Sicherheit rundum: Repressiv back in the seventies oder moderne Krisenverwaltung?

von Bernhard Schmid
12/05

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‚Zurück in die 70er Jahre!’ lautet das Motto. Nein, Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy (50) möchte nicht die Hippy-Szene wiederbeleben oder lange Haare wieder in Mode kommen lassen. Der Law and Order-Politiker denkt vielmehr an eine Reaktivierung der so genannten loi anti-casseurs (ungefähr: Anti-Chaoten-Gesetz), die im Jahr 1970 durch die damalige gaullistische Regierung verabschiedet worden war, um den linken Demonstrationen im Gefolge des Mai 68 ein Ende zu bereiten. Der Gesetzestext sah das Prinzip der so genannten „kollektiven Verantwortung“ vor, das ziemlich wenig mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu tun hat: Kam es am Rande von Demonstrationen zu Sachschaden oder Rangeleien mit der Polizei, so konnte egal welcher Teilnehmer dafür zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden. Ohne dass ihm eine individuelle Tatbeteiligung nachgewiesen zu werden brauchte. Das Gesetz wurde 1981, nach dem Regierungsantritt der Sozialisten, abgeschafft.

Am Dienstag (29. November) zitiert die Tageszeitung Libération Minister Sarkozy mit den Worten, eine Neuauflage „im Zusammenhang mit der Vorstadtgewalt“ sei in Vorbereitung: „Die Debatte verdient es, vor das Parlament getragen zu werden“. Bei einer 60prozentigen Sitzemehrheit für die konservative Rechte im Nationalversammlung (dem Mehrheitswahlrecht sei Dank!) und 80 Prozent im Senat bestünden am Ausgang einer solchen Debatten wenig Zweifel.

Neue Anti-Terror-Gesetzgebung

Auf einer anderen Ebene wurde bereits am selben Dienstag für mehr Sicherheit, aus staatlicher Perspektive, gesorgt. „In einem Klima des Konsenses“ zwischen den groben staatstragenden Parteien, so lautet der Tenor sämtlicher Medienberichte, wurden am Abend die Bestimmungen des neuen Antiterrorismus-Gesetzes in erster Lesung durch die Nationalversammlung angenommen. 373 Abgeordnete der konservativen Regierungspartei UMP und der halboppositionellen christdemokratischen UDF stimmten dafür, die sozialdemokratischen Abgeordneten enthielten sich der Stimme. 27 Parlamentarier der Grünen und der KP votierten dagegen.

Die herausragendste Bestimmung des neuen „antiterroristischen“ Arsenals bildet die Verpflichtung für die Server und Betreiber von Internetcafés, alle Verbindungsdaten im Internet über ein Jahr hinweg aufzubewahren; die Ermittlungsbehörden sollen freien Zugang zu diesen Daten erhalten. Dadurch soll eine eventuelle Benutzung des Internet oder der Mailkommunikation zu terroristischen Zwecken aufgespürt werden können. Gleichzeitig tut sich dabei eine Goldgrube für die Datensammelwut der Sicherheitsapparate auf. Diese Passage des Anti-Terrorismus-Gesetzes hatte erhebliche Bedenken bei der nationalen Datenschutzbehörde CNIL (Commission nationale informatique et libertés) hervorgerufen. Der Conseil d’Etat - das oberste französische Verwaltungsgericht, das im Vorfeld der Verabschiedung eines Gesetzes bezüglich seiner Rechtskonformität zu Rate gezogen werden kann – hatte ihm allerdings seinerseits Unbedenklichkeit bescheinigt. Anwaltsvereinigungen und Bürgerrechtsorganisationen wie die traditionsreiche Liga für Menschenrechte (LDH) waren gegenteiliger Auffassung.

Ansonsten sieht das künftige Gesetz, das noch vor Jahresende 2005 definitiv verabschiedet werden soll, die Ausweitung der Videoüberwachung in den öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen, aber auch an anderen öffentlich zugänglichen Stellen vor. Dabei beruft sich die Regierung auf die Erfahrungen von London nach den Attentaten vom 7. Juli – dort hatte die Videoüberwachung zwar mitnichten zur Verhinderung der Bombenanschläge, wohl aber zur raschen Identifikation der Terroristen nach der Tat beitragen können. Ferner sieht die Gesetzesvorlage vor, dass die Luftfahrtgesellschaften und andere Transportfirmen im Eisenbahn- und Schiffsverkehr persönliche Daten über ihre Passagiere erheben und an die Polizeibehörden weitergeben sollen.

