Antikollektivismus 
Der neue Geist „linker“ Sozialstaatskritik

von Gerhard Hanloser
12/05

trend
onlinezeitung
Die Hegemoniefähigkeit des Neoliberalismus begründet sich auch dadurch, dass er Stichworte anders gelagerter Debatten okkupieren kann und so auch auf das Terrain seines politischen Gegners vorzudringen vermag. Mittlerweile gibt es auch spezifisch linke und anti-totalitäre Begründungen und Legitimationen neoliberaler Politik. Wenn wir uns über die Frage nach der Hegemoniefähigkeit des Neoliberalismus Gedanken machen, so sollte nicht zuletzt die Frage aufgeworfen werden, wie es kommen kann, dass in die historische Linken – eigentlich die Gegenspielerin der kapitalistischen Marktideologie - Diskurse und Ideologien Einzug gefunden haben, die zum neoliberalen Mainstream anschlussfähig geworden sind. Neu ist diese Frage keineswegs. Der sich stets wandelnde „Geist des Kapitalismus“  hat schließlich auch – daran haben die Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Eve Chiapello erinnert – linke Ideen und Kritiken am klassischen, keynesianischen Wohlsfahrtsstaat aufgenommen und in das neoliberale Herrschaftsmodell eingepflanzt.[1]  

Von der Preisgabe materialistischer Analyse zur repressiven Verhaltenslehre 

Materialistische Analysen sind in Publikationen wie der Berliner Wochenzeitung  jungle World  und in der Hamburger Monatszeitschrift konkret Mangelware, die feuilletonistische Verflachung der Kritik an Erscheinungen des kapitalistischen Weltsystem korrespondiert mit einem neuen  Idealismus. Marx sprach in der Deutschen Ideologie von der Empirievergessenheit vieler Linkshegelianer und beschrieb ihre Verfahrens- und Denkweise wie folgt: „Man muss die Gedanken der aus empirischen Gründen, unter empirischen Bedingungen und als materielle Individuen Herrschenden von diesen Herrschenden trennen und somit die Herrschaft von Gedanken oder Illusionen in der Geschichte anerkennen.“ Die publizistische, antideutsche Linke betreibt nun schon seit Jahren das Spiel, von metaphysischen Gedankenmächten ausgehend die Welt zu erklären. Dabei verhält sie sich in ihren Beschreibungen der Veränderungen des Sozialstaats bloß spiegelverkehrt zum herrschenden Alltagsbewußtsein, das auch von der Herrschaft von Gedanken und Illusionen ausgeht. Im Alltagsbewußtsein wird dem  „rheinischen Kapitalismus“ der „Wild-West-Kapitalismus“ US-amerikanischer Prägung entgegengehalten. Diese Dichotomie will in einer Zeit der Krise und der Bedrohung Einverständnis mit den Herrschenden erheischen, will in der Ablehnung von Sozialabbau und Neoliberalismus sich autoritär auf ein „kulturelles Erbe“ beziehen – hier ist das Einfallstor für anti-amerikanische Positionen weit geöffnet. Ausgeblendet bleibt dabei, dass der Wohlfahrtsstaat a la BRD eine spezifische Form des industriellen Arrangements darstellt bzw. darstellte. Die hohe Produktivität hierzulande war mit sozialem Frieden und relativer materieller Einbindung der arbeitenden Klasse erkauft. Offensichtlich hat sich im politischen Establishment die Position durchgesetzt, dass sozialer Friede und Produktivität auch ohne rheinisch-kapitalistischen Wohlfahrtsstaat alter Prägung gewährleistet sind und vielmehr verstärkter Druck auf die Arbeitslosen und die Durchsetzung der Arbeit als Simulation und als Herrschaftsprojekt die Krisenhaftigkeit dieser Gesellschaftsordnung abwehren und überspielen soll.[2]  Nicht erkannt wird von den mehr kultur- als sozialkritischen Stimmen, die vor einer Amerikanisierung warnen, dass auch der alte keynesianische Wohlfahrtsstaat Ausbeutung bedeutete und nicht zuletzt von den ihm unterworfenen Subjekten kritisiert und abgelehnt wurde – wenn auch in letzter Instanz der sozialstaatliche Kompromiss von oben aufgekündigt wurde und damit sozialstaatliche Freiheitsspielräume autoritär geschlossen wurden.[3]

Die linken publizistischen Kritiker dieses Alltagsbewußtseins, die vor allem den Antiamerikanismus aufs Korn nehmen wollen, drehen nun aber lediglich die Zuschreibung um und halten an der Vorstellung fest, es mit zwei unterschiedlichen – um mit Marx zu sprechen – Herrschaftsformen von Gedanken zu tun zu haben.  Der US-amerikanische, liberale Marktkapitalismus wird dem autoritären, etatistischen Kapitalismus deutscher und europäischer Provenienz entgegengestellt. In der antideutschen Variante dieses Idealismus buchstabiert sich dieser Gegensatz in deutschen Kollektivismus und US-amerikanischen Individualismus aus, wobei letzterer positiv, ersterer negativ konnotiert wird. Denn die Vorstellungen von Kollektivismus und Individualismus sind überformt von einer falschen Rezeption des Nationalsozialismus, dem ein eminent antikapitalistisches, kollektivistisches  Interesse attestiert wird.  In einem beispiellosen Syllogismus hält man nun antikapitalistischen Bewegungen wiederum die Nähe zu faschistischen Massenbewegungen vor oder - in der abgeschwächten Variante - den Sozialneid, das Ressentiment. Ähnlichkeiten dieser Argumentationsfigur mit liberalen und neoliberalen Begründungs- und Legitimationsmustern sind nicht von der Hand zu weisen, denn auch von ihnen wird das soziale Ressentiment innerhalb der sozialen Bewegungen beklagt und totalitarismustheoretisch Faschismus, Stalinismus und Wohlfahrtsstaat unter dem Stichwort des „Kollektivismus“ subsumierten, um dagegen das freie Individuum, das auf dem Markt zu sich selbst kommen könne, stark zu machen.

Während neoliberale Autoren - von Klassikern wie Friedrich Hayek bis zu heutigen feuilletonistischen Beiträgen aus dem Umfeld der Zeitschrift Merkur - diese Sozialstaatskritik unter  Bezug auf recht krude totalitarismustheoretische Denkfiguren unternehmen und dabei den westlichen Marxismus offensiv bekämpfen müssen, stützen sich die linken, antideutschen Publizisten in ihrer Affirmation des Neoliberalismus auf die Kritische Theorie. Ein Unterfangen, das nicht gelingen mag, auch wenn ein erheblicher Kraftakt an Verdrehungsleistungen aufgebracht wird. Es zeigt sich, dass  vielmehr das Räsonieren der antideutschen Marktapologeten Kritik aufgibt und in einer „Verhaltenslehre der Kälte“ (Helmut Lethen) mündet, in eine Haltung, die mit dem Satz „Die Welt aushalten lernen“ der antideutschen Zeitschrift Bahamas, zusammengefasst ist.  

Mit den liberalen USA gegen das etatistische Deutschland

Der neue Idealismus kommt in antideutschen Debatten am deutlichsten in der Beschreibung der USA als Entität zum Ausdruck, die jede historische und empirische Fundierung vermissen lässt. „Amerika“ wird in diesen scheinbar kritischen Debatten spiegelverkehrt zum Antiamerikanismus als positives Symbol gehandelt. Was den Antiamerikanern ein Gräuel ist, die vermeintlich mit den USA verbundene Dekadanz, der Liberalismus, der Individualismus, der „Materialismus“, ist den antideutschen Idealisten im Vergleich zum etatistischen Deutschland nicht nur das kleinere Übel, sondern eine Positivfolie. Die USA stehen für Anti- wie Pro-Amerikaner in diesem Sinne für „puren“ Kapitalismus, wobei von den Subjekten abstrahiert wird und die Widersprüche kassiert werden. Während die einen den mit dieser historischen Erscheinungsform des Kapitalismus verbundenen Individualismus als gemeinschaftszerstörend geißeln, hofieren die anderen diesen Individualismus als eminent befreiende Macht.  Die Dichotomie Deutschland versus USA wird so ausbuchstabiert zu Markt vs. Staat, Liberalismus vs. Etatismus, Offenheit vs. Geschlossenheit, - und in der spezifisch antideutschen Lesart: normaler Kapitalismus vs. pathologisches Krisenbewußtsein.  

