Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Ségolène Royal

Oder : Der Sieg der Mausklickdemokratie

12/06

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Handelt es sich um einen Sieg für die Mausklickdemokratie, in der vor allem Stimmungen, Umfragen und Medientrends den Ton angeben und die Wähler in ersten Linie als Konsumenten betrachtet werden – wie die Einen kritisieren ? Oder handelt es sich um den Beginn einer gründlichen Erneuerung der Politik, jetzt, wo zum ersten Mal eine Frau zur aussichtsreichen Präsidentschaftskandidatin in Frankreich aufgestiegen ist – wie die Anderen sich erhoffen ?

Am vergangenen Sonntag, dem 26. November hat die französische Sozialitische Partei ihre Präsidentschaftskandidatin für die Wahl am 22. April und  06. Mai kommenden Jahres designiert. Vor 1.000 bis 1.500 Führungskräften der Partei, die im traditionsreichen Pariser Veranstaltungssaal La Mutualité versammelt waren, hielt Ségolène Royal ihre Ansprache als offizielle Kandidatin der französischen Sozialdemokratie.  

Zehn Tage zuvor, am 16. November, waren die Mitglieder des Parti Socialiste (PS) dazu aufgerufen gewesen, über ihre Präsidentschaftskanditatin oder ihren –kandidaten abzustimmen. Sie hatten die Wahl unter drei Bewerbern. Dabei setzte sich Ségolène Royal mit 60,6 Prozent der Stimmen durch. Das entspricht dem Trend, der sich im Vorfeld des Mitgliedervotums abzeichnete, aber das Ergebnis fällt noch deutlicher aus als erwartet. Die beiden anderen Mitbewerber lagen, mit 20,8 Prozent für den sozialliberalen früheren Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn (« DSK ») und 18,5 Prozent für den ehemaligen Premier- und ebenfalls Wirtschaftsminister Laurent Fabius, annähernd gleichauf. Vorab hatte es so ausgehen, als könne Fabius noch weiter abgeschlagen auf dem dritten Platz unter den « présidentiables » (potenziellen Präsidentschaftskandidaten) landen. Alles in allem hat es keine gröbere Überraschung gegeben.      

            « Schnuppermitgliedschaft » und Polit-Konsumententum           

Dabei durften mehrere Zehntausend Neumitglieder, die dem Parti Socialiste (PS) seit dem Frühjahr 2006 beigetreten sind, zum ersten Mal in einer entscheidenden Frage mit abstimmen. Denn im Vorfeld der innerparteilichen Urabstimmung hatte die Parteiführung seit März dieses Jahres eine politische Werbeoperation lanciert: Drei Monate lang bestand die Möglichkeit, für eine Art von « Schnuppermitgliedschaft » der Partei beizutreten. Das kostete nur zwei Minuten, um ein Formular im Internet auszufüllen, und einen deutlich verbilligten Jahresbeitrag von pauschal 20 Euro für das laufende Jahr 2006 (statt üblicherweise einem prozentualen Anteil am Einkommen, oder aber mindestens 50 Euro).  

Wer sich vor dem Stichtag im Juni eintrug und sich bis im Laufe des September bei der ihm oder ihr zugeteilten Parteisektion meldete, durfte also –- auch ohne jegliche politische Diskussion, Aktivität oder Erfahrung –- an diesem Donnerstag mitstimmen. Die Werbeoperation war im übrigen in der Öffentlichkeit auch damit begründet worden, dass die Neumitglieder durch ihren Beitritt auf Probe das Recht erwürben, über eine so wichtige Frage wie die Kandidatur zur entscheidensten aller Wahlen im französischen politischen System mit zu entscheiden. KritikerInnen inner- wie auberhalb der Partei hatten hingegen moniert, eine Mitgliederpartei werde damit in eine blobe Hülle für politische Werbefeldzüge, ähnlich den Demokraten oder Republikanern in den USA, transformiert. Der Senator Jean-Luc Mélenchon von der Parteilinken kritisierte einen « Niedergang des politischen Denkens ». Und der Abgeordnete Eric Besson –- ein Anhänger des früheren Premierministers Lionel Jospin, der kurz vor Torschluss auf eine eigene Kandidatur verzichtet hat – berichtete in Le Monde vom 1. September vom « Spätbeitritt von Sympathisanten, die zu uns sagen, dass sie selbst eher supporteurs (Anm. : das Wort bedeutet Unterstützer, bezeichnet aber auch etwa die Fans einer Fubballmannschaft) denn politisch aktive Mitglieder seien ». Dagegen sprach der Bürgermeister von Dijon, François Rebsamen, die « Nummer zwei » in der Partei, aus : « Ich sehe nicht, warum der PS bei 100.000 Mitgliedern politisch lupenrein sein soll, und sich bei 200.000 Mitgliedern <amerikanisiert> hätte. » Der für die Vorbereitung von Wahlen zuständige Parteivorständler Bruno Le Roux räumt einerseits ein : « Die Logik des Mausklicks entspricht ein bisschen einer Konsumentenhaltung. » Auf der anderen Seite findet er das nicht so schlimm, denn « wir werden diese (neuen) Mitglieder bei spezifischen Themen mobilisieren ». 

Neue Mitglieder, und ihr Profil 

An geäuberter Kritik von Parteimitgliedern und Beobachtern mangelte es nicht. Aber sie drangen damit nicht durch, denn der Erfolg der Operation wurde ihnen entgegen gehalten. Tatsächlich hat der französische PS in den vergangenen Monaten beträchtliche Zugänge verzeichnet: Zu Anfang des Jahres hatte sie 130.000 Mitglieder, aktuell sind es über 220.000. Von ihnen durften letztendlich über 70.000 frisch Beigetretene, die die Bedingungen erfüllten –- Beitritt vor dem 1. Juni, und Rückmeldung bei einer Parteisektion bis im Laufe des September --  votieren.  

Hochinteressant ist dabei auch, welchen sozialen (und eventuell politischen) Hintergrund die zugewonnen Mitglieder mitbringen. Dazu wurde eine parteiinterne Studie durchgeführt : Den ersten 18.000 Neumitgliedern wurde, im Internet, ein Fragebogen zugestellt. Rund 8.400 von ihnen antworteten auch, was im Groben und Ganzen nicht für ihr immenses politisches Interesse an den Angelegenheit der Partei spricht. Die Auswertung ihrer Antworten hat ergeben, dass nur 2,8 Prozent der frisch Beigetretenen der Arbeiterschaft angehören (die zur Zeit 25 Prozent der erwerbstätigen französischen Bevölkerung ausmacht). Dagegen stammen 50,5 Prozent der neu gewonnenen Mitglieder -– gegenüber 13 Prozent der erwerbstätigen Gesamtbevölkerung -- aus dem Sektor der wirtschaftlichen Führungskräfte, höheren Angestellten und intellektuellen Berufe. Das verspricht, nicht ohne Konsequenzen für die Zukunft der französischen Linksparteien zu bleiben. Dies bedeutet freilich nicht, dass der PS zuvor eine Arbeiter-  oder Unterschichtenpartei wäre ; diese Rolle hatte in Frankreich lange Zeit vor allem die KP inne, die im Niedergang steckt, aber immer noch rund 100.000 Mitglieder hat, freilich eine wachsende Überalterung aufweist. Der Parti Socialiste, der erstmals in jüngerer Vergangenheit bei seiner Regierungsübernahme unter Lionel Jospin im Mai 1997 die 100.000er Marke überschritt, war in den letzten 25 Jahre bereits eher eine Lehrer-, Beamten- und Mandatsträgerpartei. Die neue Beitrittswelle dürfte dieses Profil aber nochmals zugunsten der Mittel- und Oberschichten, dieses Mal auch in der Privatwirtschaft (statt bisher vorwiegend im öffentlichen Sektor), verschoben haben. 