Weniger umstritten war die Anhebung der Strafdrohungen für die Mitglieder von terroristischen Vereinigungen (von 10 auf 20 Jahre) und ihre Anführer (von 20 auf 30 Jahre). Diese Bestimmungen können zwar insofern Bedenken hervorrufen, als es sich um ein Organisationsdelikt handelt, das keine individuelle Tatverantwortung über die Tatsache der Mitgliedschaft hinaus erfordert. Sie riefen aber insofern weniger starke Bedenken hervor, als die Beobachter in der Regel an Gruppen denken, die durch Bombenanschläge und andere „blinde“ Gewalt gegen Zivilisten agieren. Kritikwürdiger aus Sicht der linken und liberaler Kritiker wiederum erschien die Anhebung der Höchstdauer des polizeilichen Gewahrsams – ohne Einschaltung eines Untersuchungsrichters – von vier auf sechs Tage, sofern „eine terroristische Aktion unmittelbar bevor steht“, wie der Gesetzestext formuliert. Auf Grundlage einer Prognose für die nahe Zukunft könnten so die Spielräume für polizeiliche Ermittlungen, die – zumindest  im ersten Zeitraum - keiner Justizkontrolle unterliegen, ausgeweitet werden.

Strafverfolgungen nach den Unruhen vom November

Noch erlaubt die geltende Gesetzgebung es nicht, nach dem Muster einer kollektiven Strafbarkeit durchzugreifen, die allem Anschein nach wieder in der Gesetzgebung verankert werden soll. Vieles deutet aber darauf hin, dass die insgesamt 3.000 Personen, die während der dreiwöchigen Riots in den französischen Banlieues im November festgenommen wurden, oft recht wahllos herausgegriffen worden sind.

Auch in öffentlichen Radiosendern wie France Info sprechen Berichte davon, man habe einfach alle Umstehenden mitgenommen und erst hinterher, im Polizeigewahrsam, zwischen „mutmablichen Straftätern“ und Anderen sortiert. Dies hängt sicherlich auch mit der Polizeitaktik während der Unruhen zusammen. Damals wurde Innenminister Nicolas Sarkozy – glaubt man der Wochenzeitung Le Canard enchaîné vom 9. November – durch die Angst geplagt, es könne zu einer „neuen Affäre Malik Oussekine“ kommen. Der Student dieses Namens war im Dezember 1986, am Rande einer Demonstration von Oberschülern und Studenten, durch Polizisten zu Tode geprügelt worden. Daraufhin waren die Proteste gegen den damaligen Innenminister Charles Pasqua und den seinerzeitigen Premier – einen gewissen Jacques Chirac – erst recht aufgeflammt, nachdem es ein offenkundig unschuldiges Opfer gegeben hatte. Um Tote bei Zusammenstöben zwischen der Polizei und Jugendlichen, die auf seiner politischen Karriere hätten lasten können, zu vermeiden, hatte Sarkozy den ihm unterstellten Polizeieinheiten eine entsprechende Strategie verordnet: Direkte Konfrontationen sollten möglichst vermieden werden, stattdessen sollten bei Vorfällen – brennenden Autos, Anzünden von Gebäuden – im Nachhinein die mutmablich Beteiligten eingesammelt werden. Deshalb auch kam es zu verhältnismäbig wenigen Strabenkämpfen zwischen Ordnungskräften und Jugendlichen, jedenfalls auberhalb von Clichy-sous-Bois, dem Ausgangsort der Unruhen. Kleine Gruppen von jungen Leuten handelten stattdessen nach dem hit-and-run-Prinzip, und die Polizei ihrerseits nach der Devise, dass an bestimmten Orten am besten alle verdächtig Aussehenden hinterher einzusammeln seien.

Die folgenden Anklagen stützen sich oftmals auf fragwürdige oder vage Aussagen von Polizeizeugen, ohne weitere Beweismittel. 729 Volljährige wurden in Schnellverfahren dem Strafrichter vorgeführt, weitere 577 Jüngere erschienen vor dem Jugendrichter. Nach einer Zählung der Boulevardzeitung Le Parisien waren bis zur letzten Novemberwoche bereits 422 Volljährige rechtskräftig verurteilt, oft in Blitzprozssen. In vier Fünfteln der Fälle handelt es sich um Haftstrafen ohne Aussetzung zur Bewährung. Justizminister Pascal Clément gibt an, systematisch von dem ihn unterstehenden Staatsanwälten Urteile ohne Bewährung verlangt zu haben.

