16.10. 1854 Prag-17. 10. 1938
Amsterdam; bedeutender Ökonom, Historiker und Publizist der
deutschen Sozialdemokratie und der II. Internationale; später
ging er auf zentristische Positionen über und rechtfertigte den
Verrat des Opportunismus an der Arbeiterbewegung.
K. besuchte von 1864 bis 1866 das
Gymnasium des Benediktinerklosters in Melk (Österreich) und
studierte von 1874 bis 1878 in Wien Geschichte,
Nationalökonomie, Philosophie und Jura. 1875 trat er als Student
der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs bei und
schrieb zahlreiche Artikel in sozialdemokratischen Zeitungen.
Von 1880 bis 1882 war K. in Zürich Mitarbeiter des Verlegers und
Publizisten Karl Höchberg (1853-1885). Um diese Zeit wandte sich
K. dem Marxismus zu und machte sich zunächst in engem
Gedankenaustausch mit August Bebel, Wilhelm Liebknecht und
Bernstein mit den Zielen der deutschen Sozialdemokratie
vertraut. Ab 1881 beeinflußte seine Bekanntschaft mit
Marx, vor allem aber mit Engels, lange Jahre seine
Entwicklung. K. war 1882 Mitbegründer der theoretischen
Zeitschrift der Sozialdemokratie »Die Neue Zeit« und bis 1917
ihr Chefredakteur; er machte sie zur führenden marxistischen
Zeitschrift der II. Internationale. Zwischen 1885 und 1890 lebte
K. in London. In dieser Zeit und in den 90er Jahren leistete er
in engem Zusammenwirken mit Engels als marxistischer
Propagandist Bedeutendes. In diesen Jahren wurde er zu einem
anerkannten Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie. 1910
bildete K. in der deutschen Sozialdemokratie die Gruppe des
Zentrismus. Seit dieser Zeit trat er offen gegen den
revolutionären Marxismus auf. Er verstand, nicht das Wesen und
die Aufgaben der Diktatur des Proletariats. Nach dem Sieg der
Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland bis zu
seinem Tod führte er eine Gegenpropaganda zur UdSSR. 1917 schloß
sich K. der USPD an. Nach dem Verrat an der Novemberrevolution
und der Vereinigung der Minderheit der USPD mit den
Rechtssozialisten auf dem Parteitag 1922 in Nürnberg gehörte er
zum rechten Flügel der SPD und betätigte sich als
antikommunistischer Publizist. Ab 1924 lebte er in Wien und
emigrierte 1938 in die Niederlande.
Auf politökonomischem Gebiet ist
besonders seine 1887 erschienene und von Engels positiv
gewürdigte Schrift »Karl Marx' ökonomische Lehren«
hervorzuheben, mit der er wesentlich zur
Verbreitung und Popularisierung des Marxschen Hauptwerkes, des
»Kapitals«, unter der Arbeiterklasse beitrug. Bemerkenswert war
auch seine 1899 publizierte Arbeit »Die Agrarfrage«, eine
Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft.
Politökonomisch bedeutend war seine Mitarbeit innerhalb der
deutschen Sozialdemokratie im Zusammenhang mit der Ausarbeitung
des Erfurter Parteiprogramms von 1891. Er war wesentlich an
dessen Erarbeitung beteiligt und trug im Jahre 1892 mit den
Erläuterungen zu diesem Programm zu dessen Verbreitung bei.
Ende der 90er Jahre verteidigte
K. den Marxismus gegenüber dem von Bernstein geschaffenen
Revisionismus. Dieses marxistische Auftreten fand seinen
Höhepunkt in der 1899 publizierten Schrift: »Bernstein
und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik«.
Von 1905 bis 1910 brachte K. die
»Theorien über den Mehrwert« von Marx heraus. Damit entsprach er
einem/großen Bedürfnis der internationalen Arbeiterbewegung.
Allerdings wurde er mit dieser Ausgabe den Ansprüchen an eine
wissenschaftliche Edition des Lebenswerkes von Marx nicht
gerecht. K. war der irrigen Auffassung, daß den »Theorien über
den Mehrwert« ein logischer Plan und jegliche Systematisierung
fehle. Daraus ergaben sich Mängel, die in der von K. eigenwillig
vorgenommenen Veränderung der ursprünglichen Konzeption des
Werkes, in vielen entstellenden Kürzungen des Textes, in
Terminologieveränderungen und falschen
Interpretationen der Marxschen Aussagen gipfelten. Nach der
Jahrhundertwende, vor allem nach der russischen
Februarrevolution von 1905, entwickelte K mehr und mehr
zentristische Auffassungen. Er trat gegen die Linken
insbesondere gegen —» Luxemburg in der deutschen
Sozialdemokratie auf. Sein ungenügender Kontakt zur
revolutionären Praxis führte zu Beginn des ersten Weltkrieges zu
einer völligen Abkehr vom Marxismus. Er wurde Sozialpazifist und
entwickelte apologetisch-vulgärökonomische Auffassungen zum
Imperialismus. Sie kulminieren u. a. darin, daß er das Wesen des
kapitalistischen Monopols leugnete, die Politik des
Imperialismus von seiner Ökonomik trennte sowie den
Imperialismus zu einer bloßen Form der Politik des modernen
Kapitalismus verfälschte. Zugleich formulierte er eine
lebensfremde, antimarxistische Theorie des Ultraimperialismus.
