Skizzen zu einer Erkenntnistheorie
der Kultur

Zur Entstehung und Entwicklung seelischer Verhältnisse, der bürgerlichen Kultur und des Faschismus

von Wolfram Pfreundschuh

12/02
 
 
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Auszug aus der Einleitung in eine Theorie der
Selbstwahrnehmung als Prozess der kulturellen Selbstentfremdung

Erkenntnis und bedrängte Wahrheit 

Erkenntnis kann nur in Not sein, wenn sie durch Kenntnis bedrängt wird (157). Sie kann aber auch nur bedrängt werden, wenn sie nicht kennt, was ihr vorausgeht. Die Bedrängnis der Erkenntnis ist unnötig, wenn Kenntnis als Inhalt, als Geschichte der Erkenntnis in ihr fortbesteht. Für sich und von ihr getrennt ist sie tot, Kenntnis ohne Gewissheit. Gibt sie sich als Inhalt der Erkenntnis, ohne sich darin auszudrücken, ohne hierin tätig zu sein, so gibt sie sich als Form der Erkenntnis, die über sie hinweg besteht als das Bekannte, das sich selbst verstehende, das Selbstverständliche, das keine Wahrheit nötig hat, weil es durch sich selbst schon ist.

Wahrheit ist Identität von Sinn und Sein (175). In der Wahrnehmung wird einem Menschen gewahr, was ist. Dieses wird ihm so zum Gegenstand seiner Erkenntnis und bewahrheitet sich in seiner Gewissheit, seinem Wissen und seinem Bewusstsein, wie er darin seine Erkenntnis als Selbstgewissheit und Selbstbewusstsein bewährt. In dieser Identität von Empfindung und Bewusstsein ist in der Erkenntnis Sache und Mensch einig und es besteht darin wahre Kenntnis fort.

Was sich von selbst verstehen soll, unterscheidet sich von sich selbst, um sich zu bestätigen. Es kann also nicht wahr sein, wiewohl es Wahrheit haben mag: Wahrheit irgendeiner Art als Anerkenntnis irgendeines Seins, formale Kenntnis eines durch sich selbst bestätigten Seins. Die Selbstverständlichkeit ist das, was sich gegen jeden Zweifel durchsetzt, ohne sich erweisen zu müssen. Allerdings: Was sich von selbst versteht, ist durch sich selbst bestätigt – und es bedarf der Selbstverständlichkeit vor allem, weil es für sich doch Zweifel erweckt.

Selbstverständlichkeit besteht gegen die Fähigkeit des Zweifels, Wahrheit zu erkennen. Keine Sache und kein Mensch sind selbstverständlich. Sie sind geworden und vergehen, haben Beziehungen und Zusammenhänge und die machen ihre Geschichte aus. Geschichte hat keinen Verstand durch sich selbst und Geschichten kann man nur erzählen, weil sie sich nicht von selbst verstehen. Sie erwecken immer auch die Frage, ob sie wahr sind, ob sie sein können und ob der Erzähler sie verstanden hat. 

Ein selbstverständliches Fakt wird über lebende Erkenntnis gestellt und macht sich mächtig, indem es als ihr Inhalt allgemein gilt, ohne durch sie bewährt zu sein. Es ist formierte Erkenntnis, die sich selbst Inhalt geworden ist.

Der Verstand als Kenntnis gefasst ist als Aufklärung tätig. Als Logik betreibt er die totale Aufklärung, die sich selbst versteht als die Position des Faktischen. Es ist die Aufgeklärtheit der Positivisten, die ihre Bewahrheitung in der Form und Masse von Bestätigungen für Kenntnisse sucht. Sie  findet, was Masse formell bestätigen kann: Jede Kenntnis hat ihre Wahrheit und diese ist um so wahrer, wie sie Masse hat und zugleich Form für sich ist. Begriffe sind hier nur noch Formalisierungen von Einzelkenntnissen, Abgrenzung von Eigenschaften, die eine Hypothese wählt und die Wahrheit einer Aussage wird zur Bestätigung dieser Wahl als ein zutreffender Begriff von diesen Ausgrenzungen. Sie erstreckt sich über die Masse der gewählten Formalisierung hypothetischer, also vorgefasster Kenntnisse.