Die Zusammensetzung der Angeklagten und Verurteilten widerlegt dabei einige vorgefasste Urteile und Behauptungen. So stimmt die während der Riots durch Sarkozy und den nationalen Polizeidirektor Michel Gaudin (in Le Monde vom 16. 11.) aufgestellte Behauptung, „80 Prozent“ der Teilnehmer seien vorbestraft – weshalb man es mit „kriminellen Strukturen“ zu tun habe – offenkundig nicht. Die Staatsanwälte der Pariser Trabantenstädte Bobigny und Créteil, wo allein über ein Drittel der Prozess stattfanden, geben den Anteil der Vorbestraften mit nur 15 Prozent bei den Volljährigen an. Unter den Minderjährigen ist ein etwas gröberer Anteil (25 Prozent) „polizeibekannt“ – aber oft als Opfer in Misshandlungsprozessen, so berichtet ein Jugendrichter in Libération. Wie Staatsanwalt François Molets in Bobigny erklärt, sprechen die bisherigen Erkenntnisse aus den Prozessen im Übrigen gegen jede Organisierung der Riots, weder durch Islamisten noch durch „Mafiagruppen“, wie vielfach behauptet worden war:

Fast alle Verurteilten haben unmittelbar an ihrem Wohnort gezündelt. Die Wohnorte und die Örtlichkeiten, wo die jungen Straftäter aufgegriffen wurden, liegen dicht beieinander. In jenen Stadtteilen, wo es verfestigte Strukturen – organisierte Kriminelle oder Islamisten – gibt, ist es im Übrigen während der Riots zumeist ruhig geblieben“.

Denn diese hatten natürlich kein Interesse daran, die Polizei in die entsprechenden Quartiere zu locken. Der ursprünglich in einigen Medien, wie der Boulevardzeitung France Soir und dem rechtsauben stehenden Wochenmagazin Valeurs actuelles, aufgestellten Mutmabung, islamistische Gruppen hätten im Hintergrund die Riots organisiert, fehlt offenkundig jede Grundlage. Inzwischen wurde diese Behauptung auch durch den Chef des Inlandsgeheimdienst DST (Direction de surveillance du territoire), Pierre de Bousquet, im Interview mit Valeurs actuelles vom 18. November klar dementiert:

Ich kann Ihnen mit Bestimmtheit sagen, dass wir zu keinem Zeitpunkt eine Beteiligung religiöser Fundamentalisten an diesen Störungen der Ordnung bemerkt haben. (...) Man muss sich davor hüten, die aktuellen Unruhen durch ein konfessionnelles Raster zu interpretieren.

In ähnlicher Weise äuberte sich der Leiter der Renseignements Généraux (RG), der Staatsschutzabteilung der französischen Polizei, Pascal Mailhos, im Interview mit Le Monde vom 25. November.

Die Verurteilungsstatistiken widerlegen ferner auch die Annahme, dass es allein oder hauptsächlich Immigranten(kinder) gewesen seien, die an den Riots beteiligt waren. Im Grobraum Paris waren es zwar überwiegend Einwandererkinder der zweiten und dritten Generation – aber nicht überall sieht es so aus. Am Gericht der nordfranzösischen Regionalhauptstadt Lille waren, einem ausführlichen Bericht in Libération vom 18. November zufolge, mindestens zwei Drittel der Angeklagten „weib“ und trugen französische oder flämische Familiennamen.