Nach der Großen Sozialistischen
Oktoberrevolution wurde K. zum erbitterten Gegner der
Bolschewik! und zum wütenden Feind des Sozialismus. K. warf
Lenin und den Bolschewik; vor, sie seien »orthodox«, weil sie an
der Marxschen Lehre festhielten. Insbesondere trat K. gegen die
Lehre von der Diktatur des Proletariats auf. Ihr stellte er
seine konterrevolutionäre These von der »reinen Demokratie«
entgegen. Mit seinen sozialismusfeindlichen Publikationen in den
letzten Lebensjahren trug er zur Herausbildung und Verbreitung
des Antibolschewismus und Antisowjetismus bei.
In seinen philosophischen
Auffassungen dominierte eine eklektische
Bereinigung von Elementen des .' Materialismus und des
Idealismus. JC. entstellte in seiner letzten großen Arbeit den
dialektischen und historischen Materialismus vollkommen
und ging auf die Positionen der bürgerlichen Soziologie über.
Publikationen: Der Einfluß
der Volksver-jnehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft, Wien
1880; Karl Marx' ökonomische Lehren, Stuttgart 1887; Thomas More
und seine Utopie, Stuttgart 1888; Die Klassengegensätze von
1789, Stuttgart 1889 (später u.d.T.: Die Klassengegensätze im
Zeitalter der französischen Revolution); Der Arbeiterschutz,
besonders die internationale Arbeiterschutzgesetzgebung und der
Achtstundentag, Nürnberg 1890; Das Erfurter Programm, Stuttgart
1892; Vorläufer des neueren Sozialismus, 2 Bde., Stuttgart 1895;
Konsumvereine und Arbeiterbewegung, Wien 1897; Die Agrarfrage,
Stuttgart 1899; Bernstein und das sozialdemokratische Programm,
Stuttgart 1899; Handelspolitik und Sozialdemokratie, Berlin
1901; Die soziale Revolution, Berlin 1902; Ethik und
materialistische Geschichtsauffassung, Stuttgart 1906; Friedrich
Engels. Sein Leben, sein Wirken, seine Schriften, Berlin 1908;
Ursprung des Christentums, Stuttgart 1908; Die historische
Leistung von Karl Marx, Berlin 1908; Der Weg zur Macht, Berlin
1909; Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft,
Stuttgart 1910; Der politische Massenstreik, Berlin 1914; Die
Vereinigten Staaten Mitteleuropas, Stuttgart 1916;
Sozialdemokratische Betrachtungen zur Übergangswirtschaft,
Leipzig 1918; Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918;
Terrorismus und Kommunismus, Berlin 1919; Die Sozialisierung der
Landwirtschaft, Berlin 1919; Vergangenheit und Zukunft der
Internationale, Wien 1920; Mein Verhältnis zur USP, Berlin 1922;
Die proletarische Revolution und ihr Programm, Berlin 1922; Die
Internationale und Sowjetrußland, Berlin 1925; Die
materialistische Geschichtsauffassung, 2
Bde., Berlin 1927; Der Bolschewismus in der Sackgasse, Berlin
1930; Aus der Frühzeit des Marxismus. Engels' Briefwechsel mit
Kautsky, Prag 1935; Sozialisten und der Krieg, Prag 1937;
Erinnerungen und Erörterungen, hg. von B. Kautsky, S-Gravenhage
1960.
Literatur: W. I. Lenin:
Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, LW 28; W.
I. Lenin: Rezension. K. Kautsky, Die Agrarfrage, LW 4; W. I.
Lenin: Rezension. K. Kautsky, Bernstein und das
sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik, LW 4; W. I.
Lenin: Die Agrarfrage und die „Marxkritiker", LW 5; W. I. Lenin:
Der Zusammenbruch der II. Internationale, LW 21; Die
Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg.
von F. Meiner, Leipzig 1924; K. Renner: Karl Kautsky, Berlin
1929; B. Kautsky: Ein Leben für den Sozialismus. Erinnerungen an
Karl Kautsky, Hannover 1954; E.König: Vom Revisionismus zum
»demokratischen Sozialismus«, Berlin 1964; 'W. Holzheuer: Karl
Kautskys Werk als Weltanschauung, München 1972; F. Behrens:
Grundriß der Geschichte der politischen Ökonomie, Bd. II, Berlin
1976; Grundlinien des ökonomischen Denkens in Deutschland 1848
bis 1945, Berlin 1980; H.-J.Mende: Karl Kautsky - vom Marxisten
zum Opportunisten, Berlin 1985; Geschichte der politischen
Ökonomie. Grundriß, Berlin 1985; Philosophenlexikon, Berlin
1986.
Editorische Anmerkungen
Der Text stammt
aus: Krause, Werner; Graupner,
Karl-Heinz & Sieber, Rolf (1989). Ökonomenlexikon. Berlin: Dietz.
S. 247ff
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