Man nehme ein Hochhaus- oder "Problemviertel" einer deutschen Großstadt
wie
Köln-Chorweiler oder das Märkische Viertel in Berlin. Man vergrößere es um
das Hundertfache und projiziere es auf eine Fläche ein wenig größer als das
Saarland, wobei man noch einige historische Stadtkerne sowie eine Anzahl von
Reihenhaussiedlungen und einige inselartig versprengte Villenviertel
dazwischenstreut. Auf diese Weise erhält man ein ungefähres Abbild von der
Pariser Banlieue (Vorstadt- oder Trabantenstadtzone), die sich zusammen mit
den angrenzenden urbanen Randzonen über immerhin sieben Départements
(Bezirke) rund um Paris herum erstreckt. Andere Großstädte wie etwa Lyon
kennen ähnliche Phänomene der Herausbildung einer Vorstadtzone wie Paris -
während in Marseille vergleichbare Quartiere eher innerhalb der Stadt, in
den Marseiller Nordbezirken, entstanden sind.
Der Name kommt von dem altfranzösischen Ausdruck für "Bannmeile" (le
ban =
der Bann, und la lieue = die Meile), der im 17. Jahrhundert entstanden ist.
Er bezeichnete zunächst im damaligen feudal-monarchischen System jene Zone
rund um eine Stadt, über welche die Stadtherren eine eigene
Herrschaftsgewalt geltend machen konnten. Die Siedlungen in diesen Banlieues
wuchsen mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und den sukzessiven
Einwanderungswellen bis weit in¹s 20. Jahrhundert hinein fast kontinuierlich
an. Das hängt auch damit zusammen, dass sich noch bis nach dem Zweiten
Weltkrieg die Industrialisierung in Frankreich auf nur wenige Kernregionen
(das Kohlerevier nahe der belgischen Grenze, die Großräume von Paris und
Lyon, das Einzugsgebiet von Marseille) konzentrierte.
Das hatte gesellschaftspolitische Hintergründe: Aus Angst vor
Arbeiterbewegung und sozialistischer Revolution, die der städtische
Bourgeoisie spätestens seit der Commune de Paris (1871) in den Knochen
steckte, war diese bestrebt, in weiten Teilen des Landes
ländlich-konservative Sozialbeziehungen aufrecht zu erhalten, um auf ein
politisch "ruhiges Hinterland" bauen zu können. Im Gegenzug begannen die
Arbeitervorstädte der industrialisierten Großstädte auszuufern, während
rechte Vordenker (wie der präfaschistische Schriftsteller Maurice Barrès im
späten 19. Jahrhundert) vor der "destabilisirend wirkenden Gefahr für die
Nation" warnten, die in ihrer Augen von dieser hohen Arbeiterkonzentration
ausging. Im benachbarten Belgien, jedenfalls im flämischen Teil, ging man
den umgekehrten Weg und versuchte, dem sozialen Konservativismus zu dienen,
indem man die Arbeiterschaft über möglichst kleine und auseinander verteilte
städtische Kerne zersteute. Anders verlief die Entwicklung in den
französischen Ballungszentren. Doch ihr lange Zeit hindurch zügelloses
Wachstum hat sich seit dem Ende der innerfranzösischen Landflucht in den
70er Jahren verlangsamt.
Banlieues und "soziale Frage"
In diesen "vorstädtischen" Raum hinein wurden in den vergangenen
Jahrzehnten
alle BewohnerInnen abgeschoben, die in der Hauptstadt selbst keinen
bezahlbaren Wohnraum fanden. Insbesondere während der Amtszeit von Jacques
Chirac als Bürgermeister von Paris (1977 bis 1995) wurden ganze
Bevölkerungsgruppen systematisch durch Stadterneuerungs-, Sanierungs- und
Mietpolitik in die Pariser Trabantenstadtzone abgedrängt. Das ist die
Hauptursache für das Ausufern der Agglomeration rund um die Hauptstadt.
