Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer
12/06

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III. NEUERE ZEIT
I. DER UNTERGANG DES MITTELALTERS

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1. Auflösung der päpstlichen und kaiserlichen Weltmacht.

Der Untergang des Römischen Reiches war die Folge wirtschaftlicher Schwäche; die Auflösung des Mittelalters hingegen war die Folge des Aufstiegs der neuen Wirtschaft und vollzog sich unter heftigen inneren Kämpfen. Im vierzehnten Jahrhundert zeichneten sich die Spuren der Zersetzung schon deutlich ab. Die beiden Weltmächte: Papsttum und Kaisertum, deren Unternehmungen und Gegensätze die Schaubühne des Mittelalters ausfüllten, wurden durch die neue aufsteigende Macht: den Nationalstaat und die landesherrliche Gewalt, bis in die Grundfesten erschüttert. Innerhalb der beiden Zentralkörper entstanden neue Kerne, die zu Mittelpunkten der ihnen verwandten Elemente wurden und zwar kleinere, aber festere wirtschaftliche, kulturelle und nationale Körper bildeten, die sich um ihre eigene Achse zu drehen begannen. Sie machten immer kräftigere Anstrengungen, sich von den Zentralkörpern loszulösen. Die neuen Kerne waren die Städte, die Sitze der neuen Wirtschaft, die Mittelpunkte eigener Interessen; sie verbanden sich vorerst mit den Landesfürsten und Königen, um zusammen die Ansprüche der Universalmächte abzuwehren. Im Unterschied von Italien, wo die Städte oft mit Papsttum und Kaisertum in Konflikt gerieten, erblickten Frankreich, England und Deutschland ihren gefährlichsten Gegner im Papsttum. Im Laufe dieser Anstrengungen löste sich die Literatur der einzelnen Staaten von der lateinischen Universalsprache ab, und die Dichter und Schriftsteller schufen eine nationale Sprache; die

großen Schöpfer der nationalen Sprachen in West-und Mitteleuropa waren antipäpstlich. Die Staatsmänner schufen eine nationale Politik. Nationale Kirchenpolitiker und Theologen legten die Grundlagen zur Reformation, wie in England, Böhmen und Deutschland; eine analoge Erscheinung ist der Kalvinismus in Frankreich, dessen Königtum obendrein den Papst gefangen nahm und den Klerus den Staatsgesetzen unterwarf. Vom vierzehnten Jahrhundert bis tief in die neuere Zeit hinein mußte Rom — das Rom der Gregor und Innozenz — um seine nackte Existenz kämpfen, nicht nur gegen die Nationalstaaten, sondern gegen die eigenen Kirchenkonzile, die das Kontrollrecht über den Papst beanspruchten. Noch schlimmer erging es dem deutschen Kaisertum: es starb an imperialistischer Inflation, das heißt: es herrschte angeblich über zahllose Länder, aber es besaß keine politischen Werte; kostbares deutsches Blut wurde dieser Inflation geopfert; die eigentlichen deutschen Interessen wurden vernachlässigt. Das Kaisertum, im Weltreichtraume befangen, kümmerte sich nicht um die neue deutsche Wirtschaft, um die Hanse, die blühenden Städte, den süddeutschen Frühkapitalismus, außer wenn es galt, Anleihen aufzunehmen, um sie in auswärtigen Unternehmungen zu verzetteln. Die tatkräftigsten Elemente der Nation, die neuen Hauptleute der städtischen Wirtschaft, suchten nach Welthandel und betätigten ihren bürgerlichen Sinn nur in munizipalen Angelegenheiten. Zuweilen lebte in ihnen der nationalstaatliche Sinn auf, sie gründeten Städtebünde, standen zum Kaiser in seinem Kampfe gegen Papsttum, aber die Universalmachtpolitik des Kaisertums zerstreute die nationale Energie und ließ keine politische Konzentration zu. Seit dem Tode Ludwigs des Bayern (1347) sank das Kaisertum zu einem Schatten herab; es entschwand dem deutschen Horizont, es verschob seinen Sitz nach dem äußersten Osten des Reiches: nach Österreich, nach Wien und Prag. Es wurde exzentrisch. Die einzelnen Landesfürsten hatten dann die lang ersehnte Möglichkeit, ihre selbstherrlichen Bestrebungen zu fördern und die Zerrissenheit Germaniens auf Jahrhunderte hinaus zu besiegeln, und zwar zu einer Zeit, als im Westen des Reiches die französische Staatsmacht sich immer mehr zentralisierte, die Grundlagen zu einer stehenden Armee aufbaute und zum Leitstern ihrer Diplomatie die Erhaltung der Zerrissenheit Deutschlands machte. Und inmitten dieser nationalpolitischen Vorgänge brachen innere Konflikte und Klassenkämpfe aus, wie sie bei der Auflösung eines alten Gesellschaftssystems und beim Werden eines neuen unvermeidlich sind.