Der für das Internet zuständige Parteivorständler Vincent Feltesse sah dagegen in einem Beitrag, den er für die Tageszeitung Libération (vom 12. Oktober) schrieb, keinen gröberen Abstand zur Soziologie des übrigen Frankreich : « Alle Indikatoren zeigen an, dass wir die Soziologie der Partei jener des Landes angenäher haben. Gut, die Neuen haben auch höhere Bildungsabschlüsse und sind stärker in Grobstädten konzentriert (Anm. : als der Durchschnitt der sonstigen Bevölkerung. Aber ist das ist nicht genau ein Abbild der Tendenz des heutigen Frankreich ? » Darin dürfte eben der feine Unterschied zwischen der sozialen Realität, und der dieser Realität zugrunde liegenden « Tendenz » liegen... 

            Keine Liebhaberin von Debatten

Welche Segmente der französischen Gesellschaft versuchten nun die drei KandidatInnen anzusprechen, die Anfang Oktober die entscheidende Hürde nehmen und 30 Unterschriften unter den Führungsmitgliedern der Partei sammeln konnten – zusammen übrigens mit einem vierten Bewerber, der kurz darauf mangels Rückhalts in der Partei doch noch aufgab, dem früheren Kulturminister (und faktischen Pausenclown der französischen Sozialdemokratie) Jack Lang ?  

Insgesamt hielten die BewerberInnen sechs Debatten ab, davon drei im französischen Fernsehen und drei bei Liveveranstaltungen. Dieser Modus war übrigens durch ihre Herausforderer gegen den Willen von Ségolène Royal durchgesetzt worden, denn die seit September 2005 vor allem durch die führenden Medien des Landes gepuschte Kandidatin fühlte sich damit sichtlich unwohl. Sie erblickte darin erklärtermaben eine Beschädigung der Person, die künftig die Präsidentschaftskandidatur der französischen Sozialdemokratie verkörpern wird. Und nicht zuletzt eine Herabwürdigung ihrer selbst als gewissermaben natürlicher Kandidatin. Ende September erklärte Royal sich dazu von Dakar aus, wo sie sich wenige Tage nach Innenminister Nicolas Sarkozy aufhielt, um zu beweisen, dass sie genau wie der konservative Politiker mit den Herkunftsländern reden kann, damit diese unerwünschte Immigranten zurückhalten. (Royal hatte dabei allerdings den Vorteil, dass sie selbst 1953 in Dakar geboren ist, allerdings als Tochter eines Kolonialoffiziers.) Zur Frage des öffentlichen Disputs erklärte sie : « Was diese Debatten im internen (Wahlkampf) betrifft, die imposés (aufgezwungen, durchgesetzt) sein werden, so werde ich hingehen, weil ich nicht will, dass sie sagen : sie verweigert es. » (Zitat aus ‘Le Monde’ vom 28. September) Zuvor, anlässlich der Sommeruniversität des PS in La Rochelle Ende August, hatte Royal sich tatsächlich geweigert, an einer kontroversen Debatte teilzunehmen. Dies hinterlieb allerdings keinen guten Eindruck, da sie sich konsequent jeder kontroversen Auseinandersetzung um Programme und Inhalte entzog. 

Royal fügte, vom Senegal aus, hinzu : « Das (Anm. : die Zeit der innerparteilichen Debatten) wird eine ziemlich unangenehme Periode werden. Sie ist risikoreich, wenn die Debatten dem Land nicht dienlich sind. » Und in einem längeren Interview  mit der Sonntagszeitung JDD (Journal du dimanche) vom 13. November erklärte sie dazu : « Die Partei ist das Risiko eingegangen, ihren Kandidaten zu schwächen. An meinen Fähigkeiten zweifelnd, haben die beiden anderen diese Debatten gewollt. Und wenn sie sechs (Debatten) verlangt haben, dann deshalb, weil sie dachten, dass ich auf der langen Strecke nicht durchhalten würde. Letztendlich haben die Mitglieder erlaubt, dass alles gut abläuft, und ich habe mich geweigert, auf die sehr heftigen Angriffe gegen mich zu antworten. Wäre ich auf die Polemik eingegangen, dann hätte das alles schlecht enden können. Am Ende dieses Prozesses ist nun meine Legitimität (als Kandidatin) nicht mehr bestreitbar, und die Partei geht gestärkt daraus hervor. Das ist gut so. » 

Zu den Vorabbedingungen von Ségolène Royal, die in den letzten Monaten das Gros des Parteiapparats hinter sich scharte, gehörte, dass es bei den sechs Diskussionen keine Kontroversen zwischen den KandidatInnen geben dürfe. Es sollte kein Schlagabtausch stattfinden, sondern jede und jeder nur für sich selbst sprechen, « um eine Herabminderung des oder der späteren Kandidaten bzw. Kandidatin zu verhindern ». Unterschwellig kam es freilich doch zu Angriffen, vor allem Laurent Fabius zeigte sich stellenweise recht angriffslustig. 

Zwischen « Erneuerung » und Unterstützung durch den Apparat 

Royal trat mit dem Image einer grundlegenden Erneuerung der Politik und der Sozialistischen Partei an. Dabei war sie aber spätestens ab dem Frühsommer « die » Kandidatin des Apparats, die für den sich herausbildenden innerparteilichen Konsens stand. 59 von 100 Bezirksvorsitzenden –- sécrétaires départementaux -- unterstützten ihre Kandidatur, die übrigen verteilten sich zu fast gleichen Teilen auf ihre beiden Gegenkandidaten, wobei 10 Bezirkssekretäre bis zum Schluss stumm blieben.  