Auch die französische Kommunistische Partei, der pro-sowjetische PCF
(le
Parti communiste français), trägt daneben einen bestimmten Teil an
Mitverantwortung: Da der PCF bis mindestens in die Achtziger Jahre hinein in
den meisten Banlieue-Rathäusern rund um Paris regierte (man sprach damals
noch von der ceinture rouge, dem "roten Gürtel"), hatte auch er ein
Interesse daran, die ärmeren Bevölkerungsschichten in "seinen" Vorstädten
konzentriert zu sehen, um die soziale und politische Kontrolle über sie zu
behaupten. So zeigten sich die PCF-Kommunen mit dem durch die Regionalplaner
programmierten Bau von Hochhaussiedlungen, die unter anderem diese aus der
Hauptstadt verdrängten Bevölkerungsgruppen aufnehmen sollten, auf ihrem
Gebiet einverstanden. Ihr Anteil an dem Gesamtprozess ist wesentlich
geringer als jener der bürgerlichen Regierungsmehrheiten in der Hauptstadt
und auf Ebene des Zentralstaats, doch kann man von einer zeitweisen
"Komplizenschaft" sprechen, bei welcher die Interessen beider komplementär
zueinander standen. Seitdem hat jedoch der Niedergang des PCF längst auch im
ehemaligen "roten Gürtel" eingesetzt: Dort, wo die jungen Generationen einst
durch Fabrikarbeit und -disziplin sowie Klassensolidarität sozialisiert
wurden, herrscht jetzt oft ein soziales und politisches Vakuum. Hohe
Arbeitslosigkeit hat die frühere Anbindung an das Fabrikleben abgelöst.
Banlieues und Einwanderung
Seit über einem Jahrhundert ergießen sich alle Bevölkerungsströme in
Richtung der französischen "Metropole" größerenteils in diese Zone. Dort
wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts die meisten verschmutzenden und
stinkenden Industrien angesiedelt. Zunächst kamen die Lothringer, die aus
dem 1871 vom deutschen Reich annektierten Gebiet flohen, sowie Bretonen und
Bewohner des französischen Zentralmassivs. Sie wurden zu ihrer Zeit ebenso
diskriminiert wie später Einwanderer aus den Kolonien oder der so genannten
Dritten Welt: Die Lothringer etwa waren für viele ihrer damaligen
Zeitgenossen einfach boches (ein Schimpfwort für Deutsche).
Es folgten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Einwanderer
aus dem
südeuropäischen Raum, in deren Auswanderungsmotiven sich oftmals
Armutsgründe mit dem Zwang zur Flucht vor den Diktaturen Mussolinis, Francos
oder Salazars mischten. Und schließlich erfolgten vor allem nach dem Zweiten
Weltkrieg neue Einwanderungen aus dem arabisch-nordafrikanischen Raum sowie
den afrikanischen Ex-Kolonien. Jede neue Generation von Immigranten wird
diskriminiert und als "nicht integrierbar" behandelt, während i.d.R. die
jeweils vorangegangene dagegen als "erfolgreich assimiliert" dargestellt
wird. Die Nachkommen der italienischen Einwanderer etwa unterscheidet heute
zumeist nichts mehr (außer vielleicht dem Familiennamen) von den Nachfahren
der ortsansässigen Franzosen, während insbesondere die aus mehrheitlich
muslimischen Ländern eingewanderte Bevölkerung oftmals als
gesellschaftlicher "Fremdkörper" eingestuft wird.
Die Ethnisierung des Sozialen
Doch heute, wo, mit dem Rückgang der traditionellen fordistischen
Industrien, in den Vorstädten statt rauchender Schlote oftmals eher
Desindustrialisierung und hohe Arbeitslosigkeit dominieren, sind die
Banlieues zum Brennpunkt der sozialen Probleme des Landes geworden. Die
Kombination von hohem Immigrantenanteil, Gheottisierungstendenzen, sozialer
Perspektivlosigkeit und oft auch menschenfeindlicher Architektur wird vor
diesem Hintergrund zum explosiven Cocktail, der Tendenzen zur rassistischen
Segregation, zu Konflikten zwischen Bevölkerungsgruppen sowie eine oftmals
ziellos sich Bahn brechende Gewalt nährt.