2. Soziale Gegensätze.

Die Zunahme der Zahl der Städte, das Wachsen i ihrer Bevölkerung, die Ausdehnung der Handels- * und Gewerbetätigkeit brachten das Bürgertum in t einen Interessengegensatz zu den Grundherren. Die entstehende neue Wirtschaft, das Werk der Kaufmannsgilden und der aus ihnen hervorgegangenen Handwerkerzünfte, empfand bald das Lehenswesen als Fessel. Die neue Wirtschaft brauchte die freie Bewegung der Masse der Bevölkerung: die Freiheit, zu kaufen und zu verkaufen, die Freiheit, sich irgendeinem Gewerbe zuzuwenden oder sich bei irgendeinem Arbeitgeber zu verdingen. Das Lehenswesen war auf Gebundenheit begründet, auf zeitweiligen Austausch von Grund und Boden oder militärischen Schutz gegen Dienste: es band die große Masse der Bevölkerung — die Bauernschaft — an die Scholle, nahm ihr die Bewegungsfreiheit, legte ihr Dienstlasten auf, die ihr noch kaum gestatteten, die in der Stadt erzeugten Waren zu kaufen und zu genießen. Das Lehenssystem verhinderte also den Zuzug von Arbeitern nach der Stadt, es schränkte ferner die Nachfrage nach ihren Waren erheblich ein. Die Interessenten des städtischen Arbeits- und Warenmarktes mußten unter diesen Umständen das Lehenswesen bekämpfen.

Nicht nur Arbeit und Konsum litten. Auch die Produktion war stark in Mitleidenschaft gezogen, denn die Grundherren, die weltlichen und die geistlichen, verfügten über die Rohstoffe, die die städtischen Gewerbe zur Verarbeitung brauchten. Die Grundherren und die Äbte besaßen die Wälder, also Holz und Pelze; sie besaßen die Viehherden, also auch Häute und Wolle; auf ihren Feldern wuchsen Hanf und Flachs — also all die Rohstoffe, ohne welche die städtischen Gewerbe sich nicht regen konnten. Dieselben Herren, die weltlichen und die geistlichen, erhoben Wege- und Brückenzölle und konnten den Verkehr stören und lahmlegen. Es waren die grundherrlichen Monopole über die Arbeitskraft, die Rohstoffe und den Verkehr, die den Gegensatz zwischen Stadt und Lehenssystem erzeugten. Die Stadt mußte notwendigerweise für die Freiheit eintreten, für die Beseitigung des Lehenssystems, des Feudalismus, wirken, dessen Grundlage die Gebundenheit der Bauernschaft war. Die Stadt bemühte sich deshalb um die Aufhebung der Hörigkeit; sie bot den Bauern freie Zuflucht; sie bot noch mehr: einen Markt für die Erzeugnisse der Landwirtschaft, die den Bauern die Geldmittel gaben, sich von der Hörigkeit loszukaufen, sobald ein Adeliger Geld brauchte. Und der Adel brauchte Geld für Rüstungen, für Luxus, für Reisen. Der Geldbedarf des Adels hatte sich seit den Kreuzzügen, seit ihm die Welt mit ihren Genüssen bekannt geworden war, erheblich gesteigert.

Der Bauernschaft schienen bessere Zeiten zu winken. Allein dieselben Umstände trugen zur Verschlechterung der materiellen und rechtlichen Lage der Bauern bei. Der Adel, getrieben von seinem Geldbedarf, ging daran, seine Einnahmequellen stärker in Anspruch zu nehmen, also immer kräftiger auf die Hörigen zu drücken, ihre Lasten zu erhöhen, ihre Gemeinschaften anzugreifen, Wald, Flüsse, Weiden, Wiesen und Felder, die seit der germanischen Urzeit gemeinsam waren, als sein ausschließliches Eigentum in Besitz zu nehmen, so daß der wachsenden bäuerlichen Bevölkerung der Raum zur Ausdehnung ihrer Wirtschaft entzogen wurde. Die Hufen wurden deshalb zerschlagen, die Wirtschaften verkleinert, trotzdem blieben noch genug Bauern, die weder auf der Hufe noch in der Allmende Platz hatten. Sie wurden proletarisiert.