Die höchste Strafe im Zusammenhang mit den Riots wurde gegen einen jungen Mann aus dem nordfranzösischen Arras verhängt, der mit Namen Jérémy Van Gendt heibt und aus einer – wenn man so möchte – Einwandererfamilie aus dem unmittelbar benachbarten Belgien stammt. Er wurde, obwohl nicht vorbestraft, wegen der von ihm verursachten Inbrandsetzung eines Möbellagers (ohne Gefahr von Personenschaden) zu weit überdurchschnittlichen vier Jahren ohne Bewährung verdonnert. Offenkundig wird jedenfalls einmal mehr, dass die Riots mitnichten ein „ethnisches“, sondern ein soziales Problem ausdrückten. So sind zwar im Grobraum Einwandererfamilien weit überdurchschnittlich von den sozialen Krisenphänomenen – wie Zerrüttung der Familien, Ghettoisierungstendenzen und Jugendgewalt – betroffen, da die Migranten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als „Puffer auf dem Arbeitsmarkt“ (so eine 1999 publizierte Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts CSERC) benutzt wurden. Das bedeutet, dass sie zeitlich als Erste von Massenentlassungen und einer extremen Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse getroffen wurden, um die französischen Arbeitskräfte noch ein paar Jahre länger schützen zu können. Im nordfranzösischen Ex-Industrierevier beispielsweise stellen sich die Verhältnisse aber anders dar, da hier noch im späten 20. Jahrhundert ein geschlossenes Arbeitermilieu – das aus „Weiben“ und Einwanderern aus den früheren Kolonien gleichermaben bestand – existierte, dessen Angehörige, unabhängig von ihrer Herkunft, in die soziale Krise abrutschten. Dies machte sich dann auch bei den jüngsten Jugendunruhen bemerkbar.

Verschärfung der Ausländergesetze

Seitens der konservativen Politik bevorzugt man jedoch eindeutig eher eine „ethnisierende“ Interpretation der Unruhen und ihrer Konfliktursachen. In diesem Zusammenhang wird nunmehr eine erneute Verschärfung der Ausländergesetzgebung angestrebt. Bereits am 16. November hatte der Vorsitzende der UMP-Parlamentsfraktion, Bernard Accoyer, als Antwort auf die Unruhen angeregt, das bestehende Recht auf Familienzusammenführung für (legal in Frankreich) lebende Immigranten auf den Prüfstand zu stellen.

Am Dienstag, 29. November stellten die führenden Regierungsmitglieder im Rahmen des, in dieser Legislaturperiode eingerichteten, „interministeriellen (ressortübergreifenden) Ausschusses zur Kontrolle der Einwanderung“ (CICI) neue Mabnahmen zur Verschärfung der Gesetzgebung gegenüber in Frankreich lebenden Ausländern vor.

So sollen mit Franzosen oder Französinnen verheiratete Ausländer/innen erst nach vier Jahren den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft beantragen können. Dieses Recht auf Übernahme der französischen Staatsangehörigkeit war dereinst automatisch gewesen, die konservative Rechte hatte es unter dem einstigen Innenminister Charles Pasqua mit einer Mindestfrist von zwei Jahren versehen. Diese Frist wird jetzt von zwei auf vier Jahre verlängert - wenn die Gesetzesvorschläge durch die Regierungspartei UMP umgesetzt werden – seitens der Regierung ist bereits angekündigt, entsprechende Gesetzesbestimmungen sollten noch im Laufe der ersten Jahreshälfte 2006 verabschiedet werden.

Natürlich darf die Ehe nach diesen vier Jahren noch nicht in die Brüche gegangen sein, was staatsanwaltlich überprüft werden wird. Seit dem neuen Einwanderungsgesetz, das Innenminister Sarkozy im November 2002 verabschieden lieb, können die Staatsanwälte bereits „gemischte“ Eheschlüsse zwischen französischen und nicht-französischen Staatsangehörigen überprüfen und vorab, falls in ihren Augen der Verdacht auf eine „Scheinehe“ besteht, hinauszögern. Doch parallel dazu stieg die Anzahl der „gemischte“ Eheschlüsse im Ausland an, die der französische Staat – kraft der Anerkennung der Gesetze anderer Staate – bisher respektieren musste. Zukünftig soll den französischen Konsularbehörden im Ausland in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Kontrollfunktion zugesprochen werden. Der Konsul soll die zukünftigen Ehegatten „anhören“ können, und im Falle eines Zweifels seitens der französischen Behörden wird die Staatsanwaltschaft im westfranzösischen Nantes – wo viele ausländerpolizeiliche Funktionen behördlich konzentriert worden sind – Einspruch gegen die Anerkennung des Eheschlusses auf französischem Boden erheben können. In diesem Falle kann nur ein durch die frisch Verheirateten erzwungener Entscheid eines französisches Richters dafür sorgen, dass ihre Ehe im Inland als rechtmäbig gilt.