Im Übrigen war es auch der zentrale Parteiapparat, der am Ende sein Gewicht in die Waagschale warf, um Royal ihre(n) gefährlichsten Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Bis zuletzt hatte der Ex-Premierminister Lionel Jospin (1997 und 2002), der zwar nach seiner Wahlniederlage gegen Chirac und Le Pen im April 2002 offiziell seinen Rückzug aus dem politischen Leben erklärt hatte, der aber verzweifelt ein Comeback mit allen Mitteln versuchte, seine Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur im Raum stehen lassen. Jospin wartete einfach nur, dass ihn jemand als den « Retter » herbeirufe, was dann aber ausblieb. Über Monate hinweg hielt er sich ganz offensichtlich bereit und bot seine Dienste an. Hätte er am Ende bei der innerparteilichen Abstimmung kandidierte, so hätte es wahrscheinlich zumindest einen zweiten Wahlgang gegeben, da er Royal rund 10 Prozent der Stimmen hätte wegnehmen können. Dabei hatte Ségolène Royal explizit erklärt, sie wünsche eine Entscheidung bereits im ersten Wahlgang (d.h. ein Ergebnis von über 50 Prozent der Stimmen, denn sonst hätte eine Stichwahl organisiert werden müsse), da sonst eine Beschädigung des Kandidaten/der Kandidatin drohe, und wohl auch weil sie sich einem direkten Gegenüber mit einem Gegenkandidatin nicht so sehr gewachen fühlte. Also griff der Apparat ein und räumte den lästigen Störenfried Lionel Jospin aus dem Weg, und zwar auf ziemlich brutale Art und Weise (die Jospin bis heute auch nicht verziehen hat). Der Pariser PS-Abgeordnete Christophe Caresche erklärte im September öfentlich, falls Jospin zu der innerparteilichen Urabstimmung kandidieren möge, dann « wird der Abstimmungskampf in Paris heftig werden. Wenn Lionel Jospin antritt, dann schliebe ich nicht aus, dass es Demonstrationen von aufgebrachten PS-Mitgliedern in der rue de Regard (Anm. : d.h. vor Jospins Privatwohnung) geben wird. » Das könnte man doch als unverhüllte Drohung auffassen, und kam bei Jospin auch klar so an. Den finalen Rettungssschuss gab seiner Kandidatur dann aber François Rebsamen, Oberbürgermeister von Dijon (und damit Gastgeber des PS-Kongresses von 2002) und « Nummer zwei » in der Parteihierarchie des PS. In einem fast eine Seite langen Gastbeitrag in <Le Monde> vom 28. September warf er die Frage auf : « Ist Jospin verpflichtet, zu kandidieren ? » (So die Überschrift, im Originalton.) Die ganze Beweisführung endete auf die unzweideutigen Sätze : « Aus all diesen Gründen, also für die Einheit unserer Partei, hat Lionel Jospin die dringliche Pflicht, nicht zur Bewerbung um die (Präsidentschafts-)Kandidatur anzutreten. » Das hatte gesessen und Jospin erklärte kurz darauf, zu Tode betrübt, dass er also nun doch nicht den innerparteilichen Retter spielen wolle und darauf verzichte, zu kandidieren. Der Mann war jedoch so beleidigt, dass er bis zum Schluss nicht verraten mochte, wem er denn nun bei der innerparteilichen Wahl seine Stimme gebe. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass der Parteiapparat massiv zugunsten von Ségolène Royal eingegriffen hat, um die Frage der zulässigen Kandidaturen in ihrem Sinne zu klären. 

Dass Royal dennoch (und fälschlich) das Image der Widerständlerin gegen mächtige konservative Parteistrukturen beibehalten konnte, lag freilich vor allem an den teilweise machohaften, sexistischen Ausfällen ihrer Herausforderer. Diese gaben sich zumindest in der Anfangsphase tatsächlich den Anschein, als könnten sie sich gar nicht vorstellen, dass eine Frau eine solche Position bekleide. Laurent Fabius wird das Zitat zugeschrieben, wenn Royal Kandidatin sei, während ihr Lebensgefährte François Hollande Parteivorsitzender ist (beide sind freilich längst nicht mehr zusammen, auch wenn in der Öffentlichkeit ein gegenteiliger Eindruck erweckt wird), « wer passt dann auf die Kinder auf ? » Derum musste man sich bestimmt keine Sorge machen, da es auch früher nicht an Personal gemangelt haben dürfte, das auf die vier gemeinsamen Kinder – deren jüngste inzwischen bald 14 wird – aufpassen konnte.  

Jack Lang wiederum, der zeitweilige Kandidat, der dann noch die Flinte ins Korn warf, äuberte seinerseits : « Diese Wahl, das ist doch kein Schönheitswettbewerb ! » (Um dann, vier Tage vor der innerparteilichen Urabstimmung, zur Wahl von Ségolène Royal bei der Kandidatenkür aufzurufen – und zwar mit dem überaus inhaltsschweren Argument : « Weil sie eine Frau ist ».)  Solche törichten Sprüche kehrten sich freilich in der Öffentlichkeit gegen die Mitbewerber von Ségolène Royal. 

Amateurhaftigkeit in der Aubenpolitik 

Dominique Strauss-Kahn seinereits hat dementiert, dass er über den (tendenziell misslungenen) letzten Fernsehauftritt der Bewerberin vor der innerparteilichen Abstimmung geäubert habe : « Sie wäre besser zu Hause geblieben, als ihre Küchenzettel durcheinander zu bringen und sich zu blamieren. » Denn tatsächlich war ihr Auftritt in der dritten und letzten Fernssehsendung der drei Bewerber zumindest teilweise dämlich. Aber das hatte nichts mit angeblich weiblichen Eigenschaften (Stichwort « Küchenzettel ») zu tun, sondern eher mit ihrer offenkundigen Ahnungslosigkeit in Sachen Aubenpolitik, die ihr Beraterteam an vielen Stellen nur dortdürftig überbrücken konnte. 

Royal hatte möglicherweise in ihren Merkblättern etwas durcheinander gebracht, auf jeden Fall hatte sie offenkundig bei der Debatte die zivile Atomenergie mit der militärischen Dimension (Atombombe) verwechselt. Jedenfalls erklärte sie, man dürfe dem Iran kein Recht auf die « zivile Atomenergie » geben. Nur hat dieser Staat erstens bereits « zivile » Atomanlagen (aber nocht, oder noch nicht, die Bombe). Und zweitens steht ihm als Unterzeichnervertrag des Atomwaffensperrvertrags juristisch das Recht auf « zivile Atomenergie » vollständig zu. Nun stimmt es, dass sich « zivile » und « militärische » Nutzung der Atomkraft technologisch nicht wirklich sauber trennen lassen ; genau dies ist aber die Fiktion, die allen internationalen Verträgen zum Thema zugrunde liegt (der Gründung der IAEA, und dem Atomwaffensperrvertrag). Und man kann natürlich die Position vertreten, dass ein Land besser gar keine Atomenergie nutzen soll, was im übrigen eine unterstützenswerte Position ist. Aber mit welchem Recht die Staatsführung Frankreichs, das sowohl 80 Prozent seines Stroms aus Atomenergie bezieht als auch die Atombombe hat, dem Iran den Zugang explizit auch zur « zivilen Atomenergie » untersagen sollte, das blieb Ségolène Royals Geheimnis. Politisch wie juristisch wäre kaum daran zu denken, dies durchzusetzen. Wahrscheinlich aber hat sie im Fernsehen nur « zivile » und « militärische » Atomenergienutzung miteinander verwechselt, und einmal mehr ihre Atameurhaftigkeit in Sachen Aubenpolitik unter Beweis gestellt. 

Erwiesen hatte sie dies bereits während des Libanonkriegs im Juli/August dieses Jahres. Damals war Royal noch nicht einmal in der Lage zu bestimmen, dass es einen Angreifer und ein angegriffenes Land gab. Alles, was ihr zum Thema einfiel, war, dass « international anerkannte Persönlichkeiten und moralische Autoritäten » doch, bitte bitte, zwischen den Konfliktparteien vermitteln und « Gespräche » in Gang bringen sollten. Sie nannte konkret Bill Clinton. Sie hätte auch gleich an den Papst appellieren können... Inhaltlich hatte sie kaum Greifbareres zu bieten. In den letzten Novembertagen versuchte sie indes, ihre damals zu Tage getretene Ahnungslosigkeit durch einen Abstecher im Libanon (der zur Zeit noch anhält) wieder gut zu machen. Ob das irgendwas rauskommt oder rüberkommt, ist zur Stunde des Redaktionsschlusses für diesen Artikel noch völlig offen. 