Dan Diner, Professor für Neuere Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem und Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, hat diesen Diskurs eindrucksvoll orchestriert. 1993 veröffentlichte er das Buch „Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland“, damals kennzeichnete er den Pamphletcharakter dieser Schrift noch dadurch, dass sie den Untertitel „Ein historischer Essay“ trug, 2002 kam das Buch stark überarbeitet nochmals heraus, diesmal unter dem Titel „Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments“ und gilt als Sachbuch. In einem auf die Ereignisse des 11. September gemünzten Nachwort unter dem programmatischen Titel „Apologie Amerikas nach dem 11.September“ schreibt Diner: „Die Offenheit Amerikas für Neuankömmlinge folgt der Geltung des Primats der Freiheit auf Kosten einer sozial regulierten Gleichheit. Hingegen zieht die Eigenheit des europäischen Sozialstaates, der zudem noch Nationalstaat ist, verschiedene gesellschaftlich relevante Anwartschaften nach sich. Wer welche Ansprüche erheben darf und wer nicht, ist in Geschichte und Tradition beziehungsweise in den sich daraus herleitenden Institutionen verankert. Solche Gemeinwesen sind daher notwendigerweise eher exklusiv. Amerika indes vermag als Einwanderungsland seine Institutionen wie sein Selbstverständnis nur dann offen zu halten, also inklusiv zu sein, solange es im Prinzip dem Wert der Freiheit vor dem der sozialen Gleichheit Vorrang gewährt. Akzeptanz und Anerkennung der Vielfalt in der Einheit war Amerika also in die Wiege gelegt worden.“

Frappierend sind die Auslassungen, die in über-allgemeinen Begriffen wie Inklusion und Exklusion stecken. Detlef Hartmann hat herausgestellt, wie ein solcher Diskurs die reale Klassenkampfgeschichte der USA zum Verschwinden bringt.[4] Im Beschwören der auf Freiheit und Inklusion beruhenden USA wird vergessen gemacht, auf welche Art und Weise das Aufsaugen fremder Arbeitskraft im Einwanderungsland USA historisch vonstatten ging. Die amerikanische Inklusion hatte vor allem eine repressive Seite, wenn die militanten Arbeiterkämpfe der Einwanderer betrachtet werden, die vor und im Zuge des Ersten Weltkriegs unter den Parolen des Amerikanismus blutig niedergeschlagen wurden.[5] Der Imperativ, Amerikaner zu werden, hieß für die neu eingewanderten Arbeiterinnen und Arbeiter, Akzeptanz der als amerikanisch bezeichneten Werte, Pünklichkeit, Fleißigkeit und Duldsamkeit. Seit Antonio Gramscis Untersuchung des Amerikanismus und den operaistischen Kritikern tayloristischer Arbeitsweisen und seit den religionssoziologischen Schriften zur protestantischen Ethik von Max Weber ist bekannt, dass diese aggressiven Ethiken zur Phase des Fordismus gehören. Auch ein Blick auf die aktuelle Wirklichkeit der US-amerikanischen Gesellschaft würde hinter dem idealtypischen Bild Diners anderes erkennen: Das Grenzregime zu Mexiko lässt sich schwerlich auf den Nenner der Inklusion bringen, der Industrial Prison Complex, in dem eine klar beschreibbare Gruppe der US-amerikanischen Gesellschaft, nämlich schwarze Männer, auf ganz eigenwillige Art inkludiert werden, die von Saskia Sassen und Mike Davis nachgezeichnete Segregation und  und in Ausgrenzung und Sicherheitswahn sich ergehende Stadtentwicklung, die Folgen der Terrorgesetzgebung nach dem 11. September – all das verschwindet in der Anrufung des freiheitlich, inkludierenden Mythos von Amerika.

Doch diese historischen und empirischen Belehrungen geht an der eigentlichen Diskursstrategie Diners vorbei, bereits die Diskursanordnung - Exklusion und europäischer Sozialstaat auf der einen, USA und freiheitliche Inklusion auf der anderen Seite – machen die Intention des Autors deutlich. Abschied von der zu ächtenden Exklusion heisst folgerichtig Abschied vom europäischen Sozialstaat.[6]

Wenden wir uns nun denen zu, die Diners Perspektive durchaus teilen, ihn an Radikalität aber noch zu überflügeln trachten. Die antideutsche Zeitschrift bahamas verkündete unter dem Titel „Auf nach Amerika!“: „In den USA liegt offen zutage, was den Kapitalismus konstitutiv ausmacht. Da alle ihr Geschäft offen betreiben, bleibt wenig Raum für deutsche Projektionen. Es besteht in den USA einfach kein Grund, den Krisen- und Katastrophencharakter das Kapitals zu exterritorialisieren und entsprechend personalisiert nach außen zu projizieren.“[7]

Auch hier würde es naheliegen auf die antisemitischen Wellen der 20er, 30er oder der 50er Jahren aufmerksam zu machen, auf die gesellschaftlichen und von staatlicher Seite geschürten Ängste vor der roten und gelben Gefahr und die sozialpsychologischen Mechanismen, die nach dem Schock des 11.September in den USA um sich gegriffen haben.Doch worauf diese Behauptung abzielt, ist ebenso schnell durchschaut. Das Begriffspaar Inklusion/Exklusion wird in diesem Fall noch um die Dichotomie normaler Kapitalismus hier, pathologische Krisenverarbeitung dort erweitert, um Anschlüsse an linke Debatten über den Charakter des Nationalsozialismus zu ermöglichen. Der Nationalsozialismus wurde in avancierten Faschismustheorien als ein aus der Krise von 1929 entstandener Krisenstaat dargestellt. Dabei wird der Antisemitismus in Anschluss an die Kritische Theorie als Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung begriffen, als falsche verkehrte Form, der Krise der bürgerlichen Gesellschaft mittels autoritärer Rebellion und projektivem Ausagieren der gesellschaftlichen Ängste Herr zu werden.[8] Diese im Kern richtige Diagnose wird nun von Seiten der idealistischen Antideutschen auf Dauer gestellt und Deutschland unter Rückgriff auf eine unhistorische „Völkerpsychologie“ stets eine solche Krisenverarbeitung attestiert, während die USA zum liberalen Gegenbild werden. Der von Sinclair Lewis kritisch gemeinte Satz „It can't happen here!“ wird von den antideutschen und liberalen Apologeten der USA ganz unkritisch für bare Münze genommen.

Diese Argumentationsfiguren, die dem US-amerikanischen Kapitalismus stets Offenheit attestieren, den Sozialstaat alt-europäischer Prägung die Exklusion vorhalten, oder in der Variante von bahamas, einen „Kapitalismus pur und normal“ skizzieren, während auf der anderen Seite ein zur pathologischen Krisenverarbeitung neigendes Gemeinwesen gegenüber gestellt wird, sind gleichzeitig politische Optionen. Es gilt „den Amerikaner“ als letzten Bürger gegen den deutschen Anti-Bürger zu retten und als kommunistisches Programm auszugeben. „Die letzten Feinde der Bürger sind selber die letzten Bürger – aber garantiert nicht die Kollektivmonaden deutscher Provenienz“, schließen die Autoren der bahamas.

Der neoliberale Schwenk weg vom „deutschen oder europäischen Weg“ des Sozialstaats müsste demzufolge begrüßt werden. Abschied vom europäischen und deutschen Sozialstaat und seinen „Kollektivmonaden“ scheint somit nicht nur eine Frage der demokratisch-freiheitlichen Inklusion zu sein, sondern auch einem angemessenen Programm der präventiven Verhinderung pathologisch-nationalsozialistischer Krisenverarbeitung zu entsprechen.  

Hartz IV als exklusiv deutsches Programm?

Es wäre nicht das erste Mal, dass mit originär linken Argumenten neoliberaler Politik das Wort geredet wird.[9]  Die Zitate von bahamas aus dem Jahr 2002 hätten eine emphatische Bezugnahme auf die Responsibilisierungsstrategien rot-grüner Prägung erwarten lassen. Der Self-made-Man, der sich nun auf dem Markt behauptet soll - war er nicht das Leitbild einer antideutschen Kritik an den typisch deutschen „Kollektivmonaden“? Doch das Einstimmen in den Pro-Hartz-Chor blieb aus. Aber warum und mit welcher Begründung? 

Hartz IV wird nicht als ein Modell rezipiert, dass sich in die Strategien der neoliberalen Workfare-Programme einpasst, sondern Hartz IV wird als exklusives deutsches Modell bezeichnet, das im Unterschied zu anderen Worfare-Programmen, wie die US-amerikanischen oder britischen New-Labour-Propramme, eine spezifisch etatistische und irrationale Seite beinhalte. Die Arbeitsbeschaffungsprogramme, die mit Hartz IV intendiert sind, aber auch die Responsibilisierung des Individuums, wird in eine nazistische Kontinuitätslinie gestellt und den anderen neoliberalen Programmen, die sich angeblich am alten Liberalismus orientieren, gegenübergestellt.    