Auch die Bedingungen für die Familienzusammenfährung werden restriktiver ausgestaltet. Bisher konnte ein legal in Frankreich niedergelassener Einwanderer, sofern er bestimmte gesetzliche Bedingungen erfüllte - er muss etwa über hinreichenden Wohnraum und ein ausreichendes Einkommen zur Versorgung der Familienangehörigen verfügen – nach zwei Jahren den Ehepartner oder die Ehepartnerin sowie die gemeinsamen Kinder an seinen Wohnort nachziehen lassen. Diese Frist soll jetzt auf zwei Jahre verlängert werden.

Premierminister Dominique de Villepin kündigte daneben an, „die Einhaltung des gesetzlichen Verbots der Polygamie“ solle durch die Behörden streng überprüft werden. Das ist ohnehin seit 15 Jahren der Fall, aber das Scheinproblem der Polygamie war während der jüngsten Unruhen durch konservative Spitzenpolitiker zur angeblichen Hauptursache der Riots hochstilisiert worden. Die Mehrehe ist in Frankreich seit langem gesetzlich verboten, das Bestehen polygamer Familien wurde jedoch bis vor etwa 15 Jahren noch durch die französischen Behörden faktisch toleriert, solange die Eheschlüsse im Ausland vorgenommen worden war (im Namen der Anerkennung ausländischen Rechts). In den letzten 15 bis 20 Jahren haben sich jedoch die französische Gesetzgebung und das Vorgehen der Behörden verändert, und es wird nicht weiterhin Toleranz in diesen Belangen geübt. Nunmehr geht man auf juristischer Ebene davon aus, dass entsprechende polygame Heiraten, auch wenn sie im Ausland vorgenommen wurden, gegen grundlegenden Bestimmungen französischen Rechts verstoben und daher keine Anerkennung finden können. Die Polygamie befindet sich auf dem Rückzug und soll nach amtlichen Schätzungen noch circa 20.000 Familien (besonders schwarzafrikanischer Herkunft) betreffen. Sie dürfte kaum geeignet sein, auch nur ansatzweise eine Erklärung für die Banlieue-Problematik zu liefern. Es dürfte erheblich mehr gebürtige Franzosen weiber Hautfarbe geben, die juristisch mit einer Dame verheiratet sind und faktisch mehrere schwängern, als im klassischen Sinne polygam lebende Einwanderer. Der französische Starkoch Paul Bocuse brüstet sich in einem längeren Interview mit dem konservativen Wochenmagazin L’Express (vom 17. 11.) selbst damit, sein ganzes Erwachsenenleben hindurch mit drei Frauen zusammen gelebt zu haben, seiner Gattin und zwei festen Geliebten – und der Mann wird in der Zeitschrift als toller Hecht behandelt, nicht als barbarischer Frauenunterdrücker. Aber wehe, wenn er Senegalese gewesen wäre.

Die aktuelle Agitation bürgerlicher Spitzenpolitiker war im übrigen sogar der rechten Boulevardzeitung France Soir zu viel, die ihre Titelseite vom 17. November übertitelte:

Polygamie, Unruhen: Die absurde Erklärung“.

Schlieblich sollen weiterhin ausländische Studierende in Frankreich aufgenommen werden; das Land ist derzeit, mit rund 50.000 Studenten aus dem Ausland pro Jahr, nach den USA und Grobbritannien, das drittgröbte Aufnahmeland für Akademiker im Zuge ihrer Ausbildung. Aber künftig soll noch stärker darauf geachtet werden, dass nur die Allerbesten kommen, die Elite. Die Kandidaten für ein Studium in Frankreich sollen bereits im Ausland, in sechs neu zu eröffnenden Zentren, nach Noten und „ihrem Projekt“ ausgewählt werden. Bisher erhielten Bewerber für eine Ausbildung an einer französischen Universität eine Chance in Frankreich, sofern sie durch die Hochschulen akzeptiert wurden - aber soweit sie keine Erfolge in ihrem Studium vorweisen konnten, wurden ihre einjährigen Aufenthaltstitel nicht verlängert und sie selbst auber Landes gewiesen.

