Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
12/05

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II. GRIECHENLAND Zur Kapitelübersicht

1. Wirtschaftliche und soziale Entwicklung.

Die dorischen, jonischen und äolischen Stämme, die, vom Norden herkommend, sich des Südens der Balkanhalbinsel bemächtigten und dann als Hellenen oder Griechen in der Geschichte rühmlichst bekannt wurden, gliederten sich auf Grund der Blutsverwandtschaft in Geschlechter, Phratrien und Phylen. Unter ihnen zeichneten sich im Laufe der Zeit, sei es durch militärische Taten und staatswirtschaftliche Einrichtungen, sei es durch philosophische, künstlerische und politische Leistungen, die dorischen Eroberer von Lakonien (Spartaner) und die jonischen Eroberer Attikas (Athener) besonders aus. In den Annalen des Sozialismus spielen beide Völkerschaften eine erhebliche Rolle: die Spartaner und im allgemeinen die Dorier waren die Praktiker, die Athener und im allgemeinen die Jonier waren die Philosophen des Kommunismus und der gleichheitlichen Wirtschaftsordnung.

Die Hellenen trieben vorerst Viehzucht und Ackerbau und kannten weder Sondereigentum noch Städte. Wie lange dieser Zustand gedauert haben mochte und auf welche Weise er der Auflösung verfiel, wissen wir nicht. In der letzten Hälfte des 9. Jahrhunderts, in welche die endgültige Abfassung der ältesten hellenischen Dichtung — der Ilias und der Odyssee — fällt, zeigte sich schon eine Klassenteilung und eine Zersetzung der Gesellschaft. Hellas war bereits in sein Mittelalter eingetreten. Wie Plato in seinem Buche „Über die Gesetze" (3. Buch, 4. Kapitel) erzählt, bestanden in Hellas in der Zeit des Trojanischen Krieges, die Homer in jenen Dichtungen schildert, bereits Städte, und in ihnen brachen Empörungen gegen die alten achäischen Herrengeschlechter aus; überall gab es Ausweisungen, Mord und Totschlag.

Wahrscheinlich waren es Krieg, Handel und Schifffahrt, die den urgesellschaftlichen Zustand von Hellas zersetzten. Der Krieg galt in Hellas als eine Erwerbsart, wie Jagd und Fischfang. Er stand in hohen Ehren; auch die größten griechischen Philosophen: Plato und Aristoteles, konnten sich einen ewigen Frieden gar nicht vorstellen. Der Zug nach dem goldenen Vlies, sowie der langjährige Kampf gegen Troja oder um den Zugang zum Schwarzen Meer lassen den Schluß zu, daß die Hellenen sich damals schon in mittelalterlichen Zuständen befanden. Die Kolonisation hatte ihren Anfang genommen und mit ihr der Handel und die Schiffahrt. Die Dorier gründeten Kolonien in Kreta, Rhodos, Kos, sowie Knidos und Halikarnossos (im Süden der Westküste Kleinasiens). Seit etwa 750 bis 600 setzten die Hellenen ihre kolonialen Gründungen lebhaft fort; sie wurden die Erben der Phönizier. Jonische Niederlassungen entstanden an den Küsten des Schwarzen Meeres, in Sizilien, Unteritalien und Nordafrika. Im Zusammenhang mit der kolonisatorischen Tätigkeit nahm der Handel einen Aufschwung, und der Handel belebte bald die gewerbliche Tätigkeit. Die Jonier führten Töpferwaren, Schmucksachen, Wein, Kleiderstoffe und Waffen aus. Die Einfuhr nach Hellas brachte auch Edelmetalle aus den Bergwerken Lydiens, Cyperns und Spaniens. An Stelle der Naturalwirtschaft und des lokalen Tauschhandels trat die Geldwirtschaft. In der homerischen Zeit galt noch das Rind als Wertmesser und Mittel des Austausches; später wurden kupferne und eiserne Münzen geprägt; im8. Jahrhundert aber schon Gold- und Silbermünzen. Die Jagd nach Reichtum, die schon in der Homerischen Zeit sich bemerkbar gemacht hatte — Ulysses (Odys-seus) sammelte Hab und Gut auf seinen Irrfahrten—, wurde nunmehr zur Leidenschaft der Besitzenden. Die ersten, die darunter zu leiden hatten, waren die Bauern, die ausgekauft oder ausprozessiert wurden. Etwa ein Jahrhundert nach der Abfassung der Illas und der Odyssee, also im 8. Jahrhundert, hören wir den ersten individuellen Dichter, Hesiod aus Askra in Böotien, den die Überlieferung zum Kleinbauer macht, in Klagen ausbrechen gegen die Unterdrük-kung der Minderbegüterten, gegen die zunehmende Ungerechtigkeit, gegen die Übermacht der Reichen. Er beklagt in bewegten Worten das Verschwinden des goldenen Zeitalters, wo „nach eigenem Antrieb man still arbeitete am Werk mit gesegneter Habe"; auch das zweite, dritte und vierte Zeitalter verschwand, worauf das eiserne Zeitalter der Mühseligkeit und des Unheils folgte:

„Drauf — o müßte ich nicht im fünften Geschlecht
                                    daheim sein,
Stürbe zuvor schon, oder ich würde erst später ge-
                                    boren
Denn jetzt ist es ein eisernes Volk; und nimmer am
                                    Tage
Ruhn sie von Arbeitslast und Leid, ja selber die Nacht
                                    nie, —
Sündiges Volk l Dem senden die Götter beschwer-
                                    liche Sorgen.
Nicht ist der Vater dem Kind, noch das Kind dem
                                   Vater gewogen,
Selbst ein Bruder — er ist nicht lieb mehr, wie er
                                     es einst war.
Gewalt ist Recht; so verheeret die Stadt einer dem
                                     ändern.
Redliche Treue dem Eide belohnt sich nimmer, Ge-
                                     rechtigkeit,
Wohlwollen nimmer; o nein, wer Sünde verübte, des
                                     Unrechts
Tat wird Ehre gezollt.. .
Was bleibt, ist trauriges Elend
Sterblichem Erdengeschlecht — und nirgends Hilfe
                                     des Unheils!"

(Hesiod, Hauslehren oder Werke und Tage; Vers 174—201.)

Wie die Raubvögel überfallen die Starken die Guten. Auf die soeben angeführten Verse läßt Hesiod die Fabel vom Habicht und von der Nachtigall folgen:

Zur bunthalsigen Nachtigall einst sprach also der
                                      Habicht,
Wie er im hohen Gewölb sie gepackt mit der Kralle
                                      dahertrug.
Jämmerlich, weil sie so arg von gebogener Kralle
                                      zerhackt war,
Klagte sie; da begann jener in herrischer Weise:

"Törin, was schreist du? Dich hält ein weitaus Stär-
                                      kerer gefangen!
Jetzo gehst du, wohin du geführt wirst, trotz dem Ge_
                                     sange !
Wenn mir's also beliebt: — ich fresse dich, oder ent-
                                      lass' dich.
Sinnlos, wem da beliebt, mit stärkerem Feinde zu
                                      kämpfen;
Niemals sieget er ob und trägt zur Schande das Un-
                                      glück."
Also sprach der behende, der flügelausbreitende
                                      Habicht.

Hesiod ist jedoch kein Revoltierender. Er mahnt sein Volk, zur redlichen Arbeit zurückzukehren und durch sie zur Wohlfahrt zu gelangen:

Arbeit ist nicht Schande, die Faulheit bringet die
                                       Schande,
Wenn du der Arbeit dienst, dann meidet der Faule
                                       dich alsbald,
Weil du so reich; und die Tugend folgt und Ehre
                                       dem Reichtum.

Er ist kein prophetischer Straf- und Unheilsverkünder, sondern ein milder Sittenprediger, ganz im Sinne der Sprüche Salomonis.

2. Wirtschaftliche Gegensätze.

Die Sittenpredigten vermochten jedoch den Zersetzungsprozeß nicht aufzuhalten. Geldwirtschaft, Handel und Gewerbe polarisierten die hellenische Gesellschaft in Reiche und Arme. Die kleinen Landwirte gerieten in Schulden; der Zinsfuß war hoch, der Wucherer hart und die Gesetzgebung unerbittlich, denn sie war im Interesse der Besitzenden gemacht — wie dies immer geschieht, wenn aus der Gemeinschaft ein Klassenstaat entsteht. Wie trefflich ist die Betrachtung Platos über dieses Thema l In seinem Werke „Über die Gesetze" (4.Buch, 6.Kapitel erklärt er in seiner philosophisch-ruhigen Weise: „Denn da (bei der Frage über Gesetz und Verfassung) stehen wir wieder vor der großen Frage über Zweck und Absicht von Recht und Unrecht. Ist es ja doch weder Krieg noch die Tugend in ihrem ganzen Umfang, was sich die Gesetze — sagt man — als Zweck setzen müssen; sondern sie sollen nur darauf sehen, was im Interesse der jeweils bestehenden Verfassung liegt; diese soll stets am Ruder bleiben und niemals gestürzt werden, und auf die Weise sei der natürliche Zielpunkt alles Rechts am besten angegeben... Die Gesetze, sagen sie, werden in einem Staate jedesmal doch wohl von dem herrschenden Element gegeben... Also wird der Schöpfer dieser Gesetze auch jeden, der dieselben übertritt, als Verbrecher bestrafen, indem er dies als Forderung des Rechts bezeichnet." So reden die Anhänger des Klassenstaates. „Wir aber", erklärt Plato, „heißen dies keine richtigen Gesetze, die nicht vom allgemeinen Interesse des gesamten Staates gegeben sind." Im eisernen Zeitalter herrschte jedoch der Klassenstaat und die kleinen Leute hatten schwer zu leiden. Die nicht zahlungsfähigen Schuldner gerieten mit ihren Familien in die Schuldknechtschaft, die Handwerker verloren ihre Selbständigkeit, ebenso die kleinen Geschäftsleute. Neben den adeligen Großgrundbesitzern entstand eine reiche Bourgeoisie, die sich bald verschwägerten und zu einer einheitlichen besitzenden Klasse wurden. „Mit dem Schufte versippt sich der Edle und mit dem Edeln der Schuft: Habe vermischt die Geschlechter", klagt ein Dichter. Reichtum verschaffte Ehre und Macht. Zu Ende des 6. Jahrhunderts trat Hellas in die Neuzeit ein. Theognis aus Megara, ein stolzer, aber verarmter Junker, der die Plutokratie sowohl wie das untere Volk verachtete, entwarf ein Sittenbild jener Zeit. Er wirkte im dritten Viertel des 6. Jahrhunderts in Megara, das zwischen Korinth und Athen lag und wo schon um das Jahr 640 die empörten Massen über die Herden der Großgrundbesitzer herfielen und sie abschlachteten, da die überhand genommene Schafzucht zum Zwecke des Wollhandels zu umfassenden Bauernlegungen geführt hatte, wie in England zur Zeit Thomas Morus'. In seinen „Elegien und Sittensprüchen" klagt Theognis:

Nicht wirst, Plutos(1), umsonst von den Sterblichen so
                                        geehret,
Denn leicht findest du dich ab mit dem schuftigen
                                        Sinn,
Freilich, es war' am Platz, daß Reichtum hätten die
                                        Guten,
Und daß der Schuft litte, geziemte sich wohl...
                         *
Viel Unverständige schwelgen im Reichtum, wäh-
                                        rend so manchen,
Der nach dem Edelen strebt, drückender Mangel
                                        verzehrt:
Dennoch haftet an beiden die Unmacht, kräftig zu
                                        handeln, 
Denn die hindert Armut, jene das eigene Herz...
                          *
Reich sein gilt bei der Masse der Menschen als ein-
                                       zige Tugend; 
Gar nichts anderes ergibt einigen Nutzen für sie:...

Es muß den Satz jedweder bewahren im Innern: 
Reichtum gehet an Macht allem bei allen zuvor.

Nun eine Dichterstimme des trink- und liebeslustigen Anakreon, aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts :

Nicht auf Adel sieht die Liebe;
Weisheit, Tugend stehn verachtet;
Gold allein wird angesehen.
O, daß den Verdammnis treffe,
Der zuerst das Gold geliebet!
Gold — daneben gilt kein Bruder
Mehr, nicht Mutter mehr noch Vater;
Mord und Krieg ist seinetwegen,
Und wir Liebenden — das Ärgste l —
Müssen seinethalb verderben.

„Denn von dem Menschengeiste ward dem Geld gleich Nichts Arges mehr ersonnen. Städte kehrt es um Und treibt die Menschen flüchtig aus den Wohnungen; Mit arger Lehre wandelt es den Männersinn, Daß sich der Edle zu der Schmach des Bösen kehrt; Zu jeder Arglist leitet es die Menschen an Und macht sie kundig jeder gottvergeßnen Tat."

Die soziale Gärung, die zu Ende des 8. Jahrhunderts eingesetzt hatte, wuchs im folgenden Jahr hundert. Die Volksmasse oder — wie sie im Griechischen heißt — der Demos, bestehend aus unfreien Bauern, Handwerkern, Geschäftsleuten und Matrosen, hatte die alte Gleichheit, die die Dichter als das goldene Zeitalter feierten, noch nicht vergessen. In Zeiten großer Not empörten sie sich gegen den Grund- und Geldadel; es brachen Klassen- und Parteikämpfe aus, die die Staatsmänner und Denker der Jonier und Dorier aufs lebhafteste beschäftigten. Während in Athen vorläufig viel diskutiert und philosophiert wurde und einige Mittelstandsreformen durchgeführt wurden, gingen die Spartaner schon frühzeitig ans Werk und führten eine kommunistische Revolution durch.

Anmerkungen

1) Plutos, Gott des Reichtums.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 36-43

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html