Diese Problemmischung lässt alle gesellschaftlichen Phänomene leicht in
einem "ethnisch"-kulturalistischen Zerrspiegel erscheinen, der aus ihnen
vermeintlich "interkulturelle" Schwierigkeiten oder "Integrationsprobleme
bestimmter Bevölkerungsgruppen" macht. Auf diese Weise werden die realen
Probleme von einer sozioökonomischen und politischen, also materieller
Veränderung zugänglichen, auf eine ideologisch-kulturelle Erscheinungsebene
gehoben.
Wer heute etwa "Bildungswesen in Problemvierteln" sagt, spricht von
Schulen
mit unzureichender Mittelausstattung, überfüllten Klassen und einer hohen
Misserfolgsquote - hat aber oft das vor allem in den 90er Jahren von den
Medien beständig wiedergekäute, einprägsame Bild von "44 Nationalitäten in
einer Jahrgangsstufe" im Kopf. (Es geht jedoch auch Gegentendenzen: Die
kämpferischen Lehrerstreiks im unmittelbar nördlich an Paris angrenzenden
Département Seine-Saint Denis im März 1998 und, als Auslöser für den
landesweiten Streik der Lehrerschaft, während des gesamten Frühjahrs 2003
etwa haben aus der Bidlungspolitik in den sozial benachteiligten Vorstädten
wieder eine soziale und ökonomische Frage gemacht.) Wer von den jeunes de
banlieue spricht, den Jugendlichen der Trabantenstädte der Begriff ist
durch die Medienberichterstattung zum Symbol für "Randalierer" geworden,
weil er fast immer im Zusammenhang mit Krawallen verwendet wird -, der wird
sie sich im allgemeinen mit arabischen Vornamen und krausem Haar ausmalen.
Aber auch in obligatorischer Sportkleidung und mit oft verkehrt herum das
Schild nach hinten aufgesetzten Sportmützen. Denn in ihrem Auftreten sind
diese Jugendlichen keineswegs "exotisch": Adidas und Nike stehen ihnen
weitaus näher als traditionelle Kleidung wie die algerische Gandoura.
Legenden und Wirklichkeit
Dabei muss einer Legendenbildung entgegen getreten werden: Es gibt in
den
französischen Banlieue zwar gewisse Ghettosierungstendenzen aber keine
"ethnisch" strukturierten oder gar "ethnisch reinen" Zonen. Anders als
beispielsweise in bestimmten Vierteln vieler US-Großstädte leben selten
vorwiegend oder nur Menschen einer gemeinsamen nationalen oder "ethnischen"
Herkunft auf einem Raum. Frankreichs Trabantenstädte unterscheiden sich
schon deswegen, und auch wegen einer doch wesentlich geringeren Präsenz von
Gewalt (es gibt Bandenkriege, Schlägereien und Kriminalität, es gibt eine
Faszination für Kampfhunde, aber Schusswaffen kommen dagegen nur
ausnahmsweise zum Einsatz) von nordamerikanischen "Ghettos".
In den französischen Trabantenstädten ist die Segregration vor allem
sozialer Natur: Es leben nicht systematisch "die Araber" oder "die
Schwarzen" in einem Segment der Banlieue zusammen, sondern es leben
durchgängig Menschen mit gleichermaßen niedrigem Einkommen oder
vergleichbaren Schwierigkeiten, woanders eine Wohnung zu bekommen, nahe
beieinander. Allerdings haben viele Bewohner der Trabantenstädte oftmals
selbst einen anderen Eindruck von der Wirklichkeit. Das hängt damit
zusammen, dass Banlieue-Bewohner unterschiedlicher Herkunft oft ein anderes
Verhältnis zum öffentlichen Raum haben: Aus mediterranen oder afrikanischen
Ländern sind es traditionell eher gewohnt, einen großen Teil ihrer Zeit
"draußen", außerhalb der eigenen vier Wände, zu verbringen und sei es auf
Straßen und Plätzen. Da zumindest in der ersten Einwanderergeneration die
Familien oft größer waren bzw. sind als unter gebürtigen Franzosen üblich,
trägt das Platzproblem in den Wohnungen seinerseits zur Aufrechterhaltung
solcher Verhaltensweisen bei. Bei vielen "weißen" BewohnerInnen der
Banlieues, vor allem älteren oder durch die Kriminalitätsberichte
verängstigten, erwächst daraus der Eindruck, nunmehr gegenüber Arabern und
Schwarzen "in der Minderheit" zu sein, obwohl das rein zahlenmäßig in vielen
Fällen gar nicht stimmt. Denn die "Europäer" halten sich einfach für einen
deutlich größeren Teil der Zeit in ihren Wohnungen auf.
