Betrieb & Gewerkschaft
Tarifpolitik unter Revisionsvorbehalt
IGM-Defensive setzt sich fort

R. Müller zum VW-Abschluss
12/04

trend

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Mit dem am 5. November von der Großen Tarifkommission der IG Metall mit 93 zu 15 Stimmen angenommenen Abschluss der diesjährigen VW-Tarifrunde setzt sich die Defensive der IG Metall fort. Die Signale, die von VW ausgehen, sind eindeutig: Wenn die einstmals erreichten Standards in der Metallindustrie nicht einmal von der am besten organisierten Gewerkschaft in einer ihrer Hochburgen gehalten werden, wie soll dann der tarifpolitische Rollback in anderen Unternehmen und Branchen aufgehalten werden? Siemens, Karstadt, Daimler-Chrysler und jetzt VW sind eben nicht die Ausnahmen, sondern die neuen Benchmarks. Der von Berthold Huber jetzt wieder neu aufgewärmte Vorschlag, Tarifabschlüsse in Zukunft generell nur noch als Rahmenvereinbarungen abzuschließen und die Details je nach Ertragslage einzelbetrieblich regeln zu lassen, würde die bereits eingeschlagene Politik endgültig zur Norm machen. Der Abschluss im Einzelnen:

»Jobs«

Als positivster Teil des Abschlusses gilt der »Zukunftstarifvertrag«. VW verpflichtet sich, bis 31. Januar 2011 in seinen deutschen Standorten 99000 Arbeitsplätze plus Auszubildende zu halten. Diese Absicht soll durch verschiedene Investitionen an den sechs Standorten Wolfsburg, Hannover, Emden, Salzgitter, Kassel und Braunschweig auch praktisch abgesichert werden. Betriebsvereinbarungen an den Standorten werden hierzu die Modalitäten regeln (hier wird dann das Kleingedruckte interessant sein).
Allerdings steht die Arbeitsplatzzusage unter einem Revisionsvorbehalt. Sollte sich die wirtschaftliche Lage anders als geplant entwickeln, muss nachverhandelt werden. Gibt es keine Einigung, kann die Firma einseitig jeweils zum Ende eines Halbjahres die Vereinbarung kündigen. Die Revisionsklausel sollte jedoch nicht überbewertet werden. Angesichts der gerade demonstrierten relativ harmonischen Arbeitsbeziehungen ist es kaum vorstellbar, dass es wirklich zu einer einseitigen Kündigung kommen sollte, zumal in diesem Falle auch die 1995 unterschriebene Vereinbarung zur Standortsicherung (Stichwort 28,8-Stundenwoche) hinfällig würde.

»Mäuse«

Dem Teil »Jobs« stehen erhebliche Zugeständnisse im Teil »Mäuse« gegenüber. Für die nächsten 28 Monate, d.h. von Oktober 2004 bis 31. Januar 2007, gibt es keine tarifliche Erhöhung von Löhnen und Gehältern.

Stattdessen erhalten die Beschäftigen (außer die Auszubildenden) im März nächsten Jahres eine Einmalzahlung von 1000 Euro (Teilzeitbeschäftigte entsprechend weniger). Auf die gesamte Laufzeit bezogen entspricht dies einer Erhöhung von 0,6 Prozent, die allerdings nicht in zukünftige Erhöhungen eingeht. Keine Nullrunde also, aber in jedem Fall deutlich unter der Preissteigerungsrate.

Hinzu kommt, dass die Beschäftigten im nächsten Jahr noch einmal auf Geld verzichten müssen, da ein neues Bonussystem vereinbart wurde. Dieses neue Bonussystem beinhaltet eine deutliche Kürzung des bislang garantierten Mindestbonus. Dieser wurde bisher in zwei Teilen, zum einen im Mai und zum anderen im November, ausbezahlt. Dabei wurden im Mai (respektive Juni) ca. 800 Euro ausbezahlt und im November je nach Betriebszugehörigkeit noch einmal bis zu ca. 1200 Euro (für Beschäftigte ab zehn Jahren Betriebszugehörigkeit).
Ab dem nächsten Jahr wird es nur noch einen Mindestbonus geben, der im November 2005 erstmals ausbezahlt wird und 1191 Euro beträgt. Im Jahr 2006 wird dann über den endgültigen ertragsabhängigen Gesamtbonus mit dem GBR verhandelt. Sollte dabei mehr als 1191 Euro vereinbart werden, so wird die Differenz im Mai 2006 bezahlt.