Engagement für Frauenrechte 

Zu den meisten Themen scheint Royal nur das zu vertreten, was Marketingberater oder Umfragen ihr raten. Inhaltlich dürfte man ihr abe tatsächlich nicht absprechen können, dass sie zumindest ein Thema ernsthaft vertritt, nämlich das Engagement für die Durchsetzung von Frauen im öffentlichen Leben. So weit, so gut. Dabei persönlich in gewissem Sinne glaubwürdig zu sein, lässt sich Royal nicht absprechen, die sich in der Jugend gegen einen äuberst dominanten Vater –- den 1982 verstorben, rechtsradikal wählenden Kolonialoffizier Jacques Royal –- durchzusetzen hatte. Ségolène Royal entging ihrem scheinbar voraus bestimmten Schicksal als Ehefrau und Nur-Mutter, indem sie auf der Schule gute Noten holte und sich den Zutritt zur französischen Elitehochschule ENA, Kaderschmiede für den Nachwuchs in Politik und höherer Verwaltung, erwarb. Daraufhin klagte sie, nach jahrelangem Verfahren sogar erfolgreich, gegen ihren Vater auf Bezahlung ihres Studiums.  

Das hinderte Madame Royal nicht daran, beispielsweise die Frauenorganisationen und Frauenrechtsbewegungen mit souveräner ministerlicher Missachtung zu strafen, als sie (damals « Staatssekretärin für Familie, Kinder und Behinderte » in den Jahren 2001/02) das Gesetz zum elterlichen Sorgerecht vorbereitete. Die einzige Basisbewegung, die sie damals anhörte, war die Vereinigung geschiedener Väter « SOS Papa », während die Frauenrechtsgruppen mit totaler Herablassung behandelt wurden und aus der Vorbereitung des Gesetzestextes ausgeschlossen blieben. So kam ein Gesetz zum elterlichen Sorgerecht (vor allem bei Geschiedenen) zustande, das den Frauenrechtlerinnen die Haare zu Berge stehen lieb, unter anderem weil es « Vermittlungsgespräche » (vor einem Richter oder Sozialarbeiter) zwischen beiden Elternteilen auch dort zwingend vorschreibt, wo es nachweislich zu häuslicher/familiärer Gewalt gegen die Frau gekommen ist. Die neue spanische Gesetzgebung gegen Gewalt gegen Frauen, auf die Ségolène Royal sich zur Zeit als « modellhaft » beruft, schliebt genau in solchen Fällen aber jeden Vermittlungszwang ausdrücklich aus, und erkennt Vätern in solchen Fällen (wo es nachweislich zu Gewalt gegen die Frau kam) ihre Rechte zugunsten der Frau ab. Royal hatte sich hier, wie in anderen Fällen auch, schlicht als arrogante Berufspolitikern verhalten und die Kritik daran nicht mal zur Kenntnis nehmen wollen. (Vgl. zur Kritik an dem Gesetz : http://www.chiennesdegarde.org/article.php3?id_article=231. Vielen Dank für den Hinweis an die marxistische Feministin Maud G.) 

Eine schrecklich nette Familie... 

Noch mal zurück zu Papa Royal und seiner family. Der Rest der Familie blieb ähnlich orientiert wie einst der Vater. Eine Cousine Ségolène Royals, die neun Kinder hat und katholische Fundamentalistin ist, kandidierte im Oktober 2006 bei einer Kommunalwahl in Bordeaux für den Front National. Und mehrere ihrer Brüder schlugen, wie der Vater, die militärische Laufbahn ein. Ihrem Bruder Gérard wird seit Jahren nachgesagt, dass er es gewesen sei, der 1985 die Bombe des französischen Auslandsgeheimdiensts DGSE deponierte, die in Neuseeland das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior im Hafen untergehen lieb (die Umweltorganisation protestierte damals gegen die französischen Atomwaffentests im Südpazifik)  und einen Fotographen tötete. Die Vermutung ist nicht neu, aber die konservative Tageszeitung <Le Figaro> brachte sie im September nochmals auf Seite Eins wie eine sensationelle Enthüllung. Dabei dürfte es dem mit der Regierungspartei UMP sympathisierenden Blatt allerdings vor allem darum gegangen sein, zwei der drei Kandidaten bei der innerparteilichen Urabstimmung des PS in potenziellen Misskredit zu bringen: Ségolène hat einen Bruder in der Affaire, und Laurent Fabius war damals (1985) Premierminister und trug die politische Verantwortung für Atombombentests und Geheimdienstintrigen. Auch wenn er von letzteren nichts gewusst haben will und von Untergebenen in ihren Aussagen in Schutz genommen worden ist.  

...und das Hochhalten der familiären Werte 

Ausgesprochen merkwürdig ist dabei nun aber, dass Royal sich nunmehr -- spät, aber umso deutlicher— in zahllosen Äuberungen direkt oder indirekt positiv auf diesen familiären Hintergrund (« Ich als Tochter von Militärs sage dazu... ») und auf die damals vermittelten Werte (insbesondere einen positiven Begriff von « Ordnung ») rekurriert. Ihr zentraler Wahlkampfslogan lautet übrigens « L’ordre juste », also Die gerechte Ordnung. Auch familiäre Idylle war bei ihr plötzlich angesagt, während sie bis dahin, ein gebranntes Kind scheut das Feuer, eher Abstand zur Beschwörung traditioneller familiärer Werte hielt. Im vorigen Sommer lieb sie monatelang offen, ob sie nun nicht doch noch ihren langjährigen Lebensgefährten François Hollande heiraten werde, obwohl nähere Beobachter der Politik längst wissen, dass beide inzwischen anderweitig liiert sind (Madame mit einem ehemaligen Renault-Chef, der heute einer Antidiskriminierungsbehörde vorsteht). Letztendlich war es offenkundig ihr guter Mann und Parteivorsitzender François Hollande, der nicht so richtig wollte, und sich auf die notwendige Trennung zwischen Politik und Privatleben berief. Das idyllische Hochzeitsfoto, das wäre es noch gewesen, was kurz vor Eröffnung des Wahlkampfs gefehlt hätte. 

Die Kandidatin der Umfragen... 

Ansonsten ist Royal sehr stark darauf orientiert, das bei den Wählern vermutete « Sicherheitsbedürfnis » und den Ruf nach Autorität zu bedienen (vgl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23523/1.html ). Und in den Mittelpunkt ihrer Auftritte hat sie bisher die Beschwörung ihrer « Werte » (familiärer, nationaler, aber auch Sicherheit und Vertrauen beschwörender Natur) gerückt. Überhaupt sind « Werte » bei ihr ein viel strapazierter Begriff, von der Wiederentdeckung des (positiven) « Werts der Arbeit » - gerichtet gegen Firmen, die zu viel entlassen und zu wenig Beschäftigung anbieten, aber unzweideutig auch gegen Faulenzer im soziale Netz – bis hin zur Nation.  

Wie die Wochenzeitung <Le Canard enchaîné> erst jüngst, im November, berichtete, spielte sich deshalb im Sommer dieses Jahres folgende Szene ab : Arnaud Montebourg, der smarte Anwalt und PS-Jungpolitiker in den Vierziger, führte im Juni dieses Jahres noch Verhandlungen mit den Unterstützern Laurent Fabius’. Damals kommentierte Montebourg, der als einer hoffnungsvollen Aufsteiger innerhalb des PS gilt oder jedenfalls gegolten hat, Royals Herumreiten auf « Werten », Familien und Nation, indem er ein kleines Liedchen trällerte : « Sarkolène, nous voilà ! » Sarkolène ist dabei eine Kombination aus den beiden Namen Sarkozy und Ségolène, und das Ganze eine Anspielung auf eine Hymne während der Vichy-Ära : « Maréchal, nous voilà ! » Also : « Marschall (Pétain), wir stehen bereit ! » Die Anspielung bezog sich wohl auf das offizielle Motto des Vichy-Regimes, das bekanntlich Travail, famille, patrie (Arbeit, Familie, Vaterland) lautete. Nur Wochen später allerdings war Montebourg umgeschwenkt, und zählte nun zu den aktiven Unterstützern der Kandidatur Ségolène Royals. So funktioniert eben Wendehalsigkeit in der Politik...  