Hartz IV stärke gerade das falsche Kollektiv und schwäche den Tatmensch des Marktes, behaupteten die antideutschen Autoren und nur so gelingt es ihnen, nicht in den Chor des neoliberalen Mainstreams zu verfallen. Der fundamentale Sozialstaatsumbau am Standort Deutschland sucht zwar empirisch nachweisbar an den internationalen Trend des Neoliberalismus Anschluss, von Seiten der bahamas und anderer Antideutscher wird jedoch der „Reform“-Politik in Deutschland eine Exklusivität angedichtet. Dabei wird gerade verkannt, dass sich in den Diskussionen um die Neuanpassung der Sozialpolitik am Arbeitsmarkt auf angelsächsische sozialpolitische Diskussionen bezogen wird. Die Richtlinien eines aktivierenden, neoliberal ausgerichteten Sozialstaats wurden nicht umsonst im Schröder-Blair-Papier vom Juni 1999 festgelegt. Eine genaue Untersuchung der speziell deutschen Traditionslinien von Hartz und der allgemeinen beschäftigungsorientierten Sozialpolitik von „Welfare to Workfare“ ist bislang noch ein Desiderat geblieben. 

Antideutsche Autoren geben aber all zu schnelle Antworten auf diese Frage, so zum Beipiel Uli Krug, Autor der Berliner Zeitschrift bahamas: "(D)er homo Hartz IV (hat) nicht – wie unterstellt – mit „ökonomischer Eigenverantwortung“ zu tun; die wird ihm ja nach wie vor verwehrt ... Der Begriff der Eigenverantwortung bedeutet in deutscher Tradition, in der Hartz IV ohne jeden Zweifel steht, genau das Gegenteil des Wortsinnes, genau das Gegenteil seiner erzliberalen Konnotationen: Da bedeutet es, daß einer, wiewohl momentan arbeitslos, mittels geschicktem Verkauf seiner Arbeitskraft auf eigene Faust sein Glück suchen soll, dann aber auch das – viel wahrscheinlichere – Unglück auf eigene Faust zu verkraften hat. In Deutschland hingegen solle das Glück eines Arbeitslosen ausmachen, seine Arbeitsbereitschaft auch für eine „sinnvolle“ Tätigkeit einzusetzen (etwa bei der Caritas für eine Aufwandsentschädigung von 2 Euro je Stunde). „Sinnvoll“ ist nämlich dabei, was für die „Gemeinschaft“ sinnvoll ist, denn schnödes Geld allein macht ja bekanntlich nicht glücklich. Der individuelle Einsatz der Arbeitskraft ist somit nicht in das Ermessen des Einzelnen und seines Egoismus gestellt, sondern ihm wird ein wesentliches, staatlich gesetztes Kriterium vorgegeben. Individuelle Verantwortung bedeutet nicht, wie es selbstverständlich sein sollte: für jeden individuell etwas anderes, sondern ist die zeitgemäße Formel für die vom Kollektiv geforderte Zwangsverpflichtung."[10]

Läßt sich Dan Diners idealistisches Bild der offenen Geschichte der USA kaum halten, wenn es mit der Geschichte der Klassenkämpfen konfrontiert wird, so lässt sich Krugs Exklusivitätsthese schon bei einfacher Überprüfung der Fakten nicht halten. Die Programme des Workfare als ein Bestandteil der aktuellen beschäftigungsorientierten Sozialpolitik kommen unter dem Banner der „Modernisierung“, der „sozialen Inklusion“ und der Stärkung der Eigenverantwortung daher, teilweise auch in ganz direktem Hinblick auf die älteren, historischen Vorläufermodelle in den USA oder in England. Das bisherige sozialstaatliche „Modell Deutschland“ gilt in den Debatten um die segensreiche Wirkung von Workfare als rückwärtsgewandt und unflexibel. Sozialstaatskritik dieser Art kann sich als fortschrittlich und modernistisch verkaufen, allemal in Deutschland, wo der Sozialstaat auf Bismarck zurückgeht und mittlerweile, wie im weiteren ausgeführt, von interessierter Seite  ins Licht nationalsozialistischer Sozialpolitik getaucht wird. In avancierter Form will die neoliberale Kritik des Sozialstaats gerade mit alten Traditionen brechen, Traditionen in die Hartz IV in irriger Weise von den Antideutschen gestellt wird.

Antideutsche Stimmen behaupten desweiteren, dass die Workfare-Programme in den USA auf den Ersten Arbeitsmarkt bezogen sind, also einer ökonomischen Zweckrationalität folgen, während es in Deutschland um Arbeit als Selbstzweck, Arbeit als Ideologie geht. Dies ist wieder die Figur, wonach in den USA zweckrationale, auf den Markt bezogene Arbeitsmarktpolitik vorherrsche, wogegen in Deutschland Irrationalismus und deutsche Ideologie grassiert, vor allem Ideologien einer Ehre der deutschen Arbeit. Auch diese Gegenüberstellung entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ausgemachter Humbug. Das viel zitierte und u.a. vom hessischen Ministerpräsident Koch in Deutschland bekannt gemachte Wisconsin Works-Projekt, ist zum einen kein zweckrationales Einsparungsprogramm, sondern eines der teuersten und aufwendigsten Beschäftigungsprojekte überhaupt, dessen einziger Zweck die lückenlose und totale Arbeitsverpflichtung und Mobilisierung der sozialhilfeempfangenden Bevölkerung ist. Zum anderen ist die auch ökonomisch zweckgerichtete Vermittlung auf den Ersten Arbeitsmarkt für dieses US-amerikanische Arbeitsbeschaffungsprogramm gar nicht erklärtes Ziel, vielmehr stehen gesellschafts- und familienpolitische Erwägungen hinter diesem Workfare-Programm. Der Arbeitsmarkt in den USA ist bereits aufgrund der länger anhaltenden neoliberalen Politik, aber vor allem wegen einer  stärkeren Einwanderung mit ihren Unterschichtungseffekten und vor dem Hintergrund eines stark konkurrenzsorientierten Dienstleistungsbereichs stark aufgefächert. Dagegen sind die hiesigen Workfare-Strategien mit der direkten politischen Absicht verknüpft, über den steigenden Druck auf die Hilfeempfänger den Druck auf die unteren Erwerbseinkommen zu verschärfen. Der ideologische und irrationale Eigenwert der Arbeitsbeschaffungsprogramme scheint also in den alten Kernländern der neoliberalen Konterrevolution in erheblich stärkerem Maße vorzuliegen.[11]  Rigide Ansätze zur Verhaltensregulierung kulminieren in den Versuchen, Welfare-Schwangerschaften zu ächten und eine „verantwortliche Lebensführung“ zu propagieren. Ist das das erzliberale Programm, das Krug emphatisch und ideal-typisch gedacht vor Augen hat ? Oder stellt es nicht vielmehr „Freiheit, Gleichheit, Bentham“ (Marx) dar? Spätestens hier müsste die US-amerikanische Wirklichkeit mit dem von antideutscher Seite propagierten Hedonismus kollidieren, den sie mit ihrer Affirmation des Neo-Liberalismus verknüpft sehen will.

Es ist erstaunlich, wie schnell die Erkenntnis ins Vergessen gerutscht ist, dass die neoliberal-konservative Revolution, die im Westen mit Margarete Thatcher und Ronald Reagan zwei prominente politische „Charaktermasken“ (Marx) auf den Plan brachte, von Anfang an verbunden war mit der aggressiven Propagierung traditioneller Werte, vor allem traditionelle Familienwerte, und mit einer irrationalen und ideologischen Arbeitsethik.  

Während ihr falscher historischer Analogieschluss und die falsche Exzeptionsthese die antideutschen Autoren noch davor schützt, in den Hartz IV-Chor einzustimmen, finden sie über ihre Kritik an der Bewegung der Arbeitslosen Anschluss ans neoliberales Denken. Der Unterschichtung des Arbeitsmarktes wird im Namen des freien Individuums das Wort geredet: „Eigentlich müsste sich ihr Protest gegen die Wiederauflage des Reichsarbeitsdienstes richten und rückhaltslos die kritisieren, die am Modell des gespaltenen Arbeitsmarktes ein Interesse haben: an der Sozialpartnerschaft in den großen Betrieben und dem bewussten, kalkulierten Ausschluss der anderen. Wenn das passieren würde, würde sich zwischen den Gewerkschaften und den so genannten Sockelarbeitslosen ein sehr fundamentaler Interessensunterschied ergeben... Was für eine wundervolle Vorstellung wäre es, einmal eine Demo mitzuerleben, auf der nicht mit, sondern gegen Verdi Hartz IV in seiner deutsch-sozialdemokratischen Kontinuität angeprangert würde; oder, wenn einmal eine Gruppe junger Arbeitsloser die Abschaffung des Berufsbeamtentums und das Ende der generationellen Abschottung des „ersten Arbeitsmarktes“ fordern würde.“ Das kommt auf den ersten Blick libertär daher und vermeintlich kann sich diese Forderung auf eine linksradikale Gewerkschaftschaftskritik und eine Kritik der Sozialpartnerschaft beziehen. Doch tatsächlich wird im Jargon der Unternehmerverbände über Tarifkartelle geklagt, wegen denen angeblich die Arbeitslosen ausgeschlossen bleiben. Die Arbeitslosen sollen nun die Hochburgen der Arbeitermacht aufknacken, der nach außen abgeschottete Arbeitsmarkt soll geöffnet werden, gefordert wird also in klassisch liberaler Manier die Unterschichtung des ersten Arbeitsmarktes selbst. Das ist im Kern ein neoliberales Argument, das an einem Strang zieht mit den neuen europäischen und auch deutschen Workfare-Programmen: über Workfare soll nämlich niedrig-entlohnte Arbeit auf dem Ersten Arbeitsmarkt erwirkt werden. Der ökonomische Zweck der Aganda 2010 und ihrer Praktiken ist gerade die vielbeschworene Lohnabstandsgrenze zwischen Sozialhilfe und unteren Einkommen deutlich weiter nach unten drücken zu können.[12] Wenn Krug fordert, dass Arbeitslose ihre partikulare Situation gegen die partikulare Situation der Lohnabhängigen stellen, so wird durchaus ideologisch am „kleinlichen Konkurrenzneid“ (Marx) angesetzt und gleichzeitig den Interessen der Unternehmerverbände das Wort geredet.   