Sofern tatsächliche Straftaten oder (häufiger und stärker noch) die
durch
die Medien und andere Einflüsse erzeugte, subjektive Kriminalitätsangst nun
den Eindruck noch bestärken, "fehl am Platz" oder gar "in Gefahr" zu sein,
kommt es zu Abwanderungstendenzen vor allem bei den "weißen" Bewohnern.
Ihnen schließt sich oft mittelfristig eine migrantische Mittelschicht an,
die nicht dem Risiko einer "Stigmatisierung" durch Verweilen in den
verrufenen Zonen der Banlieue ausgesetzt sehen will. Wer es sich leisten
kann und Chancen hat, woanders eine Wohnung zu erhalten, möchte fortgehen.
Dadurch kommt es zu einer Tendenz zur sozialen, und indirekt auch
"ethnischen", Entmischung und über diese vermittelt zu einer Abwärtsspirale
für die betroffenen Vorstädte oder Stadtteile (Hochhaussiedlungen etwa). Und
die an solche "absteigenden" Quartiere angrenzenden Wohnviertel, vor allem
wenn es sich etwa um relativ "ruhige" Reihenhausviertel handelt,
regieren entsprechend mit Ablehnung und Angst. Dort hat auch die
französische extreme Rechte ihre höchsten Wähleranteile: nicht in den
besonders verrufenen Hochhaus-, sondern in den mittelbar oder unmittelbar an
diese angrenzenden Siedlungen.
Manche Leute nehmen diese Entwicklung mittels der Vision einer
"arabischen
Invasion" wahr, wobei diese Vorstellung bereits wieder dadurch überholt ist,
dass die aus dem Maghreb stammenden Immigranten mittlerweile selbst von den
Wegzugs-Tendenzen betroffen sind. Ihre Zahl in den "verrufenen"
Trabantenstädten nimmt tendenziell eher leicht ab, während die jüngste, sich
dort verstärkt ansiedelnde Bevölkerungsgruppe aus Immigranten aus Westafrika
(Senegal, Mali) besteht. In Wirklichkeit gibt es jedoch natürlich keinen
"Überflutungs"- (die Zahl der Immigranten in Frankreich ist seit Mitte der
70er Jahre im Wesentlichen stabil), sondern einen "Entmischungs"prozess.
Ethnisierung und Selbstethnisierung
Die essentialistischen, ethnisierenden Projektionen auf die Banlieues
und
ihre Bewohner sind wirkungsmächtig. Neueren Datums sind Tendenzen zur
Selbstidentifikation mit angeblichen natürlichen bzw. angestammten
"Identitäten", etwa einer nationalen Herkunft oder einer Religion, denen ein
Teil der (jungen) Bewohner der Trabantenstädte unterliegt.
So gibt es den Diskurs über die angeblichen "islamischen" Banlieues
zwar
schon länger - spätestens seitdem die französische bürgerliche Politik die
Warnung vor der "islamischen Bedrohung des Westens" mit den Geschehnissen im
Iran nach 1979, wo der Ayatollah Khomenei seine Diktatur errichtete,
entdeckte. (Diese Warnung fiel in Frankreich umso stärker aus, als Paris
damals außenpolitisch eng mit dem Krieg führenden Irak, der den Iran im
September 1980 überfiel, verbündet war. Waffenlieferungen an diesen wurden
kaum verhüllt, sondern sehr offen damit gerechtfertigt, das irakische Regime
sei angeblich das Bollwerk der Zivilisation im Kampf gegen die
islamistisch-fundamentalistische Bedrohung.) Anfänglich war dies eine reine
Projektionsleistung: Die Jugend der Trabantenstädte identifizierte sich
keineswegs mit spezifisch "islamischen" Zielen, sondern forderte überwiegend
schlicht gleiche Rechte wie ihre französischen Altersgenossen. So kam es
1983 zum ersten spektakulären Ausdruck dafür, dass politische Bewegung in
die Immigrantenjugend gekommen war, die sich "nicht mehr wie unsere Eltern,
die ohnehin an die Rückkehr in¹s Herkunftland dachten, in Frankreich alles
gefallen lassen" wollte. Es handelte sich um den "Marsch für die Gleichheit"
(la marche pour l¹égalité), einen Fußmarsch über 2.000 Kilometer, der von
Marseille über mehrere französische Städte bis nach Paris führte. Bei ihrer
Ankunft in Paris wurden die Marschierer von 100.000 Menschen empfangen. Ihre
Hauptforderung war, wie bereits der Name der Aktion verriet, die Gleichheit
ihrer sozialen und rechtlichen Lebensbedingungen mit den Franzosen.