Bei ihrem Auftritt im südfranzösischen Vitrolles, wo sie am 29. September offiziell ihre Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur verkündete, setzte sie zudem stark auf die Betonung von Nationalsymbolik. « Ségolène Royal bejubelt die Nation » (Ségolène Royal exalte la nation) lautete die Überschrift einer Reportage dazu in Le Monde, die übrigens durch eine linke Journalistin verfasst wurde und implizit Kritik durchklingen lässt. « Die Trikolorefahne und die Sozialversicherung, das Emblem der Republik und die Instrumente der Solidarität zementieren an erster Stelle die gemeinsame Zugehörigkeit. Denn bei uns, jeder weib es, gehen das Nationale und das Soziale zusammen, und der Staat garantiert diese Allianz » Damit redete Royal natürlich keinem völkisch-rassischen Nationalismus, sondern einem in der Tradition des französischen republikanischen Nationalismus – der einen Teil seiner Wurzeln auch 1792 und in der Résistance hat – stehenden Denken das Wort. In derselben Rede wandte Royal sich auch explizit dagegen, eine Unterscheidung zwischen Franzosen aus Abstammung und solchen migrantischer Herkunft zu treffen. Dennoch hat sie de facto die patriotische Verblödung als Antwort auf die soziale Verunsicherung und die daraus resultierenden Zukunftsängste ausgegeben: «Je mehr die alltägliche und soziale Unsicherheit und die Prekarität an Terrain gewinnen, je mehr die Franzosen sich um ihre Nation und ihren Fortbestand sorgen, desto weniger können sie sich grobzügig gegenüber den Ihren und gastfreundlich gegenüber den Anderen zeigen.» Die «Gastfreundlichkeit» gab sie dabei als eigenes nobles Ziel aus, lieferte die Entschuldigung für jene, die lieber keine Immigranten auf französischem Boden dulden wollen, gleich mit.

Hinterher stellte sich dann rasch heraus, dass diese Kombination von Signalen und Symbolen noch nicht einmal als ihre eigene Idee entstanden war. « Die Umfrage, die Madame Royal die Ideen zur Nation gegeben hat » lautet die Überschrift eines Artikels in Le Monde vom 14. Oktober. Daraus geht hervor, dass alles, was Royal in Vitrolles äuberte, bis hin zur Rangfolge der Nationalsymbole in den Augen der Öffentlichkeit –- der im März 2005 angefertigen Umfrage zufolge jedenfalls symbolisiert die Trikolorefahne für 45 % der Befragten am ehesten die französische Nation, und das Sozialversicherungssystem für 24 % -- auf der Auswertung einer Meinungsumfrage beruht. 

Wie auch im übrigen das meiste von dem, was ihre Auslassungen beinhalteten, auf tatsächlichen oder vermeintlichen Tendenzen des öffentlichen Meinungsklimas beruht. Denn letztendlich ist Ségolène Royal, vor allem anderen, die Kandidatin der Medien. Letztere hatten Royal entdeckt, als sie die bis dahin nicht so bekannte Politikerin (obwohl sie von 1992 bis 02 drei mal Ministerin bzw. Staatssekretärin sowie Beraterin von François Mitterand gewesen ist) im März 2004 zur Regionalpräsidentin in Poitiers gewählt worden ist. Damals hatte die von ihr geführte sozialdemokratische Liste 46 Prozent der Stimmen erhalten, das war das höchste Wahlergebnis des PS in einer der 22 Regionen (bei den französischen Regionalparlamentswahlen gilt das Verhältniswahlrecht, aber die stärkste Partei wird bei der Sitzverteilung begünstigt). Dieser glänzende Erfolg war allerdings nicht so sehr auf die eigenen Qualitäten der Politikerin zurückzuführen, sondern vor allem anderen auf einen « Schnauze voll-Effekt » bei den WählerInnen gegenüber den in Paris und in vielen Regionen regierenden Bürgerlich-Konservativen. Der damalige Premierminister Jean-Pierre Raffarin (2002 – 05), dessen Name mit besonders üblen sozialen Einschnitten verbunden wird, war selbst Regionalpräsident in Poitiers gewesen, bis er in sein Regierungsamt nach Paris gerufen wurde. Und danach blieb eine persönliche Vertraute Raffarins, die bis dahin seine rechte Hand in der Region gewesen war, Elisabeth Morin, als Regionalpräsidentin in Poitiers zurück. Dies, also der Wunsch nach einer Abstrafung für die Konservativen, besonders in der persönlichen Hochburg Raffarins, war der allererste Grund und Auslöser für Ségolène Royals dortigen Erfolg.  

Aber ihr scheinbarer strahlender Sieg verschaffte ihr nunmehr Aufmerksamkeit in den Medien. Zudem ist sie eine Frau, sieht nicht so schlecht aus, so dass die Bild- und Textjournalisten gleich doppelt interessiert sind. Und die Spitzenpolitiker des PS fingen damals (2004) bereits an, sich gegenseitig auf den Füben herumzutrampeln, um sich für das Hauen und Stechen um die Präsidentschaftskandidatur zu positionieren. Die « Elefanten » des PS (wie die Partei-Dinosaurier offiziell genannt werden) behinderten sich daher gegenseitig in ihrer Aubendarstellung wie in ihrem Versuch, eine Kontrolle über den Apparat der Partei zu erlangen. Von den Altvorderen unterschätzt und bis dahin nicht so sehr im Rampenlicht stehend, deshalb auch mit dem Image des « Neuen » behaftet und noch nicht mit dem Filz der Parteipolitik identifiziert (obwohl dies für eine ehemalige Beraterin am Hofstaat des « sozialistischen » Monarchen François Mitterrand überaus unverdient ist !), konnte Royal gemütlich an den sich gegenseitig zerfleischenden « Elefanten » vorbeiziehen. Ihr Aufstieg vollzog sich erst unbemerkt oder wurde von manchen Altvorderen der Partei nicht ernst genommen, bevor es (aus ihrer Sicht) zu spät war. Dennoch handelt es sich keinesfalls um eine innerparteiliche « Umwälzung » oder gar Revolution, sondern es ist der mittlere bis gehobene Parteiapparat, der Royal – angesichts ihres Erfolges, vor allem aber ihres Medienimages - schlieblich auf den Schild hob und ihr die Statur einer glaubwürdigen Kandidatin verlieh. Zur « présidentiable » (potenziellen Präsidentschaftskandidatin mit Siegeschancen) aufgebaut haben Royal sowohl der mittlere Funktionärsapparat des PS, als auch – und vor allem – die groben Medien. 

...Und die Kandidatin der Medien 

Es waren nacheinander ein (ansprechend mit übergrobem Foto aufbereitetes) ausführliches Interview  in der liberalen Pariser Abendzeitung <Le Monde> vom 4. September 05, bei dem die beiden Interviewerinnen Royal geradezu zu einer Kandidatur drängten, und 14 Tage später eine grobe Fotoreportage in der Regenbogenzeitschrift <Paris Match> pünktlich zu ihrem 52. Geburtstag, die Royal in den Rang einer « présidentiable » (potenziellen Präsidentschaftskandidatin) erhoben. Dies passierte im September 2005. Das Fernsehen folgte, dessen Themensetzung und –gewichtung ohnehin mit durch die Hierarchisierung der Schlagzeilen von <Le Monde> als medialem Agendasetter bestimmt oder zumindest stark beeinflusst wird. Im Folgenden war es dann eine Reise von Ségolène Royal im Februar 2006 nach Chile, zur Wahl der neuen (sozialistischen) Präsidentin Michele Bachelet, die Royals Präsidentschaftsambitionen in der politischen Öffentlichkeit unterstrich. Aufgebaut worden ist sie durch die Medien. 