Die Strategie des Neid-Diskurses  

Innerhalb des neoliberalen Diskurses gibt es einen prononcierten Neid-Diskurs und dieser wird durch die realen Folgen und Praktiken neoliberaler Politik weiter angeheizt. Erinnert sei nur an die Hängematten- und Faulheits-Debatte, die die rot-grüne Reform-Politik begleitet haben, die hochgradig ressentimentgeladene Verdammung der unteren Klassen, die sich angeblich dem „Glück ohne Verdienst“ (Horkheimer) hingeben würden, wie der in mehreren Folgen der BILD-Zeitung stigmatisierte „Florida-Rolf“. Auch die geforderte Reform des Beamtenrechts wird begleitet von einer Ressentiment-Kampagne, weiss doch Arbeitgeberpräsident Hundt, dass „sie uns alle zu viel kosten“ und Bundeskanzler Gerhard Schröder durfte sie auch schon mal ganz populistisch gestimmt als „faule Säcke“ bezeichnen. In dem Kampf um gesellschaftliche Hegemonie musste allerdings das Ressentiment, der soziale Neid, durch die Apologeten des Neoliberalismus auf die andere Seite verbannt werden. Bereits der Soziologe Helmut Schoek hat die Neid-Thematik aufgegriffen und populärwissenschaftrlich bearbeitet.[13] Demnach schürten marxistische und sozialistische Kritiken am Kapitalismus den Neid der Menschen am Reichtum der Unternehmer. Diese Behauptung steht auf recht schwachen Füßen. Jeder der sich mit Marx auch nur ansatzweise auseinandergesetzt hat, sieht, dass es sich bei Marx' Hauptwerk  um eine Kritik des Kapitalismus und eine kritische Darstellung der klassischen politischen Ökonomie handelt, die eben gerade nicht das Ressentiment mobilisieren will.

Sowohl von pro-liberalen Autoren, als auch von antideutsch inspirierten Publizisten werden nun aber die Verlierer und Gegner kapitalistischer Globalisierung unter Ressentimentverdacht gestellt – wobei es schon des öfteren vorkommt, dass Hamas, Al Quaida und die globalisierungskritische Bürgerbewegung Attac gleichermaßen als Ausdrucksformen des „barbarischen Antikapitalismus“ bezeichnet werden.[14] Mit dieser Politik der Verdächtigung stehen antideutsche Autoren nicht allein. Auch im atlantizistischen, rechts-liberalen Milieu um die Zeitschrift Merkur ist diese Diskursanordnung jüngst eingeübt worden. Rousseau, Antonio Negri, die Antiglobalisierungsbewegung und Arundata Roy werden alle auf den gleichen Nenner gebracht: sie sind anti-liberal. In dem Sonderheft „Kapitalismus oder Barbarei?“ von 2003 sah Jörg Lau im Antikapitalismus das Fortleben einer „sehr deutschen Ideologie“, um mit einem Lob der Entfremdung zu enden und die Plessnersche Verhaltenslehre der Distanz zu propagieren.[15] Mariam Lau sekundierte im gleichen Heft mit einem Beitrag, in dem sie den Antiliberalismus von rechts – Werner Sombard, Carl Schmitt, Ernst Jünger – für tot erklärte, während sie ihn über die Frankfurter Schule bei den Linken auftauchen sieht: „...auf dem Umweg über die Frankfurter Schule und die Rezeption der Schriften Antonio Gramscis und Louis Althussers erstarkte, mitten im Kalten Krieg, ein Antikapitalismus, der seine moralische Legitimation nicht mehr über die ganz offenkundig ausbleibende Verelendung der Massen bezog, sondern über Horkheimers Diktum vom Faschismus als einer Art Vollendung des Kapitalismus.“ Die Verdammung des angeblich linken Antiliberalismus, die Abrechnung mit der Kritischen Theorie und eine intellektuelle Fundierung der liberalen Ideologie verlangte ein Folgeband, der Ende 2004 unter dem programmatischen Titel „Ressentiment!“ erschien.[16] Hier wird der  eigene Herrenzynismus, mit dem man die Folgen der kapitalistischen Globalisierung ackselzuckend quittiert, in Anlehnung an Nietzsche als produktiv auszuweisen, das Ressentiment der Verlierer jedoch als proto-faschistisch und rückständig markiert. Totalitarismustheoretisch werden alle Massenbewegungen unter dem Stichwort des Ressentiments vereint: „Das soziale Ressentiment  war ein wichtiges Movens bei allen Massenbewegungen und Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt im nationalsozialistischen Kontrollstaat“. Die Herausgeber fragen, was dem Ressentiment entgegenzuhalten wäre und geben die recht dunkle Antwort: „Vielleicht die absolute Akzeptanz der sinnlichen wahrnehmbaren Welt“.  Auch hier findet natürlich im atlantizistisch gestimmten Merkur die Dichotomie von USA und Europa, denn die liberale Akzeptanz wird vertreten von „dem Westen“ und der US-amerikanischen Gesellschaft, der man konstatiert, dass „das Ressentiment eine geringere Rolle spielt als im durchsäkularisierten Europa“.[17]

Der Ressentiment-Band beginnt mit einer Ressentiment-Projektion. Eine Verkehrung, die man bereits aus der älteren Neid-Debatte kennt. Das eigenen Ressentiment gegenüber der Kritische Theorie[18] wird dadurch rationalisiert, indem die Kritische Theorie selbst als Ressentiment-Kritik dargestellt wird. Für Thomas E. Schmidt und Norbert Bolz ist die Kritik von Adorno und Horkheimer „das Beispiel ressentimentgeleiteter Kulturkritik im 20. Jahrhundert“. Adorno ist für Bolz ein Ressentimentkritiker, weil er das Leiden als Ausgangspunkt der Erkenntnis nahm und tatsächlich das Ganze als Falsches kritisieren wollte. „Das Ressentiment kritisiert, und zwar die Welt in toto“, behauptet Bolz ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es gerade das partikulare Nörgeln ist, das das Ressentiment ausmacht. Verachtenswert ist für Bolz die intellektuelle Hilfestellung, die die Kritische Theorie der Studentenbewegung gab, ihr ging es nach Bolz darum, am Leiden der anderen mitzuleiden – nicht als Selbstzweck oder aus Empathie, sondern wegen des „Trotzgenusses des Abweichenden“. „Heute ist die Kritische Theorie tot, aber die Ressentimentkritik hat überlebt. Sie will richten und versteckt sich geschickt hinter der Rhetorik der Gerechtigkeit. (...) Das gilt für die alten Achtungdsechziger genauso, wie für die mittelalterlichen Umweltschützer und Feministinnen, aber auch für die jungen Globalisierungsgegner.“ Besonders die dem grün-alternativen Milieu entwachsene tageszeitung nahm in einigen Beiträgen diese Denkfiguren auf und in einer lobenden Besprechung der zwei Sondernummern des Merkur  schreibt Jan-Hendrik Wullf:  „Im Hinblick auf die Montagsdemos fragt man sich allerdings, ob die Kritische Theorie vor allem in der DDR gelesen worden ist.“[19]  

Ehrlicherweise erfolgt diese pro-kapitalistische Hymne auf die Welt, die mit Globalisierung, Markt und Arbeitslosigkeit nun mal ist, wie sie ist, auch in aggressiver Abkehr, ja einer fast schon rituellen Hinrichtung der Kritischen Theorie. Denn gerade die frühe Kritische Theorie durchschaute diesen Herrenzynismus der Liberalen, die Ideologien der intellektuellen „happy few“ (Adorno/Horkheimer). „Diese Ordnung, in der Proletarierkinder zum Hungertod und die Aufsichtsräte zu Festessen verurteilt sind, erweckt in der Tat Ressentiment.“, schrieb Max Horkheimer in Dämmerungen, nicht umsonst eine der frühsten Raubkopien von 68.  Die Reflektionen des Sozialisten und Kritikers Horkheimer „Zur Lehre vom Ressentiment“ geben so auch den passendsten Kommentar zu der nietzscheanisch anmutendenen Ressentiment-Kritik des Merkur ab: „Ein feiner Trick: das System zu kritisieren soll denen vorbehalten bleiben, die an ihm interessiert sind. Die anderen, die Gelegenheit haben, es von unten kennenzulernen, werden entwaffnet durch die verächtliche Bemerkung, daß sie verärgert, rachsüchtig, neidisch sind. Sie haben 'Ressentiment'.“[20]      

Kritische Theorie und Sozialstaat 

Frühe Kritische Theorie eignet sich nicht zur Legitimation, sondern zur Kritik der zuweilen anthropologisch hergeleitete Ungleichheit, die der Neoliberalismus produziert und diskursiv zu rechtfertigen hat. Verwunderlich also, dass auf einer Frankfurter Arbeitstagung im Juli 2003 anlässlich des 100. Geburtstages von Theodor W.Adorno Christoph Türcke die Philosophie Adornos als eine „Philosophie der Deregulierung“ darstellte.[21] Das Individuum, der Künstler, der Einzelne sei positiver Bezugspunkt Adornos gewesen und die Kritik galt dem autoritären Staat, der für Adorno gleichermaßen das Gesicht des amerikanischen New Deal – also des modernen Wohlfahrtsstaates -, des  Stalinismus und des Nationalsozialismus annahm. Und auch unter antideutschen Publizisten besteht das Bedürfnis, ihre neoliberalen Positionen mit Verweis auf die Kritische Theorie zu begründen.

