"Jähe Wendungen sind möglich"

Peter Wahl über Attac nach Florenz, die bundesdeutsche Situation und den neuen Antikapitalismus
12/02
 
 
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Die Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung wächst und wächst, das haben die Tage von Florenz eindrucksvoll gezeigt. In einem gewissen Widerspruch dazu waren aus Deutschland weniger als 1000 Menschen nach Florenz gekommen. Wie erklärst du dir diese Diskrepanz?

Solche Mobilisierungen finden nach wie vor wesentlich national statt. Ausländische Delegationen sind bei solchen Treffen vergleichsweise klein. Auch in Barcelona oder Seattle waren es 90 Prozent Inländer, die dort teilgenommen haben. Daran wird sich vermutlich nichts grundsätzliches
ändern.

Andererseits ist es natürlich richtig, dass die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer überdurchschnittlich schwach vertreten waren. Da spielen einige spezifische Züge der deutschen Situation mit hinein. Zum Beispiel die Position der Bundesregierung zum Irakkrieg. Das nimmt uns schon etwas den Wind aus den Segeln, wie man auch beim bundesweiten Aktionstag der Friedensbewegung sehen konnte.

Andererseits war Attac als sicherlich wichtigstes Mobilisierungspotenzial für solche Veranstaltungen ziemlich ausgelaugt durch den Aktionstag am 14.9. in Köln, der für uns eine große Kraftanstrengung war. Hinzu kam die Belastung durch den Umzug des Büros, so dass der kleine Apparat keine volle Leistung bringen konnte.

Die Situation in Deutschland ist generell im Augenblick für Attac ausgesprochen ambivalent. Durch die sich im Augenblick abzeichnende deflationäre Entwicklung stehen Fragen sozialer Sicherung und Arbeitsmarktfragen im Zentrum der innenpolitischen Entwicklung. Dies sind
nicht die originären Themen von Attac, obwohl es natürlich einen Zusammenhang zur neoliberalen Globalisierung gibt. Traditionell sind es aber andere Akteure, die auf diesem Feld eine führende Rolle einnehmen. Das wird ja zur Zeit auch in der Rolle der Gewerkschaften sichtbar, die dabei sind, sich stärker zu mobilisieren und zu artikulieren.

Andererseits stimmt natürlich, dass die krisenhafte Zuspitzung, die sich nun abzeichnet, das Potenzial für Mobilisierungen und neue Bündnisse erweitert.

Wenn du sagst, dass mobilisierungsmäßig nach dem 14.9. die Luft raus ist, schlägt sich dies auch in der organisatorischen Entwicklung von Attac nieder?

Der Mitgliederzuwachs hält an. Wir haben vor kurzem die 10000-Mitglieder-Grenze überschritten und haben nach wie vor durchschnittlich 100-150 neue Mitglieder wöchentlich. Das geht konstant
weiter.

Im Zentrum der Diskussionen von Florenz stand der weiterhin drohende Irakkrieg. Man kann das als Ablenkung vom eigentlichen Kampf gegen den Neoliberalismus ansehen. Man kann aber auch aufzeigen, dass die neuen Kriege gleichsam die politisch-militärische Seite der Globalisierung zum Ausdruck bringen. So gesehen ist Florenz ein Zeichen auch für inhaltliche Reife und Wachstum. Attac hatte bisher jedoch Probleme, das Kriegsthema zu einem Schwerpunkt der eigenen Arbeit zu machen.

Unsere Position dazu beruht im wesentlichen auf zwei Säulen: Zum einen sagen wir, dass es darauf ankommt, die Kriegsfrage mit der Kritik an der krisenträchtigen Entwicklung der Globalisierung zu verknüpfen - genau wie du es eben formuliert hast. Auf Dauer ist diese ungerechte, einen Crash nach dem anderen produzierende Form von Globalisierung ohne Gewalt und Militarisierung der Außenpolitik gar nicht aufrecht zu erhalten. Das bedeutet auch, dass wir mit der einfachen Formel "Kein Krieg in Irak" nicht so glücklich sind. Wir sollten dies, zumindest von Attac aus, in einen breiteren Kontext stellen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil wir uns sonst kaum noch von der Bundesregierung abheben.

Die zweite Säule unserer Haltung zum Krieg: Attac ist Bestandteil der Friedensbewegung, aber wir wollen die Friedensbewegung nicht ersetzen und erst recht wollen wir darin keine führende Rolle anstreben.

In einem Beitrag zur Auswertung von Florenz hast du selbst geschrieben, dass die alten Dialog- und Lobby-Strategien an ihre Grenzen geraten und es zunehmend darauf ankommt, eine grundlegende gesellschaftliche Alternative zu entwickeln. In einem Radiointerview hast du davon gesprochen, dass wir wieder über den Sozialismus reden müssen. Was verstehst du darunter?

Ich beobachte, dass im Prozess dieser relativ dynamischen globalisierungskritischen Bewegungen das funktioniert, was wir eigentlich anstreben, dass nämlich politisches Bewusstsein entsteht, dass Lernprozesse entstehen. Das bedeutet, dass die Leute bei der Wahrnehmung,
Interpretation und theoretischen Verarbeitung feststellen, dass die Probleme zumeist strukturelle, systemische Ursachen haben. So kommt plötzlich das Thema des kapitalistischen Wirtschaftssystems als solches in den Blick. Das finde ich ausgesprochen positiv. Und insoweit sich dieser Prozess aus dieser Dynamik heraus entwickelt, ohne dass dem von außen eine
künstliche Radikalisierung aufoktroyiert wird, dann muss sich diese "natürliche" Radikalisierung des Denkens langfristig auch in Programmen und Konzepten niederschlagen. So werden grundsätzlichere Alternativen auch zum Kapitalismus wieder diskursfähig. Was dann dabei heraus kommt, ist eine andere Frage und hängt ab von der Dynamik der nicht nur nationalen Gesamtentwicklung. Ob dann wieder die Rede von Sozialismus ist, steht auf einem anderen Blatt. Es gibt Begriffe, die sind historisch verbraucht.

An welche Elemente der sozialistischen Tradition denkst du dabei?

Ein Begriff scheint mir in der Debatte eine besondere Rolle zu spielen, und zwar der der gesellschaftlichen Kontrolle und des öffentlichen Zugangs zu Ressourcen. Hier spielt nicht nur die Eigentumsfrage rein, sondern auch ein Demokratieaspekt, das Entscheiden über die eigenen Lebensbedingungen. Das geht weit über den auf parlamentarische Demokratie verengten Demokratiebegriff hinaus.

Welche Gruppen und welche Milieus wären denn in Deutschland Ansprechpartner und Zielgruppen für eine solche Sozialismusdiskussion? In den führenden gesellschaftlichen Gruppen, von den Gewerkschaften bis selbst zur PDS wird nicht gerade sehr intensiv über solch grundsätzliche
Alternativen diskutiert, bestenfalls über die Verbesserung der bestehenden Gesellschaft. Setzt du auf die sich scheinbar entwickelnde neue Jugendbewegung oder mit wem möchtest du das diskutieren?

In erster Linie wird es diese Bewegung sein, aus der heraus so etwas entwickelt wird. Es gibt aber auch in anderen Milieus Diskussionen in diese Richtung, an den Rändern der Kirchen bspw. Und was den gewerkschafts- und parteipolitischen Raum angeht, denke ich, dass es die reale Entwicklung sein wird, die diese Fragen wieder auf die Tagesordnung setzt.

Beispiel Argentinien: Man findet dort nicht mehr mit konventionellen Reformkonzepten einen Ausweg aus der Krise. Die neoliberalen Methoden machen alles noch schlimmer. Andere Lösungen erscheinen auf den ersten Blick radikal, sind aber die einzigen, die überhaupt noch machbar sind. Im Umgang mit dem Finanzsektor muss es z.B. darum gehen, dessen Schlüsselbereiche unter gesellschaftliche Kontrolle zu stellen. Sonst kann man bspw. die Kapitalflucht nicht abbremsen.

Auch in der Bundesrepublik können wir in Fahrwasser geraten, wo sich ähnliche Situationen herausbilden. Ich glaube nicht daran, dass die Hartz-Konzepte die Arbeitslosigkeit reduzieren werden. Und manche Gewerkschaften beginnen bereits jetzt, andere Fragen wieder zu stellen.
Die Situation ist ambivalent. Es ist möglich, dass in dieser Republik in den nächsten ein bis zwei Jahren Verwerfungen auftreten können, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr kennen.

Allerdings muss man vorsichtig sein, denn solche Prozesse führen nicht automatisch zu einer emanzipatorischen Politik. Im Gegenteil kann sich die Situation dramatisch nach rechts verschlimmern, das ist eine große Gefahr. Attac versteht sich dagegen als eine emanzipatorische Antwort auf die Globalisierungsängste, aber ich habe nicht den Eindruck, dass wir schon so stark sind, dem gefährlichen politischen Potenzial, das dort lauert, wirklich etwas entgegensetzen zu können.

Es könnte sich erweisen, dass wir an einem historischen Scheideweg der bundesdeutschen Geschichte stehen, dass neue Spieler von rechts auftreten, dass sich aber auch auf der Linken neue Spieler profilieren. Oder dass alte Spieler schnelle Wandlungen durchmachen.

Ich weiß nicht, ob gerade Ver.di nicht doch ein interessantes Gegengewicht gegen den neoliberalen Kurs bilden könnte. Gerade Bsirskes Absage der Teilnahme in Florenz zeigt, wie sehr auch er an das politische Establishment gebunden ist. Der Grund, warum er nicht gekommen ist, scheint m.E. gerade darin zu liegen, dass er die innenpolitische Auseinandersetzung sehr ernst genommen hat. Ich glaube nicht, dass er einen Rückzieher aus politischen Gründen gemacht hat. Er wäre natürlich in eine schwierige Situation gekommen, wenn er vor einem Publikum aufgetreten wäre, dass einen gewissen Inhalt erwartet und wenn dieser Inhalt dann in die hiesige Presse transportiert worden wäre.

Das ist gar nicht so entscheidend, ob er aus diesen oder anderen Gründen weggeblieben ist. Selbst wenn du Recht hast, verweist auch dies darauf, das etwas so in Bewegung geraten ist, dass es wichtig ist, den Vorsitzenden der größten Einzelgewerkschaft "an die Kandare zu nehmen". Das verweist auf Widersprüche, die da am Werk sind.

Auch an dem Brüning-Vergleich von Lafontaine ist ja durchaus was dran. Die Empörung in der SPD ist ja deswegen so scharf, weil sie sich getroffen fühlen. Es erscheint mir außerordentlich wichtig, dass wir eine Sensibilität und Offenheit entwickeln für diese schnellen und möglicherweise jähen Wendungen der politischen Situation, in der wir uns befinden. Auch die weltpolitischen Bedingungen sind ja nicht alltäglich, alles andere als "business as usual".

Bewegung bedarf immer der Organisation. Porto Alegre wäre ohne Gewerkschaftsstrukturen und ohne die Arbeiterpartei nicht denkbar. Florenz wäre ohne die kämpferischen Gewerkschaften und ohne Rifondazione Comunista nicht möglich gewesen. Beides haben wir in dieser Form nicht. Kann Attac Deutschland das ersetzen?

Unsere Möglichkeiten als Attac sind beschränkt. Unter bundesdeutschen Bedingungen werden bedeutende Veränderungen nur möglich sein, wenn es gelingt, nennenswerte Teile der Gewerkschaftsbewegung ins Boot zu bekommen und bestimmte Ränder von SPD, Grünen und PDS. Das ist zur Zeit außerordentlich schwierig, aber auch hier hoffe ich auf rasche Lernprozesse. Alles andere wäre Subjektivismus.

Zur Verbreiterung einer Bewegung durch Organisation gehört auch die Frage nach Gegenöffentlichkeit. Die bundesdeutsche Presselandschaft ist nicht nur fest in neoliberaler Hand, sie spielt sogar eine treibende Rolle in der Durchsetzung neoliberaler Gedanken und Programmatiken. Die linke Gegenöffentlichkeit ist dagegen stark fragmentiert und ghettoisiert. Müssen wir nicht auch über eine neue publizistische Form der Gegenöffentlichkeit nachdenken?

Das Problem, dass wir in einer Mediengesellschaft leben, ist eine völlig neue und fundamentale Herausforderung. Und es gibt bisher keine adäquaten Antworten dazu. Es ist bspw. umstritten, inwieweit man sich mit den Mainstreammedien einlassen kann und wo die Grenzen sind. Mir scheint beim gegenwärtigen Stand der Dinge, dass wir darauf angewiesen sind, ob es uns passt oder nicht, so etwas wie eine Differenzierung zumindest bei den halbwegs seriösen Mainstreammedien zu erreichen. Ansätze sehe ich bei einigen Printmedien, und manchmal bei der ARD, aber das bleibt ein unberechenbarer Faktor.

Selbst wenn man Einfluss auf diese Medien haben möchte, ist es sinnvoll, eigene Medien zu haben. Attac ist gut im Internet vertreten, aber es gibt keine vergleichbare bundesweite Zeitung, über die ich mich über die für diese Bewegungen notwendigen Positionen und Diskussionen informieren kann.

Eine solch bundesweite Diskussion ist bisher kein Thema in Attac gewesen, steht uns aber bevor. Wir brauchen eine viel gründlichere Strategiedebatte und eine stärkere Politisierung innerhalb Attacs und im Verhältnis zu unseren möglichen Bündnispartnern. Es kommt aber in der Politik nicht nur darauf an, das richtige zu sagen oder vorzuschlagen, das muss auch zum richtigen Zeitpunkt kommen.

Anfang Januar treffen sich deutsche Florenzteilnehmer, um über die Möglichkeit eines deutschen Sozialforums nachzudenken. Verstehst du diese Diskussionen eher als Ergänzung oder eher als Konkurrenz zu Attac?

Das ist eine Ergänzung und wir haben deshalb auch beschlossen, uns in diesen Prozess einzubringen. Wir können nur hoffen, dass er möglichst breit und erfolgreich wird.

Editorische Anmerkungen

Peter Wahl ist Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Weltwirtschaft,
Ökologie & Entwicklung (WEED) und Mitglied des Koordinierungskreises von
Attac Deutschland. Das Gespräch für die SoZ führte Christoph Jünke. Es erschien on Erschienen in: SoZ/Sozialistische Zeitung, 17.Jg., Nr.12, Dezember 2002.

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