Fazit: Zunächst einmal werden viele Beschäftige bis zu 800 Euro weniger Bonus in 2005 als in 2004 erhalten.

Dies schmälert natürlich effektiv die 1000 Euro Einmalzahlung. Schließlich werden auch noch so genannte Strukturkomponenten im Wert von insgesamt 1,4 Prozent rückwirkend ab Oktober 2004 gestrichen.

»Ungleicher Lohn für gleiche Arbeit«

In Zukunft soll es für alle bisherigen Beschäftigten (und nur für diese) ein neues, für ArbeiterInnen und Angestellte einheitliches Eingruppierungs- und Entgeltsystem geben, das spätestens ab 2008 in Kraft treten soll. Vereinbart wurde, dass die Einführung »kostenneutral« erfolgt.

Deutlich weniger werden jedoch alle Neueingestellten sowie die im nächsten Jahr zu übernehmenden Auszubildenden verdienen. Zu diesem Zweck soll bereits bis März 2005 ein neues Entgeltsystem entwickelt werden, das perspektivisch das heutige VW-Eingruppierungssystem ersetzen wird. Das zukünftige Eckentgelt, von dem allerdings unklar ist, auf was es sich bezieht, soll inklusive der Leistungsbestandteile bei 2562 Euro liegen. Als Basis wird ein Arbeitszeitkorridor zwischen 28,8 und 35 Wochenstunden angenommen. Weitere Details sind noch offen, vereinbart wurde jedoch, »dass das durchschnittliche Entgeltniveau dem der Fläche entspricht«. Das Niveau des Flächentarifvertrages Niedersachsen liegt bis zu 20 Prozent unter dem jetzigen Haustarif.

Auch die zukünftigen Auszubildenden werden in Zukunft je nach Ausbildungsjahr bis zu 110 Euro weniger erhalten. Dafür stellt VW in 2005 und 2006 je185 Ausbildungsplätze in seiner Service- und Leiharbeitsfirma AutoVision zur Verfügung.

»800 Stunden Vollflexi«

Damit die Fabrik in Zukunft nicht nur atmen, sondern auch mal richtig durchschnaufen kann, wurde die Arbeitszeitflexibilität gewaltig erhöht. In Zukunft können bei Bedarf die Arbeitszeitkonten zwischen 400 Minus- und 400 Plusstunden variieren. Damit steht dem Unternehmen ein Arbeitszeitkorridor von bis zu 800 Stunden zur Verfügung, denn, wie heißt es in der Vereinbarung: »Plus- und Minusstunden können nur auf betriebliche Veranlassung entstehen« (und nicht etwa, weil Beschäftigte mal ’ne längere Auszeit nehmen wollen). Dies bedeutet, dass VW im Zweifel für Monate die Arbeit einstellen kann und im Bedarfsfall monatelang länger arbeiten lassen kann. Überstundenzuschläge werden in Zukunft erst ab 40 Wochenstunden fällig – und dies auch nur, wenn das individuelle Zeitkonto im Plus ist.

Kernschmelze

Wenn eingangs davon die Rede war, dass der VW-Abschluss wie auch die vorausgegangene Vereinbarung bei Daimler-Chrysler neue Maßstäbe setzen, so gilt dies nicht nur für den Inhalt, sondern auch für das Procedere.

Verhandelt wird nicht mehr wie einstmals über eine Forderung der Gewerkschaft – die »4 Prozent-mehr-auf-12-Monate« hat die Gewerkschaftsseite selbst schon nicht mehr wirklich ernst genommen –, sondern über die Einsparforderungen der Firmen. Deren Höhe – ob 500 Millionen oder 1 Milliarde Euro – ist dabei allerdings, anders als bei klassischen Gewerkschaftsforderungen, nicht verhandelbar. Mitreden darf die Gewerkschaft lediglich dabei, wie die Einsparungen zu Stande kommen.

Unternehmen kommt es bekanntlich nicht darauf an, um jeden Preis Beschäftigte zu entlassen. Im Gegenteil, wenn es sich lohnt, werden sogar ausgesprochen gerne mehr Menschen beschäftigt.