Bei aller Kritik der repressiven Formen des Wohlfahrtsstaates – vor allem auch der kulturindustriellen, kam die Kritische Theorie keiner neoliberalen Polemik gegen den Sozial- und Wohlfahrtsstaat gleich. Solidarität und befreite Gesellschaft können sich nur einstellen, wenn sich das Individuum auch von den stummen Zwängen des Markes und der Konkurrenz befreit hat, erst dann ist voll entfaltete Individualität nach Adorno und Horkheimer möglich. Die behauptete Kompatibilität der Kritischen Theorie mit neoliberalen Ideologien ist nur möglich, wenn Adornos Klassenbezug, sein Marxismus und Materialismus aus seinem Gesamtwerk und seiner Kulturkritik ausgetrieben wird.

Selbst da, wo Adorno der Kritik der autoritären Verleugnung des Individuums im repressiven Wohlfahrsstaat verpflichtet war, sei an Adornos Diktum erinnert, dass Theorie nie zeitlos sein darf und immer einen historischen Wahrheitskern aufweist. Vielleicht ist in einiger Hinsicht die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers als Kritik des autoritären Keynesianismus zu betrachten und müsste für eine Kritik des Neoliberalismus selbst weitergedacht werden.[22]

Um so interessanter ist es, dass in der Schrift der 68er Bewegung und der Kritischen Theorie gleichermaßen, nämlich in Marcuses „Eindimensionaler Mensch“ Erhellendes zum Neoliberalismus und Neokonservativismus zu lesen ist:

„Die Kritik des Wohlfahrsstaates im Sinne des Liberalismus und Konservativismus (ob mit dem Präfix 'Neo-' oder nicht) stützt sich in ihrer Gültigkeit auf das Vorhandensein eben der Bedingungen, über die der Wohlfahrtsstaat hinausgegangen ist – nämlich auf eine niederere Stufe des gesellschaftlichen Reichtums und der Technik. Die finsteren Aspekte dieser Kritik treten offen zutage im Kampf gegen eine umfassende Sozialgesetzgebung und angemessene Regierungsausgaben für andere Zwecke als solche militärischer Verteidigung. So dient die Denunziation der unterdrückenden Fähigkeiten des Wohlfahrtsstaates dazu, die unterdrückenden Fähigkeiten der Gesellschaft vor dem Wohlfahrtsstaat zu schützen.“[23]

Marcuse liefert bei aller Fundamentalkritik der damaligen Gesellschaft und ihrer erstickenden Intergrationsleistungen eine Kritik im Sinne einer „bestimmten Negation“, die noch fähig ist, die schlechte Aufhebung des repressiven Wohlfahrsstaates mitzudenken und gedanklich zu antizipieren. Die neoliberale Wohlfahrsstaatskritik sieht von der allgemeinen sozialen Konstitution von Unterdrückung ab, und geht gerade in der Kritik beispielsweise der Sozialgesetzgebungen auf einen älteren, der Steigerung der Produktivkräfte unangemessenen Zustand von Gesellschaft zurück. Die Macht des Ganzen über das Individuum, und dazu gehört der Markt, wird von neokonservativer Seite einseitig dem Wohlfahrtsstaates angelastet.  

Desavouierung des Antikapitalismus und die Renaissance Hayeks

Der Hinweis darauf, dass der Faschismus und Nationalsozialismus als Kritiker des Liberalismus auftraten und der Liberalismus ein Hauptgegner des NS war, also auch den Antipoden zur repressiven Vegemeinschaftung darstellen würde, macht die moralische Schubkraft der antideutschen und der neoliberalen Argumentation gleichermaßen aus.  Doch die Beschreibung einer vermeintlichen Frontstellung von Liberalismus und Totalitarismus bzw. Faschismus hat Herbert Marcuse 1934  in seiner Schrift  „Der Kampf gegen den  Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“ kritisiert und darauf aufmerksam gemacht, dass die antiliberalen Agitatoren und die liberalen Apologeten den Liberalismus weitgehend als Weltansschauung präsentieren und von den ökonomischen und sozialen Strukturen des Liberalismus abstrahieren.[24] Der  Liberalismus und Totalitarismus werden als konkurrierende „Weltanschauungen“ und die Auseinandersetzung abermals in den Lüften der reinen Ideen und Gedankenkonfigurationen belassen. Doch genau die soziale Struktur weist erhebliche Ähnlichkeiten zum frühen Faschismus und Nationalsozialismus auf.  Marcuse macht auf Ludwig von Mises aufmerksam, der sich als Liberaler durchaus von der Herrschaft Mussolinis in Italien begeistert zeigte, wobei er versäumte anzufügen, aus welchen Gründen dies wohl geschah. Mussolini war  keineswegs ein Gegner von Individualismus und Kapitalismus. In seiner „Jungfernrede“ im Parlament am 21.Juni 1921 verkündete er: „Die wirkliche Geschichte des Kapitalismus beginnt jetzt. (...) Der kollektivistische Staat, den die Erfordernisse des Krieges erzwungen haben und den wir geerbt haben, muss abgeschafft werden. Wir müssen zum manchesterianischen Staat zurückkehren.“[25]

Dennoch wäre es überspannt, aus der Mussolini-Begeisterung von Ludwig von Mises eine Verbindung von Liberalismus und Faschismus zu konstruieren. Der bekannte Mises-Schüler Friedrich August von Hayek beispielsweise war ein dezidierter Antitotalitärer und liberaler Antifaschist.[26] Denn Hayek rezipierte den  Faschismus und Nationalsozialismus als antikapitalistische Bewegungen, als Bedrohung für sein idealtypisches Bild des Liberalismus. Der Faschismus ist für Hayek eine genuin sozialistische Bewegung, die im Antiliberalismus der Bismarckära und im „Kathedersozialismus“ ihre Wurzeln hat. Unter gewissem Blickwinkel kann man Hayek als ersten Antideutschen bezeichnen. Für ihn war „Deutschland das Zentrum, von dem die totalitären Ideen, die die Welt im 20. Jahrhundert regieren sollten, nach Ost und West“ ausgingen. Er sprach darüber hinaus von „sozialistischen Wurzeln des Nationalsozialismus“.  Deutschland galt Hayek als der Geburtshelfer alles Antiliberalen und Totalitären, von allem, was das Individuum an seiner Entfaltung behindern könnte.

