Mehr Chancen für alle!
„Ausschluß“ statt „Ausbeutung“: Der affirmative Charakter der Debatte um Exklusion.

Von Holger Schatz

12/06

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Die soziale Frage ist wieder „in“. Zu überdeutlich manifestiert sich die Armut, als daß sie noch verschwiegen werden könnte. Das muß sie aber auch gar nicht mehr: Massive Armut inmitten von Wohlstand fällt längst nicht mehr als Schatten auf die Legitimität des Kapitalismus zurück.

Dies verweist auf eine Diskursverschiebung, infolge derer Armut nicht mehr als Ausschluß durch kapitalistischen Wettbewerb sondern als Ausschluß von diesem beschrieben wird. Dies zeigt sich gerade auch an der sozialwissenschaftlichen Debatte um Exklusion[1], die sich explizit gegen jene Kulturalisierung von Verarmungsprozessen wendet, wie sie etwa im Vorstoß Kurt Becks zum Ausdruck kommt, wonach mangelnder Ehrgeiz die Ursache des Elends der „neuen Unterschicht“ sei. Vielmehr werden hier Ungleichheit und Ausschluß durchaus als soziale Prozesse gedeutet und die Betroffenen erscheinen - anders als etwa im populistischen Diskurs – nicht als Täter, sondern als Opfer. Doch die spannende Frage lautet: Opfer wovon? 

Bildung: Von der Illusion zur Exklusion

Wenn Politiker wie Matthias Platzeck feststellen „Bildung verhindert Armut“ können sie sich auf eine Vielzahl empirischer Studien berufen, in denen mit unterschiedlichen Methoden der Zusammenhang von Bildung und Arbeitslosigkeit erfaßt wird. Heraus kommen dabei meist Befunde wie: Das Risiko arbeitslos zu werden ist für Unqualifizierte sechsmal so hoch wie für Leute mit Hochschulabschluß. Die Arbeitsmarktsoziologin Jutta Allmendinger folgert daraus in der Zeit (6.1.2006): „Deutschland hat eine Waffe gegen Arbeitslosigkeit: Bildung, Bildung, Bildung!“

Diese technokratische, positivistische Lesart, die zwar nicht das populistische Geschäft des „blaming the victim“ betreibt, aber dennoch die Ursachen an den Merkmalen der Betroffenen festmacht, scheint innerhalb der bildungssoziologischen Debatte überwunden. Hier wird in der Tradition der Entlarvung einer „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) auf „die Macht der Klassenstrukturen“ im Bildungssystem verwiesen. Mit Blick auf die Folgen der sogenannten Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre in Deutschland schreibt die Soziologin Heike Solga „daß die sozialen Ausleseprozesse sowie die institutionelle Separierung am unteren Ende der Bildungshierarchie mit der Bildungsexpansion nicht abgebaut wurden, sondern zugenommen haben“. [2] Von der Bildungsexpansion profitiert haben demnach vor allen Dingen jene, die über die besseren sozialen und familialen Ressourcen verfügten. Michael Vester verallgemeinert diesen Befund: „Bildung ist zum Kampfgegenstand zwischen den sozialen Milieus geworden“. Aufgrund einer alle Milieus umfassenden „Kompetenzrevolution“, die „von den arbeitenden Menschen auf allen Stufen der Gesellschaft hervorgebracht“ werde, sähen sich die gehobenen Milieus gezwungen, ihre sozialen Vorrechte durch „Abdrängungsbemühungen“ abzusichern.[3]

In dieser Lesart erscheint die pauschale Erhöhung der Bildungsaufwendungen nach dem Gieskannenprinzip gerade nicht als Ausweg. Es gehe um die Herstellung von Chancengleichheit durch gezielte Förderung derjenigen, die im Verdrängungswettbewerb aufgrund fehlender sozialer und kultureller Ressourcen den Kürzeren zögen. Dies ist nachvollziehbar und gewisser Weise in ihrer Empathie für die Verlierer durchaus sympathisch. Auch eröffnet eine solche, an Max Webers Paradigma der „sozialen Schließung“ orientierte Wissenschaft enorme Erkenntnisse darüber, welche Gruppen mit welchen Mitteln welche Ressourcen monopolisieren können und welche Gruppen dadurch ausgeschlossen werden. Allerdings neigen solcherlei Analysen dazu, den Unterschied zwischen der Produktion und der Reproduktion sozialer Ungleichheit zu verwischen und diese vorrangig als Resultat eines auf soziale Schließung zielenden Handelns von Akteuren zu begreifen.

„Ungleichheit entspringt nicht der Konkurrenz, sondern der Einschränkung der Konkurrenz“

