Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
12/04

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IV. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION Zur Kapitelübersicht

1. Die Klassen und die Verfassungskonflikte.

Die langwierigen, unglücklichen Kriege Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. mit England und Österreich (Spanischer Erbfolgekrieg) sowie mit Preußen (Siebenjähriger Krieg) und England (Kanada, Indien) hinterließen eine Schuldenlast, die um so schwerer auf das Land drückte, als auch die Verschwendung des Hofes, die Mätressenwirtschaft und das schlechte Finanzgebaren den Staatshaushalt zerrütteten und immer größere Anforderungen an die Steuerkraft der Massen stellten. Die Staatsdefizite wuchsen und konnten ohne die Hilfe der Bourgeoisie nicht mehr gedeckt werden. Ludwig XVI. (1774-1793), der Erbe dieses Finanzelends, sah sich schließlich 1789 gezwungen, die Reichsstände einzuberufen. Am 5. Mai traten sie in Versailles zusammen, aber schon drei Wochen später waren der dritte Stand und seine intellektuellen Wortführer die Herren der Lage. Sie verwandelten die Reichsstände in eine Nationalversammlung und stellten ihr zur Aufgabe, dem französischen Volke eine Verfassung zu geben, d. h. den neuen Interessen- und Machtgruppierungen innerhalb der Nation grundsätzlichen Ausdruck zu geben.

Die Revolution hatte begonnen. Die alte Ordnung wurde gestürzt; die Massen gerieten in Bewegung, stürmten die Bastille, zwangen die Nationalversammlung, nach Paris überzusiedeln. Die ganze, seit 1740 geschaffene Ideenwelt wurde in den Kampf hineingezogen. Denn nur bei Einzelmenschen sind in der Regel die Instinkte, Leidenschaften und persönlichen Interessen die unmittelbaren Triebfedern des Handelns. Bei politischen Massenhandlungen hingegen, denen Beratungen und Diskussionen vorangehen, setzen sich die Instinkte und persönlichen Interessen erst in Ideen um: in Gedanken, Grundsätze und Theorien, die dem ganzen Handeln einen höheren, edleren, sittlicheren, allgemein menschheitlichen Charakter verleihen. Aber solange es sich um Klassenkämpfe handelt, siegt schließlich das Interesse der stärksten Klasse über die allgemeinen Grundsätze.

Die Nationalversammlung beriet zwei Jahre über die Verfassung, - inzwischen wurde das Land reorganisiert, die Kirchengüter wurden beschlagnahmt, neues Papiergeld (Assignaten) ausgegeben, Revolutionsgewinnler, Boden- und Valutaspekulanten geschaffen. Große revolutionäre Ideen füllten die Geister der Nation, große Profite füllten die Taschen der bürgerlich-kommerziel'en Elemente. Die Verfassung vom Jahre 1791 spiegelt diese Zustände getreu wider. Sie beginnt mit den Menschenrechten: alle Menschen sind frei und gleich, das Ziel der Gesellschaft ist, diese unveräußerlichen Menschenrechte zu erhalten. Nach diesem erhabenen Grundsatz kommt die Aufzählung der Menschenrechte: Freiheit, Eigentum, Sicherheit.

Die ersteren Sätze sind naturrechtlich-kommunistisch. Der Nachsatz aber ist physiokratisch-bürgerlich.

Schließlich kommt das rein bourgeoisiemäßige Fühlen zum Ausdruck: die Verfassung von 1791, die alle Menschen als frei und gleich hinstellt, teilt dann die Menschen in aktive und passive Bürger, gibt nur jenen das Wahlrecht, macht die Wahl indirekt, bei der nur die Reichen Wahlmänner sein dürfen, und verlangt vom Königtum nur, daß es konstitutionell wird.

Gleichzeitig wurde das Gesetz Le Chapellier angenommen, das alle Organisationen der Werktätigen untersagte und hierdurch auf den Klassencharakter der ersten Phase der Revolution ein grelles Licht warf.

Es ist selbstverständlich, daß die unteren Klassen, die demokratisch, republikanisch und sozialreformerisch fühlten, sich mit dieser Verfassung nicht zufrieden geben konnten. Marat veröffentlichte in seiner Zeitschrift „Amis du peuple" einen von 560 Bauarbeitern unterschriebenen Protest gegen das Versammlungsgesetz, der auf die Ausbeutungsmethoden der Unternehmer das grellste Licht wirft. Am 17. Juli richtet die Pariser Stadtverwaltung unter den Demonstranten, die unter Führung der „Cordeliers", eines radikal-demokratischen Klubs, ihre Forderungen überreichen, ein Blutbad an. Die revolutionären Führer des Volkes, Danton und Marat, mußten fliehen oder sich verbergen.