Über eine stark verkürzte Rezeption der Thesen von Moshe Postone zum nationalsozialistischen Antisemitismus als verkürzter „Antikapitalismus“ hat sich die Rede vom Nationalsozialismus als „Antikapitalismus verselbstständigt.[27] Die Verlierer der „Globalisierung“ tendieren in ihrer Kritik des Kapitalismus nach rechts und zum Antisemitismus. Diese Haltung, die über alle Bewegungen „from the bottom up“ einen antitotalitären Bannstrahl verhängt, verabschiedet sich auch von der alten Kritischen Theorie: „Fast scheint es so, als müsse das Diktum Horkheimers, vom Faschismus solle schweigen, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, erweitert werden: Vom Kapitalismus solle ebenso schweigen, wer vom Antikapitalismus nicht reden wolle.“[28] Was als spielerische Ergänzung daherkommt ist eine geschickte und interessierte Verdrehung der Intention des frühen Horkheimer: mit Verweis auf einen „barbarischen Antikapitalismus“ - ein geflügeltes Wort innerhalb der antideutschen Szene - , soll der Kapitalismus als kleineres Übel präsentiert werden. Faschismus wird als genuin sozialistische bzw. antikapitalistische Bewegung begriffen, der tendenziell in einem antagonistischen Verhältnis zum Kapitalismus steht. Mit dieser Behauptung schließen sich aber die ehemals linken Autoren  dem Liberalen Friedrich Hayek mit seiner interessegeleiteten Gleichsetzung von Faschismus und Antikapitalismus an. Doch auch in dem klassenunspezifischen Gebrauch des Individuum-Begriffs finden sich deutliche Übereinstimmungen mit antideutscher Individuums-Emphase, die die Klassenunterschiede im Post-Faschismus aufgehoben sehen will und meint, sich darin auf Adornos Begriff der „klassenlosen Klassengesellschaft“ berufen zu können  und das Individuum gegen die post-faschistischen Zustände verteidigen will.[29] 

Wollen die Antideutschen heutzutage mit ihrer Affirmation der Hegemonialmacht USA am Weltmarkt festhalten[30], so wollten die alten Liberalen am schönen Schein des freien Marktes trotz aller fundamentalen Krisen des kapitalistischen Weltsystems wie 1929 festhalten. Der liberale Anti-Kollektivismus und Anti-Totalitarismus war damit auch gegen jede Form von Staatsinterventionismus gerichtet. Hayeks Begriff des freien Individuums ist freilich eine leere mystische Abstraktion, die Klassenunterschiede, die Unterschiede zwischen Eigentümern und Nichteigentümern schlichtweg negiert. Wird vom Antagonismus und den Klassenkämpfen abstrahiert, kann folglich auch der Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus nicht genetisch erklärt werden und auch die Geburt des italienischen Faschismus aus dem Terror gegen streikende Arbeiter und rebellierende Bauern muss ausgeblendet sein. Faschismus darf nicht als das erscheinen, was er auch war: eine präventive Konterrevolution, deren Gegner die sozialistische Bewegung, der Marxismus und die klassenbewußten Arbeiter waren.

Dem Irrationalismus der völkischen Nazi-Bewegung wird von Liberalen wie Hayek die instrumentelle Vernunft des Marktes entgegengehalten. Marcuse wie die gesamte ältere Kritische Theorie gaben hier freilich eine andere Antwort und machten auf die dialektische Verschränkung von Liberalismus und Gegen-Aufklärung aufmerksam. Unmöglich könne man „den im Irrationalismus auslaufenden liberalistischen Rationalismus“ gegen seinen scheinbaren Gegner verteidigen. Marcuse hob hervor, wie die Übergänge von Liberalismus und Antiliberalimus vonstatten gingen, wie der Liberalismus besonders in der ökonomischen Krise den „total-autoritären Staat“ aus sich „erzeugt“.[31]

Eine weitere Folge liberaler Faschismustheorien ist eine aus dem Massencharakter des NS hergeleitete Verachtung der Massen. Auch die kritische Theorie des westlichen Marxismus hat den NS als Massenbewegung dargestellte. Wilhelm Reich arbeitete als erster die „Massenpsychologie des Faschismus“ heraus und alle Arbeiten aus dem Umfeld des Frankfurter Instituts zeigten sich für diesen Aspekt hochsensibel, auch wenn mit Walter Benjamin immer festgehalten wurde, dass die Massen nur zu „ihrem Ausdruck“, „beileibe nicht zu ihrem Recht“ kamen.[32]  Für die liberale These hat diese Beobachtung allerdings eine Vielzahl von hochgradig antidemokratischen Konsequenzen. In Anschluss an Alexis de Tocqueville wird behauptet, dass die Demokratie gegen die „Tyrannei der Mehrheit“, vor den Massen geschützt werden muss - gegen die Lehre von der Volkssouveränität, damit aber auch gegen die Ursprungsideale Amerikas, was als weitere Illustration dienen könnte für Marcuses Anspielung, dass die Praxis des Liberalismus seine Ideale aushöhlt. Mit der Wendung gegen die Volkssouveränität geht eine elitäres Demokratieverständnis einher, das schließlich auch den Elitarismus früher Propagandisten des Neoliberalismus begründen half. Doch die Massenverachtung  ist nur scheinbar anti-nazistisch, so findet sich in den Schriften des führenden Juristen des NS, Carl Schmitt, auch eine scharfe Kritiken am Prinzip der Volkssouveränität.

In der deutschen Diskussion findet neuerdings ganz dem liberalen Anti-Totalitarismus entsprechend ein neuer Diskurs Einzug. Vom Historiker Götz Aly wurde in einem Interview mit der Berliner tageszeitung[33] der NS als deutscher Sozialstaat bezeichnet. Götz Aly unterstellt dem Nationalsozialismus, in Deutschland mehr Chancengleichheit gewagt zu haben und attestiert ihm dieses als ernsthaftes Anliegen, das in einem „sozialen Appeasement“ gemündet sei. „Die Massenzustimmung wurde mit Mitteln der Umverteilungspolitik erreicht: mit sozialer Wärme. Die belohnte die Deutschen, wie wir wissen, gerne. Damals ging es zu Lasten anderer Völker. Heute geht sie über die Verschuldung zu Lasten der nächsten Generationen.“

Adorno brachte rückblickend diese Politik wie folgt auf den Punkt: „Ungezählten schien die Kälte des entfremdeten Zustands abgeschafft durch die wie immer auch manipulierte und angedrehte Wärme des Miteinander; die Volksgemeinschaft der Unfreien und Ungleichen war als Lüge zugleich auch Erfüllung eines alten, freilich von alters her bösen Bürgertraums.“ Doch bei Aly bleiben die Verbindungen zum Bürgertum gekappt, es ist „das Soziale“ das dem NS attestiert wird. Allein in der Begrifflichkeit „die Deutschen“ ist zum Erlöschen gebracht worden, warum der NS tatsächlich an gewissen sozialpolitischen Verbesserungen interessiert war und auf Umverteilung, Arisierung, relative Hebung des Volkswohlstands im leistungsrassistischen NS abstellte: Die  Perzeption einer rebellischen Arbeiterklasse, die von einem neuerlichen 1918 abgehalten werden sollte.[34]

Götz Aly selbst kommt aus einer kritischen Historikerschule, die früher den Klassencharakter des NS herausstellte und die die fein säuberliche Scheidung von bürgerlicher und nationalsozialistischer Sozialpolitik nicht mittrug, weil sie Momente der bürgerlichen Sozialpolitik, -medizin und -pädagogik in zugespitzter Form im Dritten Reich erkannte.[35] Dieser kritische Analyserahmen wurde von Aly jedoch aufgegeben, um totalitarismustheoretisch nun das Soziale im Nationalsozialismus für bare Münze zu nehmen und die hierarchische und selektive Sozialpolitik zu verschweigen. Die Nationalsozialistischer Volkspflege bekämpfe die Wohlfahrsstaat-Projekte der Weimarer Republik, wollte das Wohlfahrtssystem selbst überflüssig machen zugunsten einer Kontroll- und Selektionspolitik, in der die „rassisch Wertvollen“ begünstigt werden. Der Leistungsrassismus, die „Ausmerze“, die auf betrieblicher Ebene erfolgte Hierarchisierung im NS geht bei Aly unter im idyllischen Bild eines nationalsozialistischen Sozialstaats voller „Wärme“, der mit anderen staatssozialistischen Versuchen einer antiliberalen Sozialpolitik gleichgesetzt wird. Auch hier finden sich wieder zugespitzt totalitarismustheoretische Formeln: „Im übrigen ist der Begriff Arisierung mit den Begriffen Nationalisierung und Sozialisierung eng verwandt.“

So etwas wie Hartz IV, so die Pointe des Dialogs in der taz, hätte Hitler „seinen Deutschen“ nicht zugemutet, der Historiker Aly verneint und kommt nicht auf die Idee, die Absurdität dieser interessierten Frage zu bemerken.  

Von der Aufgabe der radikalen Kritik zur Verhaltenslehre 

Die in der publizistischen Linken recht stark vertretene „antideutsche“ Strömung erging sich nach dem 11. September 2001 in einer erschreckend aggressiven Form des Bellizismus, der sich in der Unterstützung des Afghanistan- und jüngsten Irak-Kriegs der USA ausdrückt und in Forderungen kulminierte, „islamische Zentren“ zu bombardieren (bahamas-Redaktion). Den Protagonisten dieser Strömung ging es hauptsächlich darum Provokationswirkung gegenüber der übrigen Linken zu entfachen. Zwei Fragestellungen und Begründungsmuster sind jedoch der älteren Bellizismus-Debatte des Zweiten Golfkrieges 1991 entlehnt: die Frage nach dem „gerechten Krieg“ und die angeführte Parallele zum Zweiten Weltkrieg. Seit Hans Magnus Enzensbergers Saddam-Hitler-Vergleich und der Wende vieler ehemaligen Frankfurter SDS-Aktivisten wie Detlef Claussen und Dan Diner angesichts des Golfkriegs 1991, sind die Appeasement- und NS-Vergleiche ein fester Bestandteil des propagandistischen Arsenals derjenigen, die auf kollaterale Befreiungsmomente der neuen imperialen Kriege spekulieren. Auffallend ist hierbei, dass auch die neokonservativen Vertreter der US-Regierung mit den gleichen historischen Analogieschlüssen arbeiten.[36]  Es scheint sich um eine spezifische Form interessierter globaler Erinnerungskultur zu handeln, an deren Ausgestaltung und Ausdeutung auch ehemalige Linke mitstricken.  Bei anti-stalinistischen Linken anderer Länder konnte nach dem 11. September 2001 ebenso eine Hinwendung zu liberalen bis neo-konservativen Positionen konstatiert werden.[37]  In dieser Perspektive sind die antideutschen Publizisten hierzulande keinesfalls ein ausschließlich deutsches Phänomen[38], vielmehr verbinden sich bei ihnen global auftretende Phänomene: linke intellektuelle Selbstaufgabe, antiislamisches und antiarabisches Ressentiment, hinter dem sich oft die konservative Furcht vor den Massen verbirgt und eine anti-totalitäre Renaissance liberaler oder neoliberaler Ideologien.