Die Folge dieser Entwicklung war eine um sich greifende Gärung auf dem Lande, die seit dem vierzehnten Jahrhundert West- und Mitteleuropa erfaßte, einen revolutionären Charakter annahm und auf die Wiederherstellung der Dorfgemeinschaft und der Demokratie abzielte.

Verschärft wurde diese Gärung durch die Konflikte der verschiedenen Schichten innerhalb der Städte. Die Landwirtschaft schuf das Dorf, die Handels- und Gewerbetätigkeit schuf die Stadt. Ländliche Siedlungen, die zu Mittelpunkten administrativer oder kirchlicher Menschenansammlungen wurden, oder die an Knotenpunkten der Verkehrswege gelegen waren, wurden zu Niederlassungen von Handels- und Gewerbetreibenden oder zu Städten. Da der Grund und Boden irgendeinem Adeligen, Bischof oder Abt gehörte, mußten die Städte ihre Freiheiten, ihre Selbstverwaltung erst von den Herren abkaufen. Auch dieses Verhältnis verlief nicht ohne Reibungen zwischen Stadt und Lehenssystem. Die Handels- und Gewerbetreibenden vereinigten sich vorerst zu einer Kaufmannsgilde, dann lösten sich die einzelnen Gewerbe und Handwerke von der ursprünglichen Gilde ab und bildeten Gilden oder Zünfte und Innungen für sich. Die Zünfte arbeiteten sowohl auf eigene Rechnung wie für Kunden. Das Verhältnis zwischen den Zunftgenossen war das einer Einkaufsgenossenschaft zum Zwecke gleicher Gelegenheit und Einschränkung des Wettbewerbs, Festsetzung von Preis- und Lohntarifen. Das Verhältnis zwischen Meister und Gesellen und Lehrlingen war in den ersten zwei Jahrhunderten bis etwa um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts ein gutes. Von dieser Zeit an lesen wir oft von Konflikten zwischen Meistern und Gesellen, von Lohnstreitigkeiten und sogar Arbeitsniederlegungen, von besonderen Gesellenverbänden, jedoch nahmen diese Gegensätze nicht den Charakter einer allgemeinen Arbeiterfrage an. Ernster waren die Gegensätze zwischen den reichgewordenen und den minderbemittelten Zunftgenossen. Die alten Familien nahmen das Recht auf Stadtverwaltung für sich allein in Anspruch. Sie bildeten das Patriziat; aus ihnen ging der Rat oder die Ehrbarkeit hervor, während die minderbemittelten Zünftler das Wahlrecht nicht besaßen. Im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert gab es heftige Wahlrechtskämpfe, die oft mit dem Siege der demokratischen Elemente endeten. In diese politischen Konflikte mischten sich nach und nach soziale Momente, da die mit der Zunahme der Privatwirtschaft wachsende Klassenspaltung die mittelalterliche Stadtbevölkerung in Besitzende und Besitzlose teilte. Alle Regulierungen der Zünfte konnten die Entstehung schroffer sozialer Gegensätze nicht verhindern. Seit dem Beginn der Bauernkriege im vierzehnten Jahrhundert finden wir überall, daß die ärmeren Schichten der städtischen Bevölkerung die Bundesgenossen der kämpfenden Bauern waren. Man darf mit vollem Recht sagen, daß die Bauernkriege nur der allgemeine Name sind für die Erhebungen der arbeitenden Massen jener Zeiten. Man nennt sie Bauernkriege, weil die ländliche Bevölkerung das Hauptkontingent zu den Aufständen lieferte. In diesen Aufständen spielten, wie wir später sehen werden, sozialreformerische und kommunistische Forderungen eine erhebliche Rolle; und diese Forderungen nahmen eine theologische Form an, teils weil ihre Theoretiker Theologen waren, teils weil sie zugleich mit der Reformationsbewegung gegen die Kirche gerichtet waren(1).

Anmerkungen

1)  Kurt Käser, Späteres Mittelalter (5. Band der Weltgeschichte, herausgegeben von Hartmann). Verlag Perthes, Gotha, 1921. Derselbe, Politische und soziale Bewegung im deutschen Bürgertum. Stuttgart 1899.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 237-242

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html