Keine Erkenntnis kann in eine Hypothese eingehen, die durch solche Kenntnis ausgewählt ist. Soll sie hierdurch auch noch entstehen, so wird sie in ihrem Inhalt zur Form verkehrt, zur Kenntnis, welche sie zu wählen hat und somit als Auswahl bestimmt. Eine Form, ein Resultat, das sich hierdurch selbst zum Inhalt wird, erhöht sich, um Form für etwas zu sein, was bestimmt sein soll.

In dieser Form will Wissen des Bekannten Grund und Ziel der Erkenntnis bestimmen und über ihre Wahrheit befinden (161). Diese wird zur Befindlichkeit des Bestehenden, das den Verstand zu nutzen versteht, um seinem Begriff zu entkommen. Und wenn  die Menschen hierbei den Verstand verlieren, so bleibt das Bestehende gerade über die Erkenntnis mächtig, die im Begriff ist, es zu ergreifen.

Im Menschen wirkt das Bestehende auch in seinem Befinden. Der aufgeklärte Verstand soll ihn anleiten, nicht zu empfinden, was befunden wird. In solcher Abgetrenntheit von Kenntnis kann Erkenntnis nur im Zweifel leben.

Eine formierte Erkenntnis ist nur mächtig, wenn und solange sie eine Bestimmung hat, die ihr fremd ist, wenn es also einen Grund gibt, warum ihre Form gegen ihren Inhalt steht, warum Kenntnis Erkenntnis bestimmen kann und will, anstatt ihren Inhalt frei zu lassen.

Der Grund liegt im Faktischen, das vom erkennenden Menschen abgetrennt ist, indem es die Not, die es mit sich bringt, unmittelbar unnötig macht. Es ist nicht nötig, sondern einfach nur notwendig. Menschliche Wirklichkeit, Wirkung von menschlicher Ur-Sache ist für den Menschen nötig. Im Befinden von Notwendigkeiten aber wird sie zu einem Fakt, das sein Kommen und Gehen nicht verrät, das Aufwand enthält wie Befriedigung, Not wie Unnötigkeit. Wenn jedes Fakt seine Aufhebung sogleich in sich hat, so ist es Wirkung wie Ursache und löst sich auf, wo es sich zugleich erneuert. Es gibt keinen Zweifel, um ihm zu entgegnen. Das Fakt ist immer zweifelsfrei – auch wenn es unnötig ist. Es besteht aber gerade dann, wenn es unnötig scheint, als Entgegnung zu jeder Frage, welche Erkenntnis nötig macht. Es ist zur Befriedung der Verhältnisse ebenso geschaffen, wie zu ihrer Aufhebung. Das Fakt zersetzt solchen Zwiespalt, weil es gemacht ist und Macht hat, weil es alles unnötig macht, was es nicht nötig hat. Es dient der Begierde des Soseins, welche das Bestehende bestätigt wissen will, es also will, wie es ist, um seinem Schrecken zu entgehen.

Ein mächtiges Fakt ist nicht ohne Not und daher voller Notwendigkeiten, die im alltäglichen Leben zur gewöhnlichen Wendung, zum Hin und Her der Begebenheiten geworden sind. Jede auftretende Not wird sogleich in dem Fakt gewendet, in welchem sie auftritt, damit sie keine wirkliche Not wird, keine allgemeine, keine menschliche Not. Die Notwendigkeit ist die Sicherheit des allgemeinen Fortbestands dessen, was ist. Und wenn es im allgemeinen eben Geld ist, so ist alles solange notwendig, wie Geld allgemein auch gewollt wird – nicht, weil man es haben muss, um zu leben, sondern weil man es besitzen will, um Leben zu haben.