Im Gegensatz zur soziologischen Debatte verzichtet die neuere wirtschaftsliberale Deutung keineswegs auf eine sozioökonomischen Einordnung des Problems der sozialen Schließung. Machte die wirtschaftliberale Position klassischer und auch neoklassischer Prägung etwa bei Hayek um die Frage der sozialen Integration elegant einen Bogen - sozialer Ausgleich wurde einfach als Resultat des unbehinderten Waltens der freien Konkurrenz unterstellt – bezieht sich das Plädoyer für den freien Wettbewerb neuerdings des öfteren explizit auf die wachsende soziale Ungleichheit. Zu denken ist hierbei nicht nur an die durchsichtigen Versuche, etwa den Kündigungsschutz gegen die Chancen von Arbeitslosen auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt auszuspielen. Interessant sind vor allem auch theoretische Betrachtungen zum Begriff der freien Konkurrenz des Wettbewerbs, der als Weg zu einer egalitäreren Gesellschaft beschrieben wird. So verficht der Wirtschaftssoziologe Johannes Berger seit einigen Jahren mit einigem Erfolg die These „Märkte seien vielleicht nicht effizient, aber gerecht“[4]. Zwar erntet er hierfür regelmäßig Widerspruch seitens etlicher SoziologInnen, doch stimmen die vorgebrachten Einwände Berger implizit zu, da sie seine These nicht grundsätzlich und kategorial, sondern nur den ihr zugrundeliegenden „wirklichkeitsfremden Modellplatonismus“ kritisieren. Berger behauptet, daß bei „uneingeschränktem Wettbewerb zwischen Individuen, die nichts als ihren Vorteil suchen, die über alle sich ihnen bietenden Chancen hinreichend gut informiert sind, und denen keinerlei subjektive und objektive Hemmnisse im Wege stehen, (...) die Ertragsraten auf alle Aktiva (Anstrengungen und Investitionen, H.S.) gleich sind“. Dieses Modell ist jedoch nicht deshalb ideologisch, weil sich diese Bedingungen in der Praxis allenfalls näherungsweise erfüllen lassen (und dies ironischerweise nur um den Preis einer umfassenden staatlichen Regulation, die etwa den Zugang zu Informationen garantieren müßte). Vielmehr betrachtet es zum einen alle Akteure als Unternehmer und zum anderen abstrahiert es vom strukturellen Zwang, daß sich Geld als Kapital verwerteten muß. Der Vorteil, der sich aus einer gelungenen Marktoperation für den „Sieger“ in einer fiktiv gedachten ersten Runde der Konkurrenz ergibt, muß ihm auch die Startbedingungen in einer zweiten Runde verbessern. Wollte man dies verhindern, müsste man mit diesem Versprechen nicht nur die damit verbundenen Anreize, sondern auch den essentiellen Schmierstoff Zins abschaffen. Solcherlei Vorstellungen, die gewissermaßen ein Rotationsprinzip für Erfolg projektieren, sind aber Rechnungen ohne den Wirt.

Abgehängt wovon?

Während der Markt in der liberalen Lesart verklärt und verkannt wird, kommt er in den meisten soziologischen Analysen zur Exklusion einfach nicht vor. Das Problem des Ausschlusses wird hier als ein Kampf um Zugänge zu Bildung und Arbeitsmarkt beschrieben. Die Frage aber, welcherlei Ausschlüsse und Selektionen entstünden, wären diese Zugänge tatsächlich offen, wird gar nicht erst gestellt. Würde diese Begrenzung der Fragestellung ausgewiesen, wäre wenig dagegen einzuwenden. Das Problem einer solchen Ausblendung des Begriff des Wettbewerbs liegt jedoch darin, daß die Metapher des Abgehängtseins, mit dem die Debatte um Exklusion arbeitet, ebenfalls zur Ideologiebildung beiträgt. Der ökonomische Prozeß erscheint dabei wie eine Art Laufsportveranstaltung. Ein Pulk läuft voran und es klafft eine Lücke zu den Abgehängten, die leer auszugehen drohen. Es sei denn diese liefen einfach schneller oder der vorwärts schreitende Pulk ließe sie herankommen. Wäre das Ziel des Laufes, einfach in einer bestimmten Zeit anzukommen, dann könnten theoretisch alle dieses Ziel erreichen. Eine bestimmte Qualifikation (die Fähigkeit, eine bestimmte Entfernung in einer bestimmten Zeit zu laufen) garantierte in diesem Falle das Erreichen des Ziels. Erfolg innerhalb der kapitalistischen Ökonomie ist aber nicht die automatische Folge des Abrufens eines bestimmten Qualifikationsniveaus. Entscheidend ist, daß dieses Niveau wettbewerbsfähiger und in der Anwendung billiger ist als jenes der KonkurentInnen. Es ist dies die Verrücktheit des Kapitalismus, daß eine gewisse Produktivität zwar jede Menge stofflicher Ergebnisse hervorbringt, daß dieser Erfolg sich jedoch keineswegs zwingend als monetärer Erfolg manifestiert. Diese Kluft zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung von Erfolg bestimmt die „Exklusion“. Sie ist Fleisch vom Fleisch des Wettbewerbs. Sie durch allseitiges Schnellerlaufen überwinden zu wollen, Illusion.

ANMERKUNGEN

[1] Vgl. etwa Heinz Bude, Andreas Willisch (Hg.): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg 2006

[2] Heike Solga: Ausbildungslose und die Radikalisierung ihrer sozialen Ausgrenzung, in: Ebd., S. 121 - 146

[3] Michael Vester: Die Illusion der Bildungsexpansion. Bildungsöffnungen und soziale Segregation in der Bundesrepublik Deutschland, in: Steffani Engler, Beate Krais (Hg.): Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen. Sozialstrukturelle Verschiebungen und Wandlungsprozesse des Habitus, Weinheim 2004, S. 13- 54

[4] Johannes Berger: Sind Märkte gerecht?, in: Zeitschrift für Soziologie, Jahrgang 32, Heft 6, 2003, S. 462 -473

 

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns vom Autor zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei um die verschriftlichte Fassung eines Vortrages auf dem Kongress Ungleichheit als Projekt, die zuerst in Analyse und Kritik, Nr. 512 Dez. 2006 erschienen ist.