Ohnehin dementiert die IG Metall zurzeit stets auf Neue ihren alten Spruch, dass Lohnverzicht keine Arbeitsplätze sichere. Dies ist zwar nicht völlig neu, in vielen Betriebsvereinbarungen wurden schon Mäuse gegen Jobs getauscht, und auch dem Bündnis für Arbeit lagen ähnliche Überlegungen zu Grunde, aber mit Daimler-Chrysler und VW wird diese Politik jetzt quasi amtlich. Dabei weiß die IG Metall, dass sie eigentlich gar nicht so Unrecht hat. Lohnkosten sind nicht alles, und Lohnverzicht garantiert bestenfalls kurzfristig und auf Kosten anderer Arbeitsplätze bei Konkurrenten die Beschäftigung. Wenn alle Autofirmen ihr Sparpaket durchgedrückt haben, steht die nächste Runde an.
Die DaimlerChrysler-Vereinbarung und der VW-Abschluss sind deshalb auch unter strategischen Gesichtspunkten falsch. Indem einigen Firmen Wettbewerbsvorteile ermöglicht werden, schafft sich die IG Metall ge-nau die Probleme, die sie mit den Standortvereinbarungen zu lösen vorgibt, an anderer Stelle neu. Zugleich bleibt die IG Metall einer national ausgerichteten Politik verhaftet, die nicht nur politisch borniert, sondern angesichts international ausgerichteter Unternehmensstrategien auch schlicht unangemessen ist.

Das Ergebnis ist ein Absenken einmal erreichter tariflicher Standards. Dies passiert nicht irgendwo, sondern unter großer Publizität in den verbliebenen Zentren industrieller Produktion. Es findet eine tarifpolitische »Kernschmelze« (M. Dieckmann) statt. Die zwischenzeitlich kaum noch sichtbare Pilotfunktion von Metallabschlüssen kehrt jetzt im Negativen wieder. Wenn hier Löhne und Arbeitszeitstandards ausgehöhlt werden, so fragen sich viele GewerkschafterInnen, wie sollen sie dann in Branchen mit ungleich schwierigeren gewerkschaftlichen Rahmenbedingungen gehalten werden? Zu Recht wird seitens ver.di darauf hingewiesen, dass dieser Abschluss die Tarifrunden des Jahres 2005 vermutlich erheblich beeinflussen wird.

Jedoch gilt für die Tarifpolitik das Gleiche wie für die einzelbetriebliche Standortsicherung. Im Zweifel ist das Hemd näher als der Rock. Auf VW bezogen hieß dies, dass der VW-Gesamtbetriebsrat von Beginn an wenig Zweifel ließ, dass ein Abschluss sich vor allem an den Interessen der jetzt Beschäftigten zu orientieren habe. Ähnlich wie bei 5000x5000 wurde das Arbeitsplatzargument über tarifpolitische und gewerkschaftliche Prinzipientreue gestellt. Entgegen der Hoffnung mancher Gewerkschaftslinker befindet sich der Betriebsrat hierbei wohl eher nicht im Gegensatz zur vielbeschworenen Basis. Und auch außerhalb von VW wird sich die Kritik in Grenzen halten. In den Zeiten von 1-Euro-Jobs kann kein Zweifel bestehen, dass sich selbst zu stark abgesenkten Löhnen zigtausende von Menschen bei eventuellen Neueinstellungen um einen VW-Arbeitsplatz bewerben werden. Dieses Ausbleiben massiver Kritik sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Beschäftigte den VW-Abschluss nicht als Zeichen verbliebener gewerkschaftlicher Gestaltungskraft wahrnehmen, sondern durchaus realistisch als Ausdruck von Schwäche.
Diese Schwäche ist nicht zuletzt eine politische. Solange behauptet wird, es werde über Standortsicherung geredet, wo in Wirklichkeit unter für die Gewerkschaften massiv verschlechterten Rahmenbedingungen über Umverteilung verhandelt wird, solange werden Abschlüsse wie die bei VW eben weiter als Erfolge verkauft werden müssen und können nicht als sehr problematische Zugeständnisse innergewerkschaftlich zur Diskussion gestellt werden.
 

Editorische Anmerkungen

Der Text erschien im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10-11/04. Er ist eine Spiegelung von:
http://www.labournet.de/branchen/auto/vw/allg/mueller.html