daß »formal
betrachtet« eine neue Anschauung anders als im groben,
ungeschlachten Gewand einer Plebs auftritt? Und dennoch gelingt
es dem Historiker mit der gebotenen Übersicht, festzustellen und
zu verstehen, daß die immer rauhen und steinigen Anfänge einer
neuen Welt höherwertiger sind als der Niedergang einer im
Todeskampf liegenden Welt und ihrer Schwanengesänge.
Anmerkungen
1) Vielleicht ist es vom
»praktischen« Gesichtspunkt aus nützlich, die Philosophie vom
Alltagsverstand zu unterscheiden, um den Übergang von einem
zum anderen Moment besser bestimmen zu können: in der
Philosophie ist die individuelle Erarbeitung des Denkens das
charakteristische Merkmal, im Alltagsverstand indessen
überwiegt der diffuse Charakter allgemeinen Denkens einer
bestimmten Epoche in einem bestimmten Milieu des Volkes. Aber
jede Philosophie tendiert dahin, in einem ebenfalls begrenzten
Milieu (dem aller Intellektuellen) Alltagsverstand zu werden.
Deswegen muß eine Philosophie erarbeitet werden, die - weil
sie bereits verbreitet ist, oder wegen ihrer Verbindung mit
dem praktischen oder ihm impliziten Leben eine Tendenz zur
Verbreitung hat - ein erneuerter Alltagsverstand wird mit der
Kohärenz und der Kraft der individuellen Philosophien: das
kann nicht eintreten, wenn man nicht ständig die Notwendigkeit
des kulturellen Kontaktes mit den »Einfachen« verspürt.
2) Die Ketzerbewegungen
des Mittelalters waren eine Reaktion auf das Polikastertum der
Kirche und ihres Ausdrucks, der scholastischen Philosophie,
und basierten zugleich auf den Konflikten, die sich durch die
Entstehung der Kommunen ergaben. Der Bruch zwischen Masse und
Intellektuellen innerhalb der Kirche wurde durch das Auftreten
jener religiösen Volksbewegungen »geflickt«, die in Form der
Bettelorden und in einer neuen religiösen Einheit von der
Kirche wieder absorbiert wurden.
3) Dazu die (von Steed in
seinen Memoiren erzählte) Anekdote vom Kardinal, der dem
englischen katholikcnfreundlichen Protestanten erklärt, daß
die Wunder des Heiligen Gennaro für das einfache Volk von
Neapel Glaubensartikel seien, nicht aber für die
Intellektuellen, daß auch das Evangelium »Übertreibungen«
enthielte und auf die Frage: »Aber sind wir keine Christen?«
antwortet: »Wir sind Prälaten«, d. h. Politiker« der Kirche
von Rom.«
4) Wahrscheinlich ist der
Aufsatz "Demokratie und Partei im Bolschewismus" in
"Demokratie und Partei", hrsg v. P. R. Rohden, Wien 1932,
gemeint. [Ital. Ausg.]
5) Vgl. dazu Max Weber:
Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.
Gesammelte An/salze zur Rcligionfsoziologie. I. Tübingen 1914
und Dernard Groethuysen:Origines de l'esprit bourgeois en
France. /: L' Eglise et la bourgeoisie. Paris 1927. [D. Hrsg.]
Editorische
Anmerkungen
Der Text wurde entnommen
aus:
Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, Eine Auswahl,
hrg. und übersetzt von Christian Riechers, fotomechanischer
Nachdruck als Organisationausgabe der KPD 1979, ohne Ort,
basierend auf der Ausgabe von Fischer, Frankfurt am
Main. 1967, S. 132-146
OCR-Scan red. trend
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