Über den Bellizismus und Neokonservativismus der ehemaligen Linken wurde schon so einiges geschrieben[39], übersehen wurde gelegentlich, dass mit dem Neocons-Denken nach außen auch ein Neocons-Denken nach innen korrespondiert. Dass dem linken Neocons-Denken, das in der Beurteilung des Irak-Krieges zum Ausdruck kommt[40],  auch eine neoliberales Denken in der Sozialpolitik entspricht, ist wenig verwunderlich. War der klassische Liberalismus zumindest idealtypisch pazifistisch, so verzichtet die neoliberale Konterrevolution ab Ende der 70er Jahre sowohl ideologisch als auch ökonomisch auf diesen Pazifismus. Dem Angriff auf die starke Gewerkschaft der Bergarbeiter in England unter Thatcher trat der den Nationalismus mobilisierende Falkland-Krieg zur Seite. Auch Reagans neoliberale Politik ist ohne die „star-war“-Kriegsökonomie nicht zu denken. Auf der Seite der antideutschen Linken korrespondiert die Aufgabe antimilitaristischer Positionen mit der Aufgabe klassisch linker Kritiken des Marktes und des Konkurrenzsubjekts. Von antideutscher Seite wurde mittlerweile die „Überlegenheit“ des Kapitalismus gegenüber „anderen Zivilisationsmodellen“, darin gesehen, dass er verstärkt „die Menschen zwingt sich als Einzelne zu vergleichen“. Die leere Abstraktion des befreiten Individuums, des sich vergleichenden Einzelnen, wird von antideutscher Seite dabei mit allerhand hedonistischer Selbstinszinierungen gefüllt[41]. Dem hilflosen Expressionismus des deformierten Massenbewußtseins, das auch in den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV zum Ausdruck kam, und dem Einklagen von mehr sozialer Wärme am Standort Deutschland[42] setzten einzelne Autoren aus dem antideutschen Spektrum eine auf das Individuum abzielende „Verhaltenslehre der Kälte“ entgegen, wie man in Anlehnung an Helmuth Lethens Untersuchung[43] der Ideologien in der Zwischenkriegszeit formulieren könnte. Die mit viel Häme inszenierte Distanz zu diesen Bewegungen spekuliert auf Distinktionsgewinn[44], einer materialistischen oder auch sozialpsychologischen Analyse von Arbeitslosenbewegungen zur Zeit der Massenarbeitslosigkeit sind sie auf jeden Fall nicht verpflichtet. Die Wendung zur zynischen Verhaltenslehre korrespondiert mit einer generellen Verschiebung linker Standpunkte. Bemerkenswert ist, dass sich in den ML-Sekten der 70er Jahre wie in der antiautoritären Linken eine unkritische „Glorifizierung des prächtigen underdog“ (Adorno) breitmachte, ab den 90er Jahren jedoch ein merkwürdig anmutender „Winner-Diskurs“ innerhalb der publizistischen Linken gepflegt wurde und den Verlierern der Globalisierung durchweg reaktionäre Krisenverarbeitungsmechanismen unterstellt wurden. Die Frage soll erlaubt sein, ob es sich hier nicht um ein nur sozialpsychologisch erklärbares Phänomen handelt, eine Art projektive Eskamation der eigenen Ängste vor dem Proletarisierungsprozess mittels des Winner-Diskurses. Nach Max Weber eignen sich Sekten bekanntermaßen besonders gut zur Einübung „kühler Sachlichkeit der Vergesellschaftung“, immerhin fehle den Sekten, die „undifferenzierte bäuerlich-vegetative Gemütlichkeit“. Weber konstatierte allerdings nach seiner Amerika-Reise 1904 auch den Propagandismus, die ethische Rigorosität und Religiosität der Sekten.[45] Diese religionssoziologischen Bemerkungen von Weber könnten auch zur Beurteilung antideutschen Sektenwesens innerhalb der Linken herangezogen werden, und es drängt sich die Frage auf, ob nicht in antideutschen Sekten wie der Gruppe bahamas oder der Initiative Sozialistisches Forum, eine ganz eigentümliche „Verhaltenslehre der Kälte“ eingeübt wird. Eine dieser Gruppen um die Zeitschrift bahamas, propagiert so auch in ihrer programmatischen Schrift mit dem Titel „Jenseits von Israel“, man solle „die Welt aushalten lernen“. Jede praktische Herrschaftskritik, jeder Aufstand und jede Auflehnung würden immer nach habhaftbaren Personen suchen und damit qua Personalisierung der abstrakten Herrschaft dem Antisemitismus gleich kommen. Ist Expropriation der Expropriateure also eine Form des Antisemitismus? Der antideutsche Jargon vom „strukturellen Antisemitismus“ lädt zu dieser Interpretation ein.[46] Anstatt zu rebellieren, so schlussfolgern die Autoren weiter,  müsse man auf die bürgerliche Psychoanalyse zurückgreifen. Praktischer Antikapitalismus wird demzufolge pathologisiert: „Der Psychoanalytiker hätte jeder Entladung der Aggression seines Patienten entgegenzutreten und stattdessen dafür zu sorgen, dass sein Patient durch die Arbeit an seiner beschädigten Persönlichkeit zu einem Individuum sich entwickelt, das die Welt aushält...“[47] In dieser Gegenüberstellung wird radikale Sozial- und Kapitalismuskritik zugunsten eines therapeutischen Ansatzes aufgegeben. Gut bürgerlich wird dem Markt, der für Differenzierung und Individuation steht, die Therapie als Gegendifferenzierung zur Seite gestellt. Damit wird aber auch eingestanden, dass das elitäre Bild befreiten Lebens, das Bild vom gefeierten hedonistischen Marktsubjekt, das in einer beispiellos neo-nietzscheanischen Wende von den ehemals linken Publizisten angerufen wird, eklatante Risse trägt.

Angesichts dieser aggressiven Anpassungsleistung, zu der antideutsche Autoren in wichtigen Organen der bundesrepublikanischen Linken aufrufen, bleibt nur der von Antonio Gramsci überlieferten Aufgabenstellung gewahr zu werden: „Man muss nüchterne, geduldige Menschen erschaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern.“  