Als generelle Philosophie der künftigen Gesetze in diesem Bereich benannte Sarkozy am Dienstag in der Nationalversammlung den Gedanken: „Wir wollen jene nicht mehr, die man nirgendwo anders auf der Welt haben will“ - also die Kategorie der Überflüssigen. Vor allem aber zog er am Nachmittag desselben Tages im Senat, dem parlamentarischen „Oberhaus“, einen direkten Zusammenhang zu den jüngsten Ereignissen: Die illegale oder unkontrollierte Einwanderung „schafft eine zerrissene, ghettoisierte Gesellschaft. Sie trägt so dazu bei, Hass und Gewalt auf unserem Staatsgebiet zu produzieren. Die Vorstadtgewalt, die wir einige Wochen lang erlebt haben, sind eine traurige Illustration dafür.“ Dabei zitiert die linksliberale Tageszeitung Libération vom Mittwoch einen Berater von Premierminister Dominique de Villepin mit den Worten:

Unter den Personen, die infolge dieser Ereignisse (der Unruhen) festgenommen worden sind, sind 7,5 Prozent Ausländer, und ein winziger Anteil unter ihnen hat keinen gültigen Aufenthaltstitel.

Anders ausgedrückt: 92,5 Prozent der Beteiligten sind Kinder der französischen Gesellschaft und ihrer Probleme, ob ihre Vorfahren nun aus der Auvergne oder aus Algerien eingewandert sein mögen.

„Positive Rolle des Kolonialismus“: Die regierende Rechte lässt nicht locker

Noch im Zusammenhang mit einem weiteren Gesetz haben Mitglieder der regierenden Konservativen das Gespenst der Vorstadtgewalt beschworen.

Am Dienstag, 29. November (wiederum) debattierte die französische Nationalversammlung auch über einen Antrag der Sozialdemokraten, der forderte, eine Passage in einem Gesetzestext vom 23. Februar 2005 nachträglich zu entschärfen. Das damals verabschiedete Gesetz hat die Regelung der Interessen von ehemaligen Kolonialfranzosen und Teilnehmern an den Kolonialkriegen, sofern sie im Zuge der Entkolonialisierung geschädigt wurden, zum Gegenstand. Zunächst hatte die Vorlage kein gröberes Aufsehen hervorgerufen, da sie eher rein materielle Entschädigungsfragen zu behandeln schien, die kaum zu Polemiken führten. Wie die Öffentlichkeit erst im Nachhinein bemerkte, hatten Teile der regierenden Konservativen – vor allem ihr kolonialnostalgischer Flügel – im Laufe der Parlamentsdebatte weitaus brisantere Bestimmungen im Nachhinein in den Text eingefügt.

Besonders umstritten war und ist der Artikel 4 des Gesetzes, der die Forscher und die Lehrer in ihrem Unterricht dazu verpflichtet, „den positiven Beitrag der französischen Anwesenheit in Übersee, insbesondere in Nordafrika, zu würdigen“. Diese „Anwesenheit“ in Nordafrika bezeichnet vor allem den französischen Siedlungskolonialismus in Algerien (von 1830 bis 1962), wo in der Schlussphase eine Million Europäer und acht bis neun Millionen Araber und Berber in einem konfessionnel überformten, brutalen Apartheidsystem lebten, unter dem sich die Rechtsstellung der Personen je nach ihrer Religionszugehörigkeit richtete. Dieses konfessionnelle Apartheidsystem räumte den Christen die vollen Staatsbürgerrechte ein, den algerischen Juden ab 1870 annähernd so viele Rechte, aber zwang hingegen den „musulmans d’Algérie“ einen weitgehend rechtlosen Status als „Eingeborene“ (indigènes) auf. Am Ende kamen im Kolonialkrieg von 1954 bis zur Unabhängigkeit des Landes, am 5. Juli 1962, anderthalb Millionen Algerier und – nach offiziellen französischen Zahlen – 30.000 Franzosen, unter ihnen über 27.000 Soldaten, um’s Leben. Allein schon dieses Zahlenverhältnis widerspiegelt die extreme Ungleichheit zwischen Kolonisierenden und Unterworfenen.