Zum zweiten Mal seit 1995 ist die Pariser Abendzeitung <Le Monde>, die sich normalerweise mit direkter politischer Einflussnahme oder Sympathiebekundung zurückhält und eher auf Qualitätsinformation setzt, unmittelbar in die politische Landschaft « hinab gestiegen ». 1995 hatte sie den konservativ-liberalen Präsidentschaftskanditaten Edouard Balladur unterstützt, zu dessen Beratern der (wirtschaftsliberale) Aufsichtsratsvorsitzende des <Le Mond>e-Medienkonzerns Alain Minc zählte. Und seit 2005 unterstützt die Pariser Abendzeitung, nicht allzu offen aber dennoch klar vernehmlich, die Präsidentschaftskandidatur von Ségolène Royal.  

Hingegen wurde es der, seit 1981 sozialdemokratisch orientierten, Tageszeitung <Libération> in den vergangenen Wochen zu bunt. Sie fing an, Royal und ihren Hang zum Anhängen an vermeintliche Strömungen in der öffentlichen Meinung offen zu kritisieren. Am 24. Oktober titelte die PS-nahe Tageszeitung über Royal : « Eine politische Linie, Tendenz <Marketing> ». <Libération> berichtete im Oktober auch ausführlich über ein Interview mit dem (2002 verstorbenen) französischen Soziologen Pierre Bourdieu, das drei Jahre vor seinem Tod aufgezeichnet worden war, das bis dahin aber der Öffentlichkeit unbekannt geblieben war. Es war wenige Tage zuvor durch einen Pariser Alternativ-Fernsehsender,  Zaléa TV, ausgegraben worden. Bourdieu also urteilte 1999 in diesem Interview über die damals noch nicht  so prominente Royal : « Wie heibt sie noch mal, die Frau von Hollande? Ségolène Royal! Eh bien, für mich zählt sie nicht zur Linken. Sie hat einen Habitus, ein Auftreten, ein Benehmen, die Ihnen anzeigt: <Sie gehört zur Rechten>.» Der Soziologe fuhr sogar fort, seines Wissens habe die junge Royal an der ENA – der Elitehochschule für Verwaltungswissenschaften, wo der Nachwuchs an Berufspolitikern und hohen Beamten gezüchtet wird – «sich die Frage der Wahl zwischen der Linken und der Rechten anhand von Karriereaussichten gestellt». Damals habe sie sich für die Sozialdemokratie entschieden, weil im konservativen Lager keine Plätze mehr zu erobern schienen. Ob dem wirklich so ist, das kann freilich im Nachhinein schwer festgestellt werden. Im innerparteilichen Wahlkampf spielte es kaum eine Rolle. Denn auch Laurent Fabius war seit längerem aufgrund von Berichten ehemaliger Studienkollegen dafür bekannt, dass er auf der ENA längere Zeit zwischen dem Anschluss an die Sozialdemokratie und dem Beitritt zur christdemokratischen UDF gezögert hatte... 

Polit-Marketing 

« Eine politische Linie, Tendenz Marketing » : Diese Überschrift trag tatsächlich den Nagel auf den Kopf. Und wenn die Kandidatin nicht weib, wie dieses Stimmungsklima einzuschätzen ist, bezieht sie lieber erst einmal keine Position. « Die Position des französischen Volkes wird meine Position ein » lautete ihre Antwort im Oktober 06 auf die Frage nach einem möglichen EU-Beitritt der Türkei, zu der ihr lediglich einfiel, dass das französische Wahlvolk vor seinem Inkrafttreten darüber abstimmen werde (nach einem früheren Versprechen Chiracs und Sarkozys). Um es sich nur ja mit niemandem zu verderben... Darauf antwortete der konservative Ex-Aubenminister (2004/05) Michel Barnier mit dem – hochpolemischen, aber nicht völlig vorbei zielenden - Hinweis darauf, dass der Spruch « Mes idées ? Les vôtres ! » (Meine Ideen ? Die Ihren !) dereinst die Plakate des Demagogen Jean-Marie Le Pen zierte. 

Manchmal packt die Kandidatin ihre Marketingstrategie in den Begriff der « partizipativen Demokratie » : Es sei doch nur hochdemokratisch, wenn die Politiker(innen) die Leute erst einmal nach ihrer Meinung fragten, bevor sie sich äuberten. Dies mag auch tatsächlich stimmen - sofern es dabei um das Organisieren von Entscheidungsprozessen geht ! Aber nicht, wenn es darum geht, dem Wahlvolk eine Kandidatur zu verkaufen : In diesem Sinne wäre es nämlich, völlig im Gegenteil !, weitaus demokratischer, wenn die im April 2007 zur Urne gerufenen WählerInnen vorher möglichst viel über die Ansichten, Ziele und Vorstellungen der einzelnen KandidatInnen wüssten. Denn dann wären sie ungleich besser darüber informiert, für welche Politik sie überhaupt (indirekt) stimmen, anstatt sozusagen die Katze im Sacke zu kaufen. Daher wäre es gut und nicht schlecht, würde die Kandidatin im Vorfeld der Wahl ihre Auffassungen zu konkreten Sachfragen sehr genau darlegen. Stattdessen aber bekommen die WählerInnen ein Abziehbildchen verkauft, viele schöne Fotos der Kandidatin in den Medien serviert und dazu häufig noch verquaste « Werte » mitgeliefert. Vielen Dank auch ! 

Um ihren Kassenschlager von der « démocratie participative » ein bisschen glaubwürdiger zu machen und besser anzubringen, hat Ségolène Royal ihn gegen Ende des PS-internen Abstimmungskampfes miteiner zusätzlichen Idee untermauert. Nun schlug sie vor, wenn sie einmal gewählt sei, könne man « Jurys citoyens » (Bürger-Jurys) bilden, die dann die Handlungen der führenden Politiker mit kontrollieren sollten. Die Rede war bei ihr allerdings eher von einer Kontrolle der Regierung, als des Staatspräsidenten oder der Präsidentin... (Hilfe, wer kontrolliert dann Royal ?) Und die Sache soll folgendermaben aussehen : Eine bestimmte Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern sollen per Los gezogen –- also nicht gewählt, oder durch die Strukturen organisierter sozialer Interessen benannt – werden. Diese ausgelosten BürgerInnen sollen dann die Politik der amtierenden Regierung begutachten und ihre Meinung dazu kundtun können. Und sie sollen auch Vorschläge machen dürfen, aber bitte schön : Gedacht ist (nur) an « Verbesserungsvorschläge », konstruktiver Natur natürlich. Vernichtende Kritik ist also nicht im Programm vorgesehen. Das nennt sich dann « demokratischer », wenn einzelne Individuen, die keinerlei demokratische Legitimation haben und deren gesellschaftlicher Hintergrund völlig unklar (da einer zufälligen Auswahl unterworfen) ist, den regierenden PolitikerInnen noch ein paar Tipps geben dürfen. Und da man sicherlich niemanden gegen (oder ohne) seinen erklärten Willen zum Mitglied einer solchen « Bürgerjury » wird ernennen können, dürfte sich das Rekrutierungsfeld ihrer Mitglieder letztzlich dann auf solche Aktivbürger beschränken, die sich für so etwas nun mal freiwillig bewerben. Letztendlich dürfte es also wie die Verlosung von Zuschauerplätzen bei einer Talkshow aussehen. 