Anmerkungen
 

[1]Luc Boltanski und Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003
[2]Zu dieser Interpretation vgl.: Holger Schatz, Arbeit als Herrschaft. Die Krise des Leistungsprinzips und seine neoliberale Rekonstruktion, Münster 2004
[3]Vgl. hierzu die Debatte zwischen der Redaktion Wildcat und Karl Heinz Roth über das Ende des keynesianischen Klassenkompromisses, in: Karl Heinz Roth (Hg.), Die Wiederkehr der Proletarität. Dokumente der Debatte, S.118-126 und 155ff. 
[4]Zur Kritik der idealistischen Geschichtsschreibung Dan Diners vgl.: Detlef Hartmann, „Unamerican“ - Über die Funktion des Antiamerikanismusdiskurses in der aktuellen Etappe des Klassenkampfes, in: Gerhard Hanloser (Hg.), „Sie warn...“, a.a.O. 
[5]Als Dokument älterer linker Debatten und als historischer Versuch, den Klassenkämfen in den USA theoretisch-empirisch gerecht zu werden, vgl.: Gisela Bock, Die andere Arbeiterbewegung in den USA von 1909-1922, München 1976
[6]Es dürfte keiner Verschwörungstheorie gleichkommen, wenn man den herrschaftsfunktionalen Diskurs von Dan Diner auch darauf zurückführt, dass er wie Joschka Fischer und andere die Wendung vom Sponti und 70er-Jahre-Radikalen zum rot-grünen Realpolitiker mitvollzogen hat. In dieser Perspektive ist Diners Bemerkung eine hochgradig politisch-korrekte Begründung rot-grüner Sozialstaats-Demontage, die sich als anti-exklusiv darzustellen vermag.
[7]Justus Wertmüller, Clemens Nachtmann, Auf nach Amerika!, Deutscher Djihad gegen den Kindermörder USA , bahamas Nr. 37/2002
[8]Vgl.: Rainer Rothermundt. Verkehrte Utopien. Nationalsozialismus, Neonazismus, neue Barbarei, Frankfurt 1980, Ulrich Enderwitz, Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung, Freiburg 1991, Gerhard Hanloser, Krise und Antisemitismus, Münster 2003
[9]Anfang der 80er Jahre erschien bei Wagenbach ein Band von Thomas Schmid unter dem Titel „Befreiung von falscher Arbeit“, hierin findet sich eine libertäre Kritik des „Versorgungs-, Staats- und Sozialbedarfs“ und ein freche, mit libertären Positionen kokettierende Apologetik von „neuem, alternativem Unternehmertum“ jenseits des gewerkschaftlichen Blocks, damals in den realpolitischen Versuchen linke Mindesteinkommensforderungen mit liberalen Vorschlägen einer Negativeinkommenssteuer zu vermählen.
[10]Uli Krug, Karl Nele, Verstaatlichung der Arbeitskraft, Hartz IV und die Kontinuität deutscher Krisenbewältigung , bahamas Nr. 45/2004
[11]Britta Grell, Jens Sambale, Volker Eick, Workfare zwischen Arbeitsmarkt- und Lebensstilregulierung. Beschäftigungsorientierte Sozialpolitik im deutsch-amerikanischen Vergleich, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft Nr. 129
[12]Vgl.: Michael Heinrich, Agenda 2010 und Hartz IV. Vom rot-grünen Neoliberalismus zum Protest, in: Prokla. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft Nr. 136
[13]Vgl.: Helmut Schoek, Der Neid und die Gesellschaft, Freiburg, Basel, Wien 1971
[14]Interessant , wenn auch nur teilweise erhellend ist die Broschüre des wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland, Globalisierungskritik und Antisemitismus. Zur Antisemitismusdiskussion in Attac, Frankfurt 2004, die die Anwürfe zu kontern versucht.
[15]Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel, (Hg.) Kapitalismus oder Barbarei?, Sonderheft Merkur, Berlin 2003
[16]Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel, (Hg.) Ressentiment! Zur Kritik der Kultur, Sonderheft Merkur, Berlin 2004
[17]Dabei gründet sich der Erfolg George W.Bushs bei den Präsidentenwahlen gerade auf dem von ihm glaubhaft vertretenen Populismus und der Mobilisierung des Ressentiment gegenüber Liberals und Ostküsten-Intellektuellen. Alle Zitate sind den Beiträgen aus dem ersten Sonderheft entnommen.
[18]In „Kapitalismus und Barbarei?“ spricht Mariam Lau vom „Revoltiergreis Marcuse“ und mokiert sich, dass Benjamins „feine Nase eines Flaneurs“ bei seiner Sowjetunionreise 1926 den „Brandgeruch“ (!) der Zwangskollektivierungen nicht wahrgenommen habe.
[19]Die tageszeitung vom 21.9.2004
[20]Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland (Hg. von Werner Brede), Frankfurt a. Main 1974, S. 55 u. 72
[21]Vgl.: FAZ vom 9.6.2003
[22]Kritische Theorie eignet sich allein wegen ihres genauen historisch-empirischen und materialistischen Untersuchungsrahmens besser dafür, aktuelle Ausformungen der kapitalistischen Gesellschaft zu kritisieren, als das über-allgemeine Begriffsinstrumentarium Foucaults, dem berechtigterweise Anschlussfähigkeiten mit neoliberalen Positionen attestiert wurde. Z.B von: Tilman Reitz, „Die Sorge um sich und niemand andern“. Foucault als Vordenker neoliberaler Vergesellschaftung, in: Das Argument 249, 2003
[23]Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Hamburg 1994, S. 70
[24]Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, in: ders., Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt a.Main 1965
[25]Zit. nach: Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004, S.320.
[26]Vgl.: Friedrich August von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München 1994
[27]In der viel rezipierten Schrift „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ hat Postone dem Vernichtungsantisemitismus im NS eine subjektiv ernst gemeinte „antikapitalistische“ Dimension zugesprochen, Moshe Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Dan Diner (Hg.) Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.Main 1988, zur Kritik: Gerhard Hanloser, Verkürzter Antikapitalismus? Zur Kritik von Postone, in: analyse und kritik 488, 15.Oktober 2004 
[28]Uwer, Osten-Sacken, Woeldike, Vorwort zu Amerika, a.a.O, S.11
[29]Vgl.: hierzu die Kritik der AutorInnen der Frankfurter Marx-Gesellschaft an der antideutschen Gruppe ISF: Jürgen Behre, Thomas Gehrig, Nadja Rakowitz, Thomas Schweier, „Ideologie der antideutschen Avantgarde. Eine Kritik theoretischer Voraussetzungen und politischer Implikationen der Positionen der ISF.“ in: Hanloser, „Sie warn...“, a.a.O.
[30]„An einem Scheitern der USA im Irak kann ernsthaft niemand ein Interesse haben, der nicht die Weltwirtschaft in Trümmern sehen will.“ Osten-Sacken, Uwer, Woeldike, in: Vorwort zu: Amerika, a.a.O.
[31]Marcuse schrieb: „Der charismatisch-autoritäre Führergedanke ist schon präformiert in der liberalistischen Feier des genialen Wirtschaftsführers, des „geborenen“ Chefs.“ aber auch Horkheimer, Autoritärer Staat, in: Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hg.) Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, Frankfurt a. Main 1984
[32]Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln, Berlin 1971, Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. Main 1963, S.48
[33]Vgl.: „Den einen der Sozialstaat, den anderen das Gas“, Interview mit Götz Aly, tageszeitung 15./16.1.2005
[34]In Anschluss an den Historiker Timothy Mason wurde des öfteren auf die permanente Revolutionsangst der NS-Führung verwiesen und auf die daraus resultierenden Versuche der materiellen Einbindung weiter Teile der deutschen Arbeiterschaft.
[35]Vgl. die auch von Aly herausgegebene Schriftenreihe Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik.
[36]Vgl.: Jeffrey Herf, Das musste sie wissen, in: FAZ 11.1.05. In diesem Beitrag kritisiert der Historiker, dass Condoleezza Rice aus den von ihm geteilten NS-Baath-Regime-Vergleichen nicht die richtige Schlussfolgerungen gezogen habe. 
[37]Vgl.: Jörg Lau, der Griff zur Fahne, in: Die Zeit 13.3.2003 – ein Bericht über New Yorker linke Intellektuelle wie Paul Berman, oder: Michael Mönninger, Intellektuelle Wirtshausschlägerei, ein Artikel über  die „neokonservative“ Wende der anti-totalitären Medienphilosophen wie André Glucksmann, in: Die Zeit 16.12.2004.   
[38]In ihren Begründungsmustern sind sie es zweifelsohne.
[39]Vgl.: Robert Kurz, Die antideutsche Ideologie, Münster 2003 und Wolf Wetzel, Vom linken Bellizismus zum anti-deutschen Befreiungsimperialismus, in: Gerhard Hanloser, „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik, Münster 2004 S.105-129
[40]Ein erhellendes Dokument ist: Thomas Uwer, Thomas von der Osten-Sacken, Andrea Woeldike (Hg.), Amerika. Der 'War on terror' und der Aufstand der Alten Welt, Freiburg 2003
[41]Justus  Wertmüller, Unter Bauern, konkret Heft 1/2002. Zu erinnern sei ebenso an den hedonistischen Ausspruch „Fanta statt Fatwa“ in der jungle World nach dem 11.September. Besonders nach dem 11. September radikalisierte sich dieser Habitus, rezipierten Antideutsche dem neo-konservativen Linken Paul Berman folgend den Islamismus als eine Form des Totalitarismus und Kollektivismus, wogegen der „persuit of happiness“ der US-Gesellschaft hochgehalten wurde.
[42]Der Ruf „Nehme jede Arbeit an!“ zeugt davon, dass die „Wiederkehr der Proletarität“ (K.H.Roth), für die die Montagsdemonstrationen auch stehen, bislang in einer hilflosen Form erfolgte. Reale Angst der Betroffenen mischt sich mit einer hilflosen und ängstlichen Politik der Gewerkschaften, die keineswegs zum Widerstand befähigt.
[43]Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. Main 1994
[44]Vgl. die in jungle World und konkret abgedruckte Schrift der Initiative Sozialistisches Forum, „Die Produktion der Panik. Hartz IV und die Nazifizierung des Subjekts“, konkret 1/2005 
[45]Max Weber, 'Kirche' und 'Sekten' in Nordamerika. Eine kirchen- und sozial-politische Skizze, in: Die christliche Welt, 24/1906 und 25/1906 und ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1988
[46]Vgl.: Gerhard Hanloser, „Struktureller Antikapitalismus“.  Zur Kritik eines Jargons, in: Grundrisse Nr.1/05
[47]Redaktion bahamas, Jenseits von Israel, in: www.redaktion-bahamas.org 2003

 

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel wurde uns vom Autor am 1.12..2005 zur Veröffentlichung gegeben.