9. November 1938
Ordinary Germans – Pogromnacht und Tätervolk.

von Gruppe Casablanca, November 2003.

12/03
 
 
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Der 9. November 1938: Angeführt von SA-Trupps, werden in Deutschland nahezu sämtliche Synagogen in Brand gesteckt und mehr als 7.500 jüdische Geschäfte zerstört. Im Verlauf der Pogromnacht wird die jüdische Bevölkerung durch die Straßen gejagt. Etwa 100 Jüdinnen und Juden werden ermordet; zugleich werden mehr als 30.000 verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. In Köln brennen die Synagogen in der Glockengasse und der Roonstraße aus, die Synagoge in der St.-Apernstraße wird demoliert. In den Vororten werden die Synagogen von Deutz und Mülheim verwüstet, die erst 1927 eingeweihte Synagoge in Ehrenfeld mit dem Gemeindehaus völlig niedergebrannt; zahlreiche Geschäfte und Wohnhäuser werden verwüstet.

Die Pogrome des 9. und 10. November zeitigen die von den Nazis gewünschten Ergebnisse. Die Konstruktion eines inneren Feindes ist gelungen; die völkisch-antisemitische Mobilisierung stiftet eine klassenübergreifende Identität - es soll keine Parteien mehr geben, sondern nur noch Deutsche. Die Volksgemeinschaft formiert sich, während die jüdischen EinwohnerInnen flüchten - 1938/39 verlassen mit rund 118.000 genau so viele Jüdinnen und Juden Deutschland wie in den fünf Jahren zuvor. Dafür, dass sie gezwungenermaßen auswandern, müssen sie noch zahlen, nämlich eine so genannte Reichsfluchtsteuer. Die Einnahmen aus ihr steigen 1938/39 von vorher durchschnittlich 20 Millionen auf 140 Millionen Reichsmark - die Reichspogromnacht zahlt sich im wahrs­ten Sinne des Wortes aus. In der weiteren Folge ordnen die Nazis nun die vollständige Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus allen Zweigen der Wirtschaft sowie aus der deutschen Öffentlichkeit an.

Im Zuge der Arisierung wird außerdem Schritt für Schritt das gesamte jüdische Vermögen beschlagnahmt und durch die Finanzämter bürokratisch verwaltet. Behörden und Unternehmen bereichern sich; der Rest wird unter der deutschen Bevölkerung versteigert, die zumeist ohne jeden Skrupel zugreift. Der Verwertung folgt die Vernichtung. Schon drei Tage nach der Pogromnacht droht Hermann Göring den Jüdinnen und Juden die »endgültige Abrechnung« an, falls Deutschland in einen außenpolitischen Konflikt gerate. Der Weg der Endlösung der Judenfrage führt von der Ghettoisierung über die Deportationen und endet schließlich in der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch Erschießungen und in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern.

Schon am 1. April 1933, zwei Monate nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, vollzieht sich mit dem staatlich geplanten reichsweiten Boykott der jüdischen Geschäfte, Betriebe, Praxen der erste entscheidende Schritt auf dem Weg in die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung.

Vorbereitet durch eine gezielte Kampagne, durch Aufrufe und Hetzparolen in den Zeitungen wird der Boykott am 1. April und den folgenden Tagen auch in Köln systematisch durchgeführt. Fensterscheiben und Wände jüdischer Häuser werden mit antisemitischen Diffamierungen beschmiert, vor den jüdischen Geschäften stehen SA- und SS-Posten, um die Ein- und Ausgehenden zu kontrollieren und unter Druck zu setzen. Juden und Jüdinnen werden misshandelt, die jüdischen Juristen des Kölner Gerichtes am Reichensperger Platz werden im Gericht »festgenommen« und auf einem Wagen der Müllabfuhr zusammengepfercht durch die Stadt gefahren.

Der jüdische Metzgermeister Arnold Katz und sein Sohn Benno werden von SA-Leuten eingekeilt durch die Stadt getrieben. Sie werden gezwungen, antisemitische Hetzplakate zu tragen und dabei von Kölner BürgerInnen angespuckt, geschlagen und diffamiert.
Am 7. April 1933 folgt das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, de facto der Ausschluss jüdischer, politisch missliebiger BeamtInnen und der Frauen aus dem Staatsdienst. Mit den Nürnberger Gesetzen von 1935 verlieren die Jüdinnen und Juden die deutsche Staatsbürgerschaft und sämtliche politischen Rechte.
Seit Beginn des Jahres 1938 verschärft sich die sogenannte Judenpolitik des nationalsozialistischen Staates erheblich.

Eine neue Phase der antijüdischen Maßnahmen wird schließlich durch die so genannte Polenaktion und das kurz darauf folgende Pogrom vom 9./10. November 1938 eingeleitet.

Ende Oktober werden völlig überraschend und äußerst brutal ca. 15.000 der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit über die Grenze nach Polen abgeschoben. In Köln findet diese erste Deportation am 28. Oktober statt und betrifft einige hundert Menschen, die über ihre Abschiebung nur wenige Stunden vorher benachrichtigt werden. Da die polnische Regierung sie nicht einreisen lassen will, müssen die Abgeschobenen zum Teil mehrere Wochen im polnischen Grenzland überleben, bevor sie schließlich doch nach Polen oder in ein Drittland einreisen können.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November werden die Deutschen vom Geräusch splitternden Glases, dem Flammenschein und dem Geruch brennender Synagogen und von den Verzweiflungsschreien der Juden und Jüdinnen geweckt, die von ihren Landsleuten zusammengeschlagen werden.

In Köln beginnt die Brandstiftung in den Synagogen und Bethäusern morgens um vier Uhr, ab sechs Uhr dann die Zerstörung und Plünderung von Läden und Häusern. Etwa 800 jüdische Männer werden von der Kölner Gestapo verhaftet und nach Dachau verschleppt. Der Ehrenfelder Friseur Moritz Spiro wird bei den Ausschreitungen so schwer misshandelt, dass er an den Folgen der Verletzungen stirbt.
Nach dem 9./10. November verschärft sich die antisemitische Politik erheblich. Jüdische Kinder dürfen nun keine »deutschen« Schulen mehr besuchen. Bis zum 1. Januar 1939 werden alle Juden aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen und zur Zwangsarbeit genötigt.

In der Endphase der Arisierung zwischen 1938 und 1944 »kaufen« nichtjüdische KölnerInnen 735 Grundstücke und Häuser aus jüdischem Besitz.
Den jüdischen MieterInnen wird 1939 der Mieterschutz entzogen. Im Mai 1941 verfügt die Kölner Gestapo, die Juden und Jüdinnen in so genannten Judenhäusern zusammenzulegen. Daraufhin werden viele Menschen in das Barackenlager am Fort V in Müngersdorf eingewiesen. Dies ist auch die letzte Adresse der Gemeinde. Die Ghettoisierung erfolgt als Vorbereitung auf die Deportation in die Vernichtungslager.
Nachdem 1938 die Reisepässe bereits mit einem »J« gestempelt und Anfang 1939 die Vornamen »Sara« und »Israel« verpflichtend eingeführt worden sind, müssen ab dem
1. September 1941 alle Jüdinnen und Juden in der Öffentlichkeit den Judenstern tragen.
Am 22. Oktober 1941 geht der erste Transport von Köln nach Lodz, der letzte bekannte am 1. Oktober 1944 nach Theresienstadt. Unmittelbar vor den Transporten dienen die Messehallen in Köln-Deutz als Sammellager; vom Bahnhof Deutz-Tief fahren die Transporte ab. Für die meisten Deportierten sind Lodz, Theresienstadt und andere Ghettos und Lager im Osten nur eine Durchgangsstation: Von hier aus erfolgt die Deportation in die Vernichtungslager, in den fast sicheren Tod.

Ende 1944 gibt es außer wenigen, denen es gelingt unterzutauchen, keine Juden und Jüdinnen mehr in Köln. Als die amerikanischen Truppen am 6. März 1945 Köln besetzen, können sie nur noch 30 bis 40 jüdische Menschen in Köln befreien.
Am 29. April 1945 wird unter Leitung eines amerikanischen Feldrabbiners in den Trümmern der Synagoge Roonstraße der erste Gottesdienst nach den Jahren der Verfolgung und Ermordung abgehalten.

In den heutigen Erinnerungen an den 9. November 1938 wird vor allem auf die staatliche Planung der Pogromnacht abgestellt. Die Verantwortlichkeit für ihre Ausführung scheint sich auf die SA zu reduzieren. In diesem Bild wird die bereitwillige Beteiligung der deutschen Bevölkerung faktisch entschuldigt - sie sei eben »verführt« und »verblendet« gewesen. Alles, was man ihr vorwirft, ist »weg gesehen« zu haben. Diese Sichtweise unterschlägt absichtlich, wie begeistert und freiwillig die meisten Deutschen hinter dem Nationalsozialismus standen. Sie begreift dessen Massenbasis als eine ausschließlich durch Manipulation »von oben« zu Stande gekommene. Vor diesem Hintergrund gehört es selbst in konservativen Kreisen gewissermaßen zum guten Ton, den 9. November 1938 als Gedenktag zu »begehen« und dabei so zu tun, als ob im Nachkriegs-Deutschland mit dessen gesellschaftlichen und ideologischen Voraussetzungen gebrochen worden sei.

Die Vorstellung, deutscher Fleiß und Trümmerfrauen hätten das angebliche Wirtschaftswunder hervorgebracht und dazu geführt, dass Deutschland die führende europäische Wirtschaftsmacht geworden ist, prägt die deutsche Sicht auf Geschichte und Gegenwart. Der psychologische Effekt - trotz der Entrechtung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden und dem Vernichtungskrieg aus »eigener« Kraft »wieder wer zu sein« - hat verheerende Auswirkungen auf das heutige Bewusstsein der Deutschen. Nach 1989, dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten und der sogenannten Wiedervereinigung treten die Folgen immer offener zu Tage.
Nach dem ersten Angriffskrieg Deutschlands seit 1945, der mit einem zynischen »Nie wieder Auschwitz« (auf dem Balkan!) des deutschen Außenministers Joseph Fischer legitimiert worden ist, und der Abwehr von Sammelklagen gegen deutschen Unternehmen in den USA durch das noch nicht einmal eingelöste Versprechen eines Almosens an die noch lebenden ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, kapriziert sich die deutsche Aufmerksamkeit inzwischen auf das eigene erlittene Leid.

Öffentliche Debatten heizen - als Tabubruch deklariert - die Selbstwahrnehmung der Deutschen als Opfer an. In neuer aggressiver Qualität wird die Erzählung von Bombennächten und Vertreibung vertieft: in Literatur (Grass: Im Krebsgang, Schlink: Der Vorleser u.a.), in unendlichen Doku-Sendungen des Fernsehens und in Sachbüchern (Friedrich: Der Brand). Die Folge ist eine tiefgreifende Täter-Opfer-Verkehrung, die die wahren Verfolgten verdrängt und die deutschen TäterInnen entschuldet. Im gleichen Atemzug aber, da die eigene Tätergeschichte endgültig entsorgt wird, also eigentlich keine Deutschen mehr schuldig waren, werden in den Israelis - den Juden - die wahren Täter von heute ausgemacht.

Es gilt, Antisemitismus in jeglicher Form zu bekämpfen, gleich in welcher Gestalt er sich äußert: als Friedhofsschändung; in Gestalt eines Herrn Hohmann von der CDU Hessen, der doch einmal darauf hinweisen muss, dass eigentlich die Juden »schuld an der Oktoberrevolution« und damit auch ein Tätervolk seien; oder - und das ist eine der am weitesten verbreiteten Formen des Antisemitismus heute - im Gewand des Antizionismus.
Die europäische Bevölkerung hat mit einer Mehrheit von 59% Israel zur »größten Gefahr für den Weltfrieden« erklärt. Da kann es dann auch nicht mehr verwundern, dass aller Orten unverhohlene Sympathie oder doch mindestens Verständnis für die SelbstmordattentäterInnen und ihre Finanziers geäußert wird.

Nie wieder Auschwitz heißt: Kampf dem Antisemitismus auf allen Ebenen und daher auch und vor allem Solidarität mit Israel.

Editorische Anmerkungen:

Der Text ist eine Spiegelung von
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