Differenzialistische, essenzialistische oder identitätspolitische Anliegen
hatten damals keine Konjunktur.
Das hat sich später in Teilbereichen geändert. Die zahllosen
Enttäuschungen
der Immigrantenjugend von einst und jetzt, vor allem auch gegenüber den (von
1981 bis 2002 mit einigen Unterbrechungen regierenden) Linksparteien als
ehemaligen Hoffnungsträgern, und die zunehmende Auseinanderentwicklung der
Lebensbedigungen haben zu einer gewissen Aufnahmebereitschaft für
kulturalistisch-differenzialistische Strömungen geführt. Das gilt etwa für
islamistische Organisationen oder Kleingruppen, die einen gewissen Zulauf
erfahren, weil manche Jugendlichen glauben, es könne nur noch "Solidarität
unter den eigenen Leuten, also unter Moslems" geben, während man von der
französischen Gesellschaft nicht mehr viel zu erwarten habe. Diese Strömung
existiert in verschiedenen Schattierungen, die von eher
unpolitisch-pietistischen Formationen bis hin zu terroristischen
Kleingrüppchen reichen. Zu letzteren zählen jene, die im Sommer und Herbst
1995, unter Mithilfe von bewaffneten Islamisten aus Algerien, an den
Anschlägen auf französische Metro- und Vorortzüge sowie Wochenmärkte
teilnahmen. (Ihr Anführer Khalid Kelkal wurde Ende September 1995 in der
Nähe von Lyon, nachdem er bereits verletzt am Boden lag, durch die Polizei
kahtbültig "hingerichtet". Wenige Tage später publizierte die Pariser
Abendzeitung 'Le Monde', am 7. Oktober 1995, über mehrere Seiten ein
Interview, das der deutsche Soziologe Dietmar Loch drei Jahre früher, 1992,
mit dem Banlieuejugendlichen Khaled Kelkal geführt hatte. Danach konnte man
besser verstehen, wie Kelkals Weg vom Dasein eines guten Schülers, der
potenziell Zukunftschancen hatte, über Ausgrenzung und Scheitern, dann
anschließende Kleinkriminalität und den Kontakt mit Islamisten im Gefängnis
bis zu seinem dramatischen Ende führen konnte. 'Le Monde' übertitelte einen
scharfsinnigen Kommentar zu diesem Dokument: "Khaled Kelkal, Opfer des
gewöhnlichen Rassismus.") An solchen Extrem-Entwicklungen nahm und nimmt
jedoch nur eine Handvoll Individuen teil. Insgesamt darf der Einfluss der
islamistischen Strömungen in all ihren, gemäßigteren wie extremistischen,
Varianten nicht überschätzt werden. Sie verfügen über ein paar tausend
Sympathisanten, stellen aber keineswegs eine alles mitreißende
Massenbewegung dar. Das von diesen Strömungen propagierte Wiederanknüpfen an
eine vermeintliche Tradition (etwa in Gestalt von Kleidungs- und
Ernährungsvorschriften) ist jedoch in Wirklichkeit eine reine ideologische
Projektion: Die Bindung an solche Traditionen ist, durch den Zerfall der
Überkommenen Familienstrukturen, längst verloren gegangen. Und die von
diesen Gruppen praktizierten Lebensregeln haben meist nichts mit etwa
maghrebinischen Traditionen zu tun, sondern bilden Neuerfindungen oder
Importe aus der Golfregion.
Der Eindruck, sie verfügten über nicht unbedeutenden Einfluss, rührt
weniger
von ihrer eigenen Stärke denn von der Schwäche der meisten anderen
gesellschaftlich-politischen Strömungen in den ghettoisierten
Trabantenstädten her: Überwiegend herrscht dort ein politisch-ideologisches
Vakuum, nachdem die Arbeiterbewegung ihre einstige integrative Wirkung auf
viele Banlieuejugendliche nicht mehr auszuüben vermag. Der gesellschaftliche
Horizont für viele der jungen Bewohner der Trabantenstädten besteht im
Wesentlichen im Zugang zu Markenklamotten und sportartikeln, also zu
Konsumgütern, die einen gewissen sozialen Status in ihrer Umgebung
versprechen. Die verbreitete Kleinkriminalität oder Teilnahme an der
"Parallelökonomie" (Drogen usw.) erklärt sich größtenteils aus dem
Widerspruch zwischen diesen in Banlieues ganz besonders verbreiteten
"Wertvorstellungen" und dem Mangel an finanziellen Mitteln, um sich die
entsprechenden Konsumartikel zu beschaffen. Wer den Zugang zur glitzernden
Konsumwelt nicht schafft und aus der Arbeitswelt ausgegrenzt bleibt,
verhilft sich dann mitunter mit risikoreichen, aber starke Emotionen
verschaffenden Betätigungen wie etwa "Rodeos" genannten Rennen mit, zum
kurzfristigen Gebrauch aufgebrochenen, Autos. Die oft brutalen Reaktionen
der staatlichen Ordnungskräfte auf solche Verhaltensweisen erklären eine
gewisse Zahl von, alle paar Monate zu verzeichnenden, Todesfällen bei
Verhaftungen oder Fluchtversuchen. Solche Todesfälle von Jugendlichen der
Trabantenstädten führen dann noch am ehesten zu kollektiven
gesellschaftlichen Reaktionen der Bewohner, deren Wut sich dann für einige
Tage gegen Sicherheitskräfte und Staatssymbole entlädt.
Eine andere, in "Identitätssuche" wurzelnde, besonders hässliche
Erscheinungsweise sind die in den Jahren seit 2000 verzeichneten Übergriffe
auf jüdische Personen, die es in einigen Banlieues gegeben hat. Die dort
lebenden Juden und Jüdinnen sind oft selbst, wie ihre "arabischen" Nachbarn,
nach der Entkolonisierung aus Nordafrika zugewandert dorther stammen etwa
60 Prozent der heute in Frankreich lebenden Juden. Ihnen liegt eine Form
spontaner Identifikation mit der palästinensischen Bevölkerung zugrunde, die
jedoch oft nicht mit Kenntnissen über den realen Konflikt angereichert wird.
Dabei wird die eigene Erfahrung (früherer Generationen) mit der europäischen
Kolonisierung mit dem israelischen Verhalten gegenüber den Palästinensern
identifiziert. Jedenfalls in einigen Fällen wird diese
Freund-Feind-Identifikation dann auch bedenkenlos auf das Zusammenleben der
Bevölkerungsgruppen in Frankreich übertragen, und werden die französischen
Juden mit für die Politik der israelischen Rechtsregierung haftbar gemacht.
Ferner wird der jüdischen Bevölkerung in Frankreich vorgeworfen, sich
leichter integrieren zu können und materiell besser dazustehen; allerdings
leben von den aus Nordafrika eingewanderten Juden viele ihrerseits in
bescheidenen oder armen Verhältnissen.
Ein anderes Produkt dieser Rezeptionsweise des Nahostkonflikts bilden
die
begrenzten Wahlerfolge einer, mit kommunitaristischem Populismus
operierenden, pro-palästinensisch auftretenden Kleinpartei bei den jüngsten
Europaparlamentswahlen (vom 13. Juni 04) in einigen Pariser
Trabantenstädten. Die Liste Euro-Palestine erhielt zwar nur 1,8 Prozent in
der gesamten Hauptstadtregion (in anderen Regionen trat sie nicht), und
blieb etwa in der Stadt Paris selbst auf dem Niveau einer Splitterpartei. In
einigen Trabantenstädten, vor allem den weit vom städtischen Zentrum
entfernten, wie Garges-lès-Gonnesse 15 Kilometer nördlich der Pariser
Stadtgrenze (wo die Liste mit knapp 11 Prozent ihr höchstes Ergebnis
erhielt), erhielt sie jedoch deutlich höhere Prozentanteile. In manchen
Hochhaussiedlungen verzeichnete sie 20 Prozent der Stimmen. Größere Teile
der (überwiegend nicht-völkischen) französischen Palästinasolidarität ebenso
wie die PLO-Repräsentantin in Frankreich, Leila Schahid, hatten sich vor der
Wahl von dieser populistisch-kommunitaristischen Liste distanziert. Ihr
hohes Abschneiden in einzelnen Örtlichkeiten widerspiegelt auch einen
identitätspolitischen Identifikationswunsch. Dieses Symptom darf freilich
nicht überberwertet werden, zumal die Wahlbeteiligung an den betroffenen
Orten oft ausgesprochen gering ausfiel.
Medien- und politischer Diskurs
Vor allem der Wahlkampf zu den letzten Präsidentschaftswahlen 2001/02,
der
rund um die "Innere Sicherheits"problematik zentriert war, arbeitete sehr
stark mit diesen Assoziationsketten. Aufgrund des zeitlichen
Zusammentreffens mit den Folgewirkungen des 11. September 2001 wurde in
Politik und Medien von mehreren Seiten ein zwar mitunter nur schemenhaft
angedeuteter, aber dennoch klarer Zusammenhang hergestellt: Banlieue-Jugend
bedeutet Araber, Araber bedeutet Kriminelle und/oder Islamisten, der
Übergang zum Terrorismus ist da ein kleiner Schritt... Beispielhaft zitiert
sei ein Beitrag des damaligen (inzwischen verstorbenen) Redakteurs der
Kommentarseite der Pariser konservativen Tageszeitung Le Figaro, Max Clos,
eines Rechtsauslegers im bürgerlichen Lager. Clos berichtete Ende September
01 über eine Demonstration von Immigrantenjugendlichen gegen die
Polizeigewalt in den Banlieues - anlässlich des Prozesses gegen einen
Polizisten, der in Mantes-la-Jolie zehn Jahre zuvor einen 18-jährigen
getötet hatte und nach langjähriger Verschleppung endlich vor Gericht
erscheinen musste. Clos kommentierte die Bilder der Demonstration, die von
einer eher linken Immigranten-Selbstorganisation angeleiert worden war und
die weder mit der islamischen Religion noch mit den Attentaten von New York
auch nur das Geringste zu tun hatte: "Abbild eines pazifistischen Islam? Ein
’Heiliger Krieg¹ ist dem Westen erklärt worden. Wir sind in Gefahr, in einer
Notwehrlage, und der Feind ist identifiziert. Wir haben die Wahl, zu kämpfen
oder uns wie Schafe abschlachten zu lassen.² Um hinzuzufügen: "Wer sind die
Opfer, die 7.000 Toten von New York oder die Moslems?" Als ob dies irgend
etwas mit dem Anliegen der Demo zu tun gehabt hätte.
Bekanntermaßen war die Präsidentschaftswahl vom 21. April 2002 vom
überraschend hohen Abschneiden der extremen Rechten gezeichnet, deren beide
Kandidaten (Jean-Marie Le Pen und der später in der Bedeutungslosigkeit
versunkene Bruno Mégret) später zusammen über 19 Prozent der Stimmen
erhielten. In fast allen Kommentaren wurde daraufhin auf die hohe
Verantwortung des Mediens und vor allem des Fernsehens, mit ihrer oft
reißerischen Berichterstattung über Kriminalitäts- oder
"Sicherheitsproblematik" und Banlieues, hingewiesen. Insbesondere wurde
aufmerksam registriert, dass die Stimmabgabe für Jean-Marie Le Pen (bis
dahin ein überwiegend urbanes Phänomen, das kaum die ländlichen Regionen
betroffen hatte) nunmehr auch in weiter ab von den Ballungszentren gelegenen
Landstrichen zugenommen hatte. Auf Nachfragen von JournalistInnen, die den
dortigen BewohnerInnen vorhielten, dass es bei ihnen doch kaum Straftaten
und mitunter keinen einzigen Immigranten gebe, wurde immer wieder
geantwortet, das habe man doch im Fernsehen gesehen (nämlich in den
Berichten über die Banlieues!), und man wolle verhindern, dass es "hier auch
so wird".
Ein Teil der Medien hat seitdem eine gewisse Selbstkritik beherzigt,
die
besonders sensationsgierige Berichterstattung über die "Banlieue-Probleme"
ist seitdem um einiges zurückgegangen. Dazu trägt sicherlich auch bei, dass
die seit Juni 2002 amtierende konservative Regierung eine neue
Krisenverwaltung bezüglich der Banlieues praktiziert, so dass sie ein
Interesse daran hat, dass die Probleme in den Medien weniger dramatisch
inszeniert werden. So hat der von Juni 2002 bis April 2004 amtierende
Innenminister (und jetzige Wirtschaftsminister) Nicolas Sarkozy einerseits
eine wesentlich verschärfte polizeiliche Sicherheitspolitik initiiert, die
im Wesentlichen auf die Banlieues ausgerichtet ist. So wurde bei seinem
Amtsantritt ein Programm durch die Regierung lanciert, das in dieser
Legislaturperiode die Einstellung von 13.500 neuen Polizisten und Gendarmen,
die Schaffung von 11.000 zusätzlichen Haftplätzen sowie von 10.000 Stellen
im Justizapparat beinhaltet. Andererseits erprobte derselbe Minister Sarkozy
eine Politik mit neuen Integrationsangeboten, die sich besonders (explizit)
an konservativ-religiöse und islamistische Gruppen richten, die zu
institutionalisierten Ansprechpartnern aufgebaut wurden. Dabei wurde in
Umrissen eine Politik erkennbar, die den fehlenden Sozialstaat durch
bestimmte vom Staat eingegrenzte - Freiräume für religiöse Akvititäten
ersetzt. (Der Amtsnachfolger des Ministers, Dominique de Villepin, ist
bisher auf diesem Gebiet weit zögerlicher vorgegangen.)
Ferner setzt der seit 2002 Sozialminister Jean-Louis Borloo auf eine
neue
Städtebaupolitik, die etwa die Zerstörung einiger besonders starker
Wohnkonzentrationen in sozialen "Brennpunkten" beinhaltet. Im Frühsommer
2004 beispielsweise kam es zur, als Medienspektakel inszenierten, Sprengung
mehrerer Plattenbau-Riegel in der besonders bekannten Pariser Trabantenstadt
La Courneuve. Die in früheren Jahrzehnten praktizierte Politik der
Konzentration "sozialer schwacher" Einwohnerschaften in Hochhaussiedlungen,
Wohntürmen und Plattenbauten soll einer neuen baulichen "Auflockerung"
weichen. Auch soll es einen neuen Schub von Umzügen in Eigentumswohnungen
(also Reihenhäusern u.ä.) geben, indem es der Zugang zu ihnen erleichtert
wird das betrifft jene in den Trabantenstädten, die sozial noch nicht auf
dem unteresten Ast angekommen sind. Und die anderen? Auch sie sollen
künftig, wenn einige Wohnkonzentrationen aufgelöst sind, in kleineren
Einheiten angesiedelt werden. Diese werden dann nur eben geographisch noch
weiter weg von den städtischen Zentren liegen, nicht mehr 15 Kilometer,
sondern vielleicht 40 Kilometer. Durchaus erwünschter Nebeneffekt, die mit
der (an sich ja durchaus diskutierbaren) Idee einer vorgeblichen
Humanisierung der Architektur legitimiert wird: Eine künftige stärkere
Vereinzelung und Zerstreuung potenzieller sozialer Unruhepotenziale.
Editorische Anmerkungen
Diesen Artikel schickte uns
der Autor am 2.12.2004 in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung.
Eine Kurzfassung erschien in: Antifaschistisches Infoblatt (AIB) Nr. 64,
Herbst 2004.
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