Knapp eine Million kolonialer Europäer, die so genannten Pieds Noirs („Schwarzfübe“, mutmablich so genannt, weil sie „die Fübe in Afrika und den Kopf in Europa“ hatten), verlieben ab 1962 das nordafrikanische Land. Dort blieben aber zunächst auch rund 200.000 Europäer freiwillig zurück, die keineswegs massakriert wurden, wie die Ausreisenden ihrerseits befürchteten; ihre Zahl hat sich aber später, unter anderem aufgrund der massiven wirtschaftlichen Probleme des unabhängigen Algerien, nach und nach verringert. Diese „Pieds Noirs“ leben heute vor allem in Südfrankreich, von Perpignan und Nizza, und bilden dort eine einflussreiche politische Lobby. Ihre Stimmen teilten sich traditionell vorwiegend zwischen der bürgerlichen Rechten und dem rechtsextremen Front National auf. In jüngerer Zeit ist allerdings erstmals eine Entideologisierung dieses Milieus, und eine spürbare Entkrampfung im Verhältnis zu Algerien – wohin eine wachsende Zahl ehemaliger Algerienfranzosen seit kurzem reist – zu verzeichnen. Den Hardlinern innerhalb dieses „Vertriebenenmilieus“, um deren Zustimmung Konservative und Rechtsextreme wetteifern, zwar zweifellos die Verabschiedung des Gesetzes vom 23. Februar mitsamt seinem Artikel 4 zugedacht. Um ihn gab es auch bereits zwischenstaatliche Spannungen im französisch-algerischen Verhältnis. Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika kritisierte ihn am 8. Mai dieses Jahres (dem Jahrestag des Zehntausenden Algeriern vom 8/ Mai 1945 in Sétif, Kherrata und Guelma) in scharfen Worten, und drohte mit einer Verschiebung der Unterzeichnung des umfassenden Freundschaftsvertrages, der zwischen beiden Ländern geplant ist.

 Am 29. 11. weigerte sich die UMP-Mehrheit der Abgeordneten in der Nationalversammlung, den umstrittenen Artikel 4 des Gesetzes wieder abzuschaffen – auch wenn die konservativen Parlamentarier zugleich eifrig und entgegen dem Wortlaut versicherten, es könne sicherlich nicht darum gehen, „eine staatlich fixierte Geschichtsschreibung“ zu definieren. Dabei fiel auch das Argument, das der konservative Abgeordnete von Nizza – einer Hochburg der Pieds Noirs -, Lionnel Luca, so formulierte:

Dieses Gesetz abzuschaffen, ist unmöglich und undenkbar. Sie würden die Glut wieder anheizen“.

Damit meinte er, das Feuer der Unruhen, die er vor allem mit Immigrantenkindern in Zusammenhang bringt, werde wieder entzündet. Verschiedene Abgeordnete der Sozialdemokraten, der KP und der christdemokratischen UDF hatten das Argument allerdings genau umgekehrt benützt: Ein Eingeständnis, der Kolonialismus habe für die ihm unterworfenen Bevölkerungen auch – und vor allem – negative Aspekte gehabt, setze „ein Zeichen der Beruhigung“.

Am Ende votierten 183 konservative Abgeordnete für Nichtbefassung mit dem sozialdemokratischen Antrag und damit gegen die Abschaffung des Artikels 4, und 94 Parlamentarier unterschiedlicher Couleur votierten im gegenläufigen Sinne. Die linksliberale Tageszeitung Libération titelt am 30. November provozierend: „Y’a bon colonies“ (ungefähr: „Kolonien viel gut“), unter Anlehnung an eine frühere rassistische Werbung für ein Schokogetränk, in der eine Karikatur eines Afrikaners mit den Worten abgebildet ist „Y’a bon, Banania“. In einem Leitartikel unter der Überschrift „Dumm und frech“ ist zu lesen:

Die französische Kolonisierung war, genau wie jede andere auch, eine Mischung aus militärischer Aggressivität, brutaler wirtschaftlicher Expansion, religiösem Missionseifer, kriminellem Abenteurertum und dem Bestreben nach juristischer Normalisierung (des Kolonialverhältnisses). Die Herrschaft des Rechts, und die Geltung der Menschenrechte, schloss die Eingeborenen aus.

Über das Gesetz vom 23. Februar 2005 dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, da seit dem Frühjahr zahlreiche Lehrer und Wissenschaftler gegen die „Vorschriften in Sachen Forschung und Geschichtsschreibung“ Sturm liefen. Aber das Klima scheint derzeit günstig genug für die konservative Rechte, solcherlei Widerspruch von berufener Seite vorläufig zu ignorieren.

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel wurde uns vom Autor am 30.11.2005 zur Veröffentlichung gegeben. Die Erstveröffentlichung erfolgte bei TELEPOLIS.