Der konservative Premierminister Dominique de Villepin konterte diesen demagogischen, pardon : demokratischen Vorschlag mit einem anderen : Künftig sollen zwar keine per Los gezogenen Aktivbürger, wohl aber Fernsehkameras bei den wöchentlichen Sitzungen des Ministerrats dabei sein. Bisher laufen die Kabinettssitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Präsident Chirac (der an den Sitzungen des Ministerrats teilnimmt und ihm vorsitzt) hat aber daraufhin sein Veto dagegen eingelegt. Und wenn der Vorschlag denn durchkäme – dann würden die brisanten Entscheidungen eben bei Treffen im Vorfeld ausgemacht, und die wöchentliche Kabinettssitzung würde zu dem Ort, wo sie der Öffentlichkeit dann (via TV) verkauft werden ! 

Innerparteilich hat die Idee von den « Bürgerjurys », gekoppelt an Royals sonstige Marketing-Strategie, bei manchen Sozialisten durchaus böses Blut hervorgerufen. Man warf ihr « Populismus » und eine Herabwertung der Politik, im Sinne einer Stimmungsdemokratie, vor. Das trifft natürlich in einem bestimmte Sinne durchaus vollkommen zu, vor allem wenn man einen Blick auf die von ihr dargebotenen Inhalte wirft. Aber es war zugleich im Sinne einer Interessensverteidigun von Berufspolitikern formuliert, die auch bei jedem anderen Versuch, eine stärkere Einmischung « der Bürger » in die Entscheidungen « der Politiker » herbeizuführen, sofort « Populismus » schreien würden.  

Dominique Strauss-Kahn machte sich eine Zeit lang zum Wortführer dieser Kritik an Royals « Populismus » und an ihrer Missachtung der Politik. Ende Oktober buhten und pfiffen seine Anhänger Royal bei einem Auftritt der drei « Kandidaten für die Kandidatur » im Pariser Veranstaltungssaal Le Zénith aus. Einem harten Kern von Strauss Kahn-Anhängern gesellten sich dabei aber wahrscheinlich noch andere Parteimitglieder hinzu, die sich angegriffen fühlten, als Royal ausrief : « Gehen wir auf das Volk zu ! Haben wir keine Angst vor dem Volk ! » Jene PS-Mitglieder, die (im Gegensatz zu ihren Altvorderen) noch ein wenig aktive Arbeit machen und auf den Wochenmärkten Präsenz zu zeigen versuchen, fühlten sich dadurch beleidigt und missachtet. Eine lustige Begebenheit ereignete sich im Zusammenhang mit dieser Anekdote. Julien Dray, einer der übelsten Karrieristen des PS (ehemaliger Trotzkist in den 70er Jahren, dann zur damaligen Regierungspartei PS übergetreten, aktuell Sprecher der Partei und ein erklärter Unterstützer der Kandidatur Royals von Anfang an), stellte drauben vor dem Zénith einen Strauss Kahn-Anhänger zur Rede. Royal hatte soeben ihre Pfiffe geerntet und, an jenem Abend vor den Mitgliedern aus dem Grobraum Paris, keine so gute Figur abgegeben. Bezüglich der Pfiffe kommentierte der Strauss Kahn-Unterstützer schlau : « Heute abend hat die Bürgerjury entschieden ! » Woraufhin Dray ausfällig wurde und den Anderen sogar vor der Presse vermöbeln wollte...  

Und die beiden anderen Kandidaten ?

 Was aber vertraten nun die beiden Gegenkandidaten zu Ségolène Royal ? Die drei Fernsehdebatten, die es ihnen erlaubten sollten, sich zu profilieren, ergeben in etwa folgendes Bild:  

Dominique Strauss-Kahn, Aubenwirtschaftsminister in den frühen neunzigern und Wirtschaftsminister von 1997 bis 99, setzt auf das, was er eine « moderne Sozialdemokratie » nennt. Die französische Partei sei bisher noch nicht auf der Höhe dieses Profils gewesen, sondern habe zu traditionssozialistisch gedacht, lieb er anklingen. « DSK » tritt zwar wie seine Mitbewerber in Worten stets für mehr soziale Gerechtigkeit ein, verspricht sich diese allerdings in erster Linie von einem stärkeren Wirtschaftswachstum. Letzteres solle dadurch erreicht werden, dass Frankreich stärker in die Zukunftsbranchen der Bio- und Gentechnologie, der Pharmaindustrie und des Gesundheitssektors investiert. Soziale Fortschritte müssten vor allem durch Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften erzielt werden, die Politik könne dazu allenfalls Impulse geben. Eher schockierend aus sozialdemokratischer oder gewerkschaftlicher Sicht ist zudem, dass DSK sich im September dezidiert für eine stärkere Individualisierung und Flexibilisierung der Arbeitszeitpolitik aussprach (vgl. <Libération> vom 08. September 2006, S. 11). Das hätte in vielen Fällen real vor allem eine Ausdehnung der Arbeitszeiten bedeutet ! 

Fabius bezeichnete sich in seiner Kandidaturerklärung von Anfang Oktober als « Kandidat der Kaufkraft ». Im innerparteilichen Abstimmungskampf setzte er voll auf das Image des Traditionssozialdemokraten, für den Umverteilung –- und zwar ausnahmsweise von unten statt oben -– noch kein Schimpfwort ist und der die Idee staatlicher Intervention in die Wirtschaft in Zeiten der viel beschworenen neoliberalen Globalisierung noch nicht in die Mottenkiste gepackt hat. 

Ohne Verrenkungen konnte es dabei nicht abgehen. Denn sehr viele Leute können sich noch gut an die Amtszeit von Laurent Fabius als Premier, das war von 1984 oder 86, oder an seine sehr viel jüngeren Leistungen als Wirtschaftsminister erinnern. Beim Internet-Chat der Tageszeitung Libération mit den drei KandidatInnen in den letzten zehn Tagen vor der Abstimmung kam ein Teilnehmer, ein 18jähriger Student, auf die Idee, Fabius zu fragen : « Warum nehmen Sie nicht an der Sammlung von Kräften gegen den Neoliberalismus teil ? » Fabius’ Antwort dürfte schon fast unter Realsatire fallen : « Ich nehme unaufhörlich daran teil, seit April 2002 ! » Wenn man bis genau im April 2002 Wirtschaftsminister war und seine Opposition zur vorherrschenden Tendenz in der Wirtschaftspolitik erst pünktlich zum Ende seiner Amtszeit entdeckt hat, dann hat man unter Umständen, nun ja, ein Glaubwürdigkeitsproblem.  

Im übrigen datiert die Konversion des ehemaligen neoliberalen PS-Flügelmanns Laurent Fabius zum so genannten Traditionssozialdemokraten erst aus dem Jahr 2004, als er die Auseinandersetzung um das bevorstehende Referendum über den EU-Verfassungsvertrag dazu nutzte, um sich ein völlig neues politisches Image zuzulegen. Aus dem Grobbürger sollte nun ein Volkstribun werden., im Vorgriff darauf, dass letzterer irgendwann noch Präsident werden könnte. Sein historisches Vorbild, auf das er sich unaufhörlich bezog : François Mitterrand, der in den 70er Jahren die Devise ausgegeben hatte, dass man « die (sozialdemokratische) Partei von links her übernehmen » müsse, so lange man in der Opposition ist. Nur haben sich die Zeiten seit Mitterrands erstem Wahlsieg im Mai 1981 ziemlich geändert, und einige Desillusionen – vor allem auf der etablierten Linken - sind durchs Land gegangen. 