Die Notwendigkeit des Faktischen offenbahrt vor allem einen Glauben an das Fakt, das jedem in einfachster Form gewiss sein kann, und ihm wird durch Glauben sogleich ein allgemeiner Sinn gegeben, der nicht ist; schon gar nicht gewiss. So steht das Bekannte selbst schon gegen die Gewissheit von Kenntnis und ist ihr überstellt – nicht weil es für sich mächtig sein könnte, sondern weil es reicher ist, als es Gewissheit sein kann, reichhaltiger an einem Leben, das sie nicht hat. Auch wenn dem Bekannten das Leben längst vergangen ist, so ist es darin geronnen, Erinnerung, Geschichte, die keinen Sinn mehr hat, weil sie keinen Sinn mehr findet. Aber in seinem Inhaltsreichtum wird Bekanntes, das für das Faktische notwendig geworden ist, zur Macht des Faktums gegen sein Werden und Gewordensein, Macht der bekannten Welt gegen den erkennenden Menschen, Macht toter Geschichte über die lebendige, Macht der Vergangenheit über die Gegenwart. Es ist dies solange, wie die Menschen nicht wirklich wollen, dass das Leben seinen Weg geht. Wo die Lebenswirklichkeit nicht wirkliches Leben ist, da verschließen sich die Organe der Erkenntnis. So  wird das Nötige zur Notwendigkeit, welche das Erkennen beherrscht, weil als allgemeine Lebensnotwendigkeit gilt, was zur Lebensänderung nötig wäre. 

Kultur und zwischenmenschliche Wahrnehmung 

Es wird als Ausgangspunkt dieses Textes also behauptet, dass Erkenntnisnot als Lebenswirklichkeit und Lebenszusammenhang von Notwendigkeiten zwischen den Menschen existiert, der sowohl einzeln wie auch allgemein ist. In dieser Form kennen sie sich selbst nur als Fakt ihres Menschseins. Sie beziehen sich aufeinander in einer widersprüchlichen Weise. In ihr sind sie Objekte ihrer eigenen Wahrheit als Gegenstand ihrer Wahrnehmung und Subjekte in der Wahrnehmungstätigkeit ihrer Sinne.

Der Sinn dieser Beziehung zwischen Menschen besteht in ihrer Wahrnehmung selbst und ist widersprüchlich. Indem sie über ihre Selbstwahrnehmung sich als einen Menschen wahr haben, den sie in ihrem Sinn unmittelbar nicht erkennen können, nehmen sie auch andere Menschen ohne Sinn wahr. Ihre Wahrnehmung ist unmittelbar Selbstwahrnehmung und ihre Selbstwahrnehmung vermittelte Wahrheit ihrer Beziehung selbst. Ihr Sinn ist außer sich und  besteht als Kulturzusammenhang von Menschen, wie sie sich äußern und wahrnehmen.

In dieser Kultur erkennen sie sich als Wahrheit dessen, was sie von sich wahr haben. Das ist widersinnig: Sie haben darin ihre Erkennnis als eine Selbsterkenntnis, die sich unmittelbar aufhebt, wo sie sich äußert. Es ist eine Kultur, die sich zum Kult hat, die durch sich selbst ausdrückt, was zwischen den Menschen verharrt, was zwischen ihnen und doch außer ihnen ist. Sie hat ihren Sinn in einem Körper, einem Raum, der außer ihr Bestand hat.

In den Räumen der zwischenmenschlichen Kultur verharrt menschliche Erkenntnis als Form für sich wie eine gewaltige Depression, die Auflösung empfindet, wo sie Leben verspürt (173). Sie verharrt in ihrem in sich gehemmten Leben und lässt die Menschen und ihre Verhältnisse sein, wie sie sind, um für sich zu bleiben, was sie war.

So kann darin alles entstehen, was nicht sein soll. Meinungen werden stark, wenn sie kenntisreich sind, Triebe werden mächtig, wenn sie Leere befrieden und Gesinnungen werden wach, die keinen Sinn außer sich haben. All dies kann Kultur zur reaktionären Kraft der Geschichte machen. Aber sie enthält auch den Fortschritt, Lebensausdruck der Menschen, der nach Geschichte, nach Änderung verlangt, Erkenntnisse, die weiter bringen können, Empfindungen, die Tätigkeit erwecken, Gefühle, die Menschen erkennbar machen, Not und Erfindungsreichtum, Sinn und Bezogenheit, und vieles mehr. Dies alles ist in der Kultur als Form menschlicher Erkenntnis vereint – lebendig und tot zugleich.