Mit der Annahme der Verfassung (September 1791) war die Aufgabe der Nationalversammlung gelöst. An ihre Stelle trat die gesetzgebende Versammlung, die aus neuen Männern bestand und eine Anzahl kleinbürgerlicher Demokraten und Republikaner enthielt, die unter dem Druck der Pariser Volksmassen, der wachsenden Teuerung und der äußeren Gefahren nach kühneren Aktionen zu drängen begann. Am 10. August 1792 nahmen die Pariser radikalen Elemente die Sache der Revolution in ihre Hände und verhafteten die königliche Familie. Diese Erhebung der Volksmassen leitete die zweite Phase der Revolution ein - die wichtigste in ihrer Geschichte. Ein Riß ging durch die Reihen der Kämpfer: die Kluft zwischen der Bourgeoisie und den Handwerker- und Arbeitermassen lag nunmehr offen. Auf einer Seite standen gemäßigte Republikaner, konstitutionelle Monarchisten und wohlhabende Bürger, auf der ändern die Linksrepublikaner, Sozialreformer und proletarische Revolutionäre. Infolge der wachsenden Not trat das soziale Problem schärfer hervor, das jedoch bei den leitenden Jakobinern (den Linksrepublikanern und formalen Demokraten) auf kein Verständnis stieß. In den Handwerker- und Arbeiterklubs begann man sich mit sozialreformerischen Vorschlägen und Plänen zu beschäftigen. Der Mangel an Lebensmitteln, die Teuerung, das Verschleudern der Nationalgüter (der konfiszierten Kirchengüter) lenkten die Aufmerksamkeit auf Grund- und Bodenreform, auf staatliche Regulierung der Lebensmittelpreise, schließlich auf kommunistische Ideen.

Die Spaltung der revolutionären Kräfte ermutigte die Gegenrevolution und ihre auswärtigen Freunde. Da die gesetzgebende Versammlung die nötige Tatkraft nicht aufbringen konnte, um diesen Elementen wirksam entgegenzutreten, wurde sie September 1792 aufgelöst und durch den Nationalkonvent ersetzt, der auf Grund allgemeiner gleicher Wahlen aller erwachsenen Franzosen zustande kam. Frankreich wurde zur Republik erklärt, der König verurteilt und hingerichtet. Der Krieg gegen die vereinigte europäische Reaktion wurde mit großer Energie aufgenommen, aber auch jeder sozialistische Angriff auf das Eigentum zurückgewiesen. Marx sagt mit Recht, daß die Geschichte des Konvents die Geschichte des Bürgerkriegs in Frankreich sei. Er beginnt mit der Auseinandersetzung zwischen den Girondisten (konstitutionellen Demokraten, die Großbourgeoisie) und Jakobinern (Radikalen). Am 18. März 1793 beschloß der Konvent die Todesstrafe gegen alle Agitation, die den Zweck verfolgte, die Eigentumseinrichtungen umzustürzen. Am 31. Mai 1793 erhob sich das Pariser Volk, verjagte die Girondisten, und am 10. August 1793 gab der Konvent ihm eine neue Verfassung, die rein demokratisch war: sie war der vollendete Ausdruck der formalen Demokratie. Das Eigentum wurde für unverletzlich erklärt. Robespierre, der die verschiedenen Bestrebungen der radikalen Massen wohl kannte, versuchte zwar, einen Verfassungsentwurf einzubringen, in welchem der Artikel betreffend Eigentum eine Fassung erhielt, die auch Sozialisten annehmen konnten („Eigentum ist das Recht eines jeden Bürgers auf den Genuß desjenigen Teiles der Güter, den das Gesetz ihm sichert l"), aber Robespierre gab sich gar keine Mühe, seinen Entwurf durchzusetzen. Die Verfassung vom August 1793 trat jedoch nicht in Kraft - den Grund hierfür geben wir im nächsten Kapitel an. Eine revolutionäre Regierung oder Diktatur führte vom Oktober 1793 bis Juli 1794 mit absoluter Macht die Geschäfte des Landes: bildete Armeen gegen die europäische Reaktion, setzte Höchstpreise für Lebensmittel fest, reorganisierte das höhere Unterrichtswesen, führte das metrische System ein, unterdrückte aber auch die republikanische Opposition von rechts (Danton) und links (Hebert) (1) und die entschiedenen Sozialreformer: Marat, der „Freund des Volkes" (frz. Ami du peuple), wie seine Zeitschrift hieß, ein echter Volksmann und Revolutionär, dessen Entwicklung vom Vertreter des Kleinbürgertums zum Sozialrevolutionär sich trotz mancher Schwächen deutlich erkennen läßt. Die Gironde, die in ihren Schlupfwinkeln in der Normandie den Bürgerkrieg im Interesse der Großbourgeoisie schürte, ahnte wohl, daß sie mit dem Mord an Marat durch Charlotte Corday der Revolution ihren bedeutendsten Taktiker und Strategen nahm. Robespierre und seine Anhänger, bedrängt von außen und innen, nahmen Zuflucht zum Terror, dem jedoch in der Hauptsache revolutionäre Arbeiter und Intellektuelle zum Opfer fielen. In seinem kleinbürgerlichen Demokratismus befangen, grub Robespierre sich selber und der Revolution das Grab, indem er die energischsten, vorwärtstreibenden sozialreformatorischen Elemente guillotinieren ließ. Als sein verderbliches Werk vollzogen war, wurde er selber am 27. Juli (9. Thermidor) 1794 gestürzt und enthauptet. Die kleinbürgerliche Diktatur wurde vom Direktorium aus Vertretern der Großbourgeoisie abgelöst, das die Gegenrevolution bewußt einleitete, die Pariser revolutionären Elemente entwaffnete, 1795 eine Verfassung auf Grundlage des Zensuswahlrechts schuf und die Periode des Verschleudems der Kirchengüter und des Börsenschwindels im großen Maßstabe einleitete.

Die Jahre 1792-1795 sind aus drei Gründen wichtig: l. sie sahen eine revolutionäre Diktatur; 2. die Entstehung sozialreformatorischer Bestrebungen; 3. sie waren die Ursache der Verschwörung Babeufs. Wir werden sie nacheinander behandeln.

2. Die revolutionäre Diktatur.

Es wurde oben gesagt, daß die Verfassung vom August 1793 nicht in Kraft trat. Sie wurde absichtlich suspendiert und sollte erst nach Friedensschluß zur Geltung gelangen. An Stelle der Verfassung trat eine Diktatur. Den Grund für diese Maßregel gibt uns Buonarroti in seinem Werke über die Verschwörung Babeufs.

Buonarroti, ein demokratischer Sozialist und Freund der leitenden Jakobiner, ein Mann von hohem Geistesadel und großer Sittenreinheit, erzählt uns, daß einige der Verfasser dieser demokratischen Verfassung die Ansicht vertraten, daß politische Reformen, mögen sie noch so bedeutend sein, nicht imstande sind, das Glück eines Volkes zu begründen, wenn ihnen nicht eine moralische und ökonomische Umformung vorangehen. Sie waren ferner der Ansicht, daß politische Demokratie allein nur den Reichen zugute kommen wird. „Solange die Dinge bleiben werden, wie sie sind, wird die freieste politische Form nur für die vorteilhaft sein, die nicht nötig haben, zu arbeiten. Solange die Volksmassen, durch die Not gezwungen, sich den schweren und ununterbrochenen Arbeiten unterziehen müssen und sich nicht über die öffentlichen Angelegenheiten unterrichten können, weil sie in ihrer Existenz von den Reichen abhängig sind, verfügen diese (die Reichen) allein über die Beschlüsse, die die betrügerischen Regierungen geschickt vom Volke erlangen" (Buonarroti „Die Verschwörung der Gleichen", deutsche Übersetzung Seite 55-56). Allerdings haben Robespierre und seine Anhänger nicht daran gedacht, eine Gesellschaftsform im Sinne Buonarrotis zu schaffen, aber sie glaubten doch, eine Verbesserung der Sitten, eine Eindämmung der Selbstsucht herbeiführen zu können, oder, wie Robespierre sagte: „Wir wollen den Egoismus durch die Moral ersetzen, die aristokratische Ehre durch die Rechtschaffenheit, die Tyrannei der Mode durch die Herrschaft der Vernunft, die Eitelkeit durch die Seelengröße..." Er glaubte, dieses Ziel erreichen zu können durch Reden, freireligiöse Predigten und polizeiliche Verordnungen. Bis dahin sollte die Demokratie suspendiert sein. Die Diktatur war also nicht eine Verleugnung der demokratischen Grundsätze; sie sollte vielmehr erst den Seelenzustand schaffen und die Geister befähigen, die Demokratie zum Wohle aller anzuwenden. Nur sah Robespierre nicht - und als Antisozialist konnte er es auch nicht einsehen -, daß ein derartiger Seelenzustand nicht durch ideologische Mittel hervorgerufen werden kann. Er glaubte an die Allmacht der Vernunft und wußte nicht, daß die Richtung und der Inhalt unserer Gedankenarbeit, insbesondere aber der Massenpsyche, zum großen Teile das Ergebnis des sozialen Milieus sind, und daß deshalb die Hauptaufgabe der Diktatur sein mußte, soziale Reformen und Unterrichtsformen stufenweise und folgerichtig durchzuführen. Anstatt dessen ließ Robespierre eine große Anzahl sozial-reformerisch tätiger Agitatoren und Arbeiter hinrichten, nur um die Diktatur aufrechterhalten zu können. Dieses tragische Vorgehen rächte sich an diesen kleinbürgerlichen Diktatoren. Robespierres Wirken seit Beginn 1794 war unbewußt gegenrevolutionär, wie überhaupt in allen bis jetzt vorgekommenen demokratischen Revolutionen die zur Herrschaft gelangte rechtsdemokratische oder gemäßigt sozialreformerische Partei die linksrevolutionären Elemente metzelte und hierdurch der Gegenrevolution die Bahn bereitete.

Wir werden auf die Frage der Diktatur noch zurückkommen, da sie erst 1795-96 in der Verschwörung der Gleichen (Babeuf und Genossen) deutlich gestellt wurde.

3. Die Verfassung von 1793 und die Sozialkritik.

Im Jahre 1793 wurde es den mit sozialistischen Gedankengängen vertrauten Revolutionären klar, daß es sich in diesem Kampfe um einen Konflikt zwischen Reichen und Armen zwischen Besitzenden und Besitzlosen handelt. Buonarroti, der um jene Zeit in engster Fühlung mit den Häuptern der Revolution und der Massen stand, schreibt hierüber: „Was sich in Frankreich unmittelbar nach der Schaffung der Republik zutrug, ist in meinen Augen der Ausbruch des vorhandenen Zwiespaltes zwischen den Anhängern des Reichtums und der Privilegien auf der einen Seite und den Freunden der Gleichheit oder der zahlreichen Klasse von Arbeitern auf der anderen Seite." Die Haltung der Reichen und Privilegierten zur Verfassung 1793 war selbstredend feindlich. Sie lehnten die politische Gleichheit ab. Hingegen waren unter den Freunden der Gleichheit (oder Kommunisten und Sozialreformem) die Meinungen geteilt. Babeuf, Buonarroti und ihre Freunde hielten die demokratische Verfassung zwar für mangelhaft, da sie das Eigentum für unverletzlich erklärte, aber sie hielten die politische Demokratie für ein gutes Mittel, zur ökonomischen Gleichheit zu gelangen. Durch Demokratie zur Sozialreform, wobei allerdings eine Zwischenstation - die Diktatur - errichtet werden mußte. Diese Revolutionäre unterstützten Robespierre und die demokratische Verfassung. Links von ihnen standen die Hebertisten und der kommunistische Abbe Jacques Roux und seine Anhänger, 'die „Rasenden", die vor allem auf eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse abzielten und das Volk vor den Illusionen, den Kniffen und Schlichen der Demokraten, einschließlich Robespierres, Saint-Justs usw. warnten. Sie klagten die Verfassung als selbstsüchtig und volksfeindlich an, da sie die Kriegsgewinnler, die Boden- und Valutaspekulanten, die Lebensmittelwucherer in Ruhe ließ. Jacques Roux klagte: „Die Freiheit ist nur ein Phantom, wenn eine Klasse imstande ist, die andere auszuhungern, wenn der Reiche durch sein Monopol das Recht auf Leben und Tod der Armen hat. Die Republik ist nur ein Phantom, wenn die Gegenrevolution sich auswirkt in der fortgesetzt wachsenden Steigerung der Lebensmittelpreise, die drei Viertel der Bürger nicht mehr aufbringen können, ohne Tränen zu vergießen. Man wird die Anhänglichkeit der Sansculotten an Revolution und Verfassung nicht gewinnen, solange man nicht den Lebensmittelwucherern das Handwerk legt. Der Krieg, den die Reichen im Inlande gegen die Armen führen, ist schrecklicher als der, den das Ausland gegen Frankreich führt... Es sind die Bourgeois, die sich seit vier Jahren an der Revolution bereichern; schlimmer als der grundherrliche Adel ist der neue Handelsadel, der uns erdrückt, denn die Preise steigen und steigen, ohne daß man ein Ende absehen könnte. Ist denn das Eigentum der Schwindler heiliger als das Leben der Menschen?"

Aus Roux spricht die tiefe Entrüstung eines ehrlichen Volksmannes, eines mutigen Kommunisten;

aber war denn die Haltung Buonarrotis und Babeufs nicht richtiger? Wäre es nicht besser gewesen, wenn alle Revolutionärgesinnten eine Einheitsfront gebildet hätten, um Robespierre in seiner Demokratie und Diktatur zu unterstützen, aber gleichzeitig über ihn hinauszugehen und die Massen für die Bedeutung des sozialen Umbaues zu erziehen ? Robespierre hatte die Massen nötig, um sich gegen die Gironde zu wehren; er wäre deshalb gezwungen gewesen, ihnen sozialreformerische Konzessionen zu machen, wenn sich die arbeitenden Volksmassen hinter ihn - und nicht gegen ihn - gestellt hätten.

Das sind sehr wichtige Fragen, die sich nicht ohne weiteres beantworten lassen. Die besten Köpfe der französischen Revolution (1792-96) waren sich über die Antwort nicht einig.

4. Lange und Dolivier.

In den ersten Jahren der französischen Revolution war in Lyon ein Schriftsteller im sozialkritischen und reformerischen Sinne tätig, der sich „L'Ange" nannte. Er wurde vom französischen Historiker Jules Michelet als der geistige Vater Fouriers bezeichnet. Ein halbes Jahrhundert verging, ehe man etwas Näheres über den rätselhaften „L'Ange" erfuhr. Jaures entdeckte in ihm den Deutschen Lange, der in Kehl geboren, in Münster erzogen wurde, im Alter von 16 Jahren nach Paris kam und 1793 als Munizipalbeamter in Lyon wirkte. Jaures, der Langes sehr selten gewordene Schriften studierte, sagt hierüber: 1790 veröffentlichte L'Ange (Lange) eine Broschüre, in der er die Verfassung von 1791, die er schon im Entwurf kannte, als widerspruchsvoll bezeichnete, da sie mit allgemein gültigen Menschenrechten beginnt und dann die Bürger in aktive und passive teilt. Die Besitzenden nennt sie aktiv, die Arbeiter passiv, und doch sind es die letzteren, die den Reichtum erzeugen. Der Besitz der Reichen ist nichts weiter als der Überschuß, den sie den Arbeitenden entziehen. (Heute sagen wir: Mehrwert.) Lange erwartet Abhilfe von den großen Menschenfreunden und vom König. Seine nächste Schrift beschäftigte sich mit dem Plane der Errichtung von Ackerbaugenossenschaften auf Aktien, um der Nahrungsmittelnot abzuhelfen und dem Lebensmittelwucher ein Ende zu machen. Dieser Plan muß Fourier, der damals als Handelsgehilfe in Lyon angestellt war, mächtig angeregt haben. Fourier nennt L'Ange nicht, aber in - seinem ersten Werke: „Quatre Mouvements" (1808) ' gibt er in der Vorrede zu, daß seine ganze Arbeit den Ausgangspunkt nahm im Plane einer Ackerbaugenossenschaft. Langes Grundgedanken sind: der Gesamtwert der im Lande erzeugten Kornfrüchte kann nicht höher sein als das Gesamteinkommen der Arbeitenden; jeder Arbeiter muß deshalb von seinem Lohne leben können; da dies aber nicht der Fall ist, so liegt die Schuld beim Nahrungsmittelwucherer. Durch Gewalt läßt sich da nichts erreichen. Der einzige Ausweg ist die Bedeckung Frankreichs mit einem Netz von Ackerbaugenossenschaften. Je 100 Familien bilden eine Genossenschaft. Die Genossenschaften sind auf Aktien zu gründen, die der Staat durch eine Anleihe aufbringt. Die Vorteile der genossenschaftlichen Produktion und der Konsumvereine werden so groß sein, daß sich auch die Reichen daran beteiligen werden.

Ein anderer Reformer war der Geistliche Pierre Dolivier, der für Bodenreform wirkte. Seine kritischen Ideen sind denen von Spence ähnlich. Sein positiver Vorschlag ist: Abschaffung des Erbrechts und gleiche Verteilung der großen Güter an die Bauern. Seine 1794 veröffentlichte Schrift heißt: „Essai sur la justice primitive".

Anmerkung (1) Danton vertrat in der Hauptsache die akademischen kleinbürgerlichen Berufe, Hebert die Kleingewerbetreibenden und Soldaten. Politische Klarheit ist weder in den „Revolutions de France et de Brabant", einer von Dantons Freunde Camille Desmoulins herausgegebenen Zeitschrift, noch in Heberts „Pere Duchesne", der sich mit Vorliebe der rüdesten Soldatensprache bediente, zu finden.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 387 - 395

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html