Insofern war die Abstmmung eine programmatisch Weichenstellung, und es war auch wieder keine. Insofern nicht, als die angebotenen programmatischen Alternativen zum Teil (vor allem im Falle Fabius) sehr nach Fake aussahen -- nach misslungener Nachahmung von schon einmal Dagewesenem, das die Linkswählerschaft bereits einmal gründlich enttäuscht hatte. 

Nebenbei schien vor allem Laurent Fabius auch ziemlich ungeeignet für die Aufgabe, die sich die Partei gesetzt hat, ehemalige Wähler in den sozialen Unterschichten wieder anzuziehen – auch solche, die sie zwischenzeitlich an die extreme Rechte verloren hat. Und das aus mindestens zwei Gründen. Fabius merkt man von seinem gesamten Auftreten her die grobbürgerliche Herkunft an, auch wenn er seit zwei Jahren bemüht ist, bestimmte Manieren abzulegen. Seine jüngeren Auftritte im Hemd und ohne Krawatte wirken dabei bei ihm schon reichlich gekünstelt. Zugleich ist Fabius in jenen Kreisen, auf die die Rechtsradikalen einen Einfluss ausüben können, einer der meistgehassten Männer. Als Premierminister trug Fabius 1985 die politische Verantwortung für den Blutkonservenskandal. Damals waren AIDS-verseuchte Blutkonserven in den Krankenhäusern nicht rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen worden, und es kam zu HIV-Übertragungen bei Bluttransfusionen, während der Virus als AIDS-Übertrager bereits weithin bekannt war. Fabius konnte selbst nichts für diese Entscheidung, trug aber als damaliger Regierungschef schlussendlich die Verantwortung dafür, auch wenn er zehn Jahre später vom obersten Gerichtshof für seine Rolle dabei freigesprochen wurde. Die extreme Rechte aber hat Fabius damals in den Mittelpunkt einer Hasskampagne gerückt, die in ihrem Umfeld nicht vergessen sein dürfte. Der innere Kreis ihres Publikums hat damals die Melodie sehr wohl verstanden, die damals gespielt wurde, und die Karikaturen mit entsprechend betonten Gesichtszügen : Fabius, der Jude, vergiftet das französische Blut. Deshalb auch wird Fabius seine jüdische Herkunft mit ungleich höherer Wirkungskraft in bestimmten Kreisen vorgeworfen, als etwa seinen Parteifreunden Strauss-Kahn oder Jack Lang.           

Das sozialdemokratische Programm 

Und das Programm ? Der Parti Socialiste (PS) hat bereits im Juni dieses Jahres ein Programm vorgelegt (vgl. http://www.parti-socialiste.fr/videos/livrespdf/projet/Livre_Projet.swf ). Dieses enthält zwar einige sozial- und wirtschaftspolitische Versprechungen, aber einige davon bleiben vage, etwa eine « Stärkung der öffentlichen Dienste » (ohne zu präzisieren, welcher, und ohne eine Rückgängigmachung der vorausgegangene Privatisierungen anzukündigen). Andere sind demagogisch formuliert. Der PS kündigt bspw. eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC) « auf 1.500 Euro » bis zum Ende der nächsten Legislaturperiode an, wobei die Zahl « 1.500 » erst einmal verlockend klingt. Das bedeutet : eine Anhebung des Mindestlohns auf dieses Niveau bis im Jahr 2012, da die Dauer der Legislaturperiod 2007 bis 12 beträgt. Nun beträgt dieser gesetzliche Mindestlohn (SMIC) zur Zeit rund 1.250 brutto, was knapp 1.000 Euro netto entspricht. Und der Mindestlohn, von dem das PS-Programm spricht, ist auf Bruttobasis kalkuliert. Berücksichtigt man nur die Inflationsrate, also das, was mindestens erforderlich wäre, um den nominalen Geldwert des Mindestlohns beizubehalten (bei gleichbleibender Inflation), dann läge der SMIC im Jahr 2012 allein schon damit zwischen 1.400 und 1.5OO Euro brutto. Das berücksichtigt aber noch nicht, dass viele notwendige Ausgaben der Privathaushalte (die durch die offizielle Inflationsrate nur unzureichend wiedergegeben werden), und insbesondere die seit 1997 anhaltende Explosion der Mieten, damit nur ungenügend berücksichtigt sind. Ein SMIC in Höhe von 1.500 Euro brutto im Jahr 2012 würde an realer Kaufkraft maximal dem heutigen entsprechen.  

Legt man ferner die nominalen Lohnzuwächse (also das, was in den letzten Jahren an Lohnabschlüssen getätigt wurde, auch wenn ein Teil der Zugewinne rasch durch den Anstieg der Lebenshaltungskosten aufgefressen wurde) der vergangenen 5 Jahren zugrunde, so bedeutet ein Brutto-SMIC von 1.500 Euro bis 2012 für die kommenden Jahre eine niedrigere Anstieg als im bisherigen Zeitraum. Das Versprechen entpuppt sich also als leere Geschenkpackung, ja sogar als Drohung. 

Nichtsdestotrotz enthält das vorhandene PS-Programm aus Sicht der Kandidatin, aber auch aus Sicht ihres bisherigen Rivalen Dominique Strauss-Kahn noch immer zu viele Zwänge, die die Realpolitik einengen. Als Erster preschte deshalb der sozialliberale Wirtschaftspolitiker Strauss-Kahn vor und erklärte im Sommer offen, das Programm sei das Programm, aber « der zukünftige Kandidat (für die Präsidentschaftswahl) wird eine Auswahl unter den Vorschlägen treffen, die ihm am wichtigsten erscheinen ». Sprich : Parteiprogramme beschäftigen hauptamtliche Funktionäre und füllen Sonntagsreden aus, aber wenn es darauf ankommt, kann man sich damit den Hintern abwischen. (Hätte der Mann natürlich SOOO nicht gesagt.) Laurent Fabius konnte deswegen eine Gegenattacke fahren und positionierte sich im innerparteilichen Wahlkampf, indem er angab, er stehe « für das Programm, das ganze Programm, und nichts als das Programm ». Royal ihrerseits griff das offizielle Programm nicht an, erklärte aber Anfang November – kurz vor ihrer Wahl zur Kandidatin -, es sei « nicht das kleine rote Buch ». So (als <petit livre rouge>) wird auf Französisch die im Deutschen so genannte Maobibel bezeichnet. 

Am Tag ihrer Kandidatinnenkür erklärte Royal in der Pariser Salle de la Mutualité, nun läge es an den Franzosen, ihr zu sagen, wie ihrer Auffassung nach die anzustrebende « gerechte Ordnung » (L’ordre juste) – so lautet Royals zentraler Wahlkampfslogan – aussehen solle. « Die Zuhörer haben das Wort » kommentierte die Royal unterstützende Pariser Abendzeitung <Le Monde> in einem Leitartikel, nur unfreiwillig ironisch. Denn damit ist nicht mehr Demokratie gemeint, sondern mehr Medien- und Stimmungsdemokratie, besseres Erfassen der Trends, kurz : ein besseres Polit-Marketing. Letztendlich ist Ségolène Royal, vor allem anderen, die Kandidatin der Umfragen und der Medien. Aber diese werden ihr kaum soufflieren können, wie zukünftige politische Antworten auf die in Hülle und Fülle vorhandenen Probleme der französischen Gesellschaft aussehen können.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns vom Autor am 2.12..2006 zur Verfügung gestellt.