In der Kultur steckt die Gesellschaft, wie sie ist – nicht als Kultur, aber so, wie sie kultiviert ist. Der Zusammenhang der Menschen besteht hier gleichermaßen wie in der Ökonomie, aber hier als reiner Sinnzusammenhang, der sich von seinen ökonomischen Zwecken frei glaubt, der seine Räume hat, deren Existenz nicht mehr gegründet und auch nicht betrieben werden muss. Kultur ist alles, was dieser Sinnzusammenhang auch nötig hat, was seine Verhältnisse, seine Sittlichkeit und seine Ästhetik ausmacht. 

Es wird daher als weitere Voraussetzung dieser Theorie behauptet, dass sich die Räume der Kultur in einem systematischen Zusammenhang zueinander verhalten, sich gegeneinander abschließen, entschließen und ineinander als Lebensformen übergehen. Es sind dies Räume, die wie Welten für sich und doch mit Sinn füreinander und gegeneinander sind, die sich abwechseln oder austauschen oder bestreiten lassen, um einen Sinn darin zu finden, den sie wirklich haben, auch wenn dieser darin nicht als erkennender Sinn lebt. Der Sinn, den Erkenntnis hat, wird in dieser Kultur wahrnehmbar.

Insgesamt also ist zwischenmenschliche Kultur ein Zustand der menschlichen Erkenntnis, wie sie als allgemeine Selbstwahrnehmung des Menschen geronnen ist. Zum Grund und Ausgang dieser hier zu entwickelnden Theorie wird also behauptet, dass diese Erkenntnis durch die Notwendigkeiten der Lebensformationen, der Kulturräume, für die einzelnen Menschen verschlossen ist, so dass sie ihrer Selbstwahrnehmung unterworfen sind. Von da her dient die zwischenmenschliche Kultur dazu, Subjekte in sich zu binden, ihr Erkenntnisvermögen zu stillen und Subjektivität zu erzeugen, wo Objektivität herrscht. Eine formierte Kultur ist der Raum des zwischenmenschlichen Lebens, der seine objektive ökonomischen Existenz wahr macht, indem er Subjektivität formalisiert. Dies wäre dann auch der Grund dafür, dass die Kenntis des existenten Lebensprozesses sich in dieser kultivierten Welt ausbreitet und gegen die Erkenntnis mächtig wird, um ihren Sinn zu zerstören (176). Und es ist auch der Grund dafür, dass wir dies erkennen können.

3. Begriff und Notwendigkeit

Diese Behauptungen sind umfassend und betreffen verschiedene Begriffe, die für das gewohnte Denken auch völlig verschiedenen Sinn haben: Erkenntnis, Kultur, Wahrnehmung, Psyche, soziales, sittliches, ästhetisches und politisches Verhalten. Es wird also behauptet, dass dies alles letztlich ein Verhältnis zur ökonomischen Welt ist, das hiervon abgetrennt und in den Abstraktion des Denkens, durch Denkabstraktion der Gewohnheit bewahrt wird, die sich dem abstrakten Leben hingeben, weil sie die kritische Kraft der Erkenntnis verleugnen. Die hier zu entwickelnde Kulturtheorie will einen Kulturbegriff als kritische Einheit bilden, der den Zusammenhang in der kulturellen Wirklichkeit aufspürt und ihre einzelnen Momente kritischen Menschen überlässt, Menschen, die sich den Notwendigkeiten des Lebens nicht beugen wollen, aber ihre Vermittelheit begriffen haben und daher ihren begrifflichen Zusammenhang wissen müssen.

Sollte diese kritische Einheit bewiesen werden, so hat das umfangreiche Folgen für das geisteswissenschaftliche Denken. Dessen getrennte Disziplinen müssten einander in ihrer Getrenntheit kritisieren und sich ebenso im Lebenszusammenhang erkennen, wie sich die Kulturräume als zusammenhängendes Lebens begreifen lassen. Der Begriff der Kultur müsste die Geisteswissenschaften im Wissen um den Zustand der Kultur einen, indem sie sich zugleich auch über ihren eigenen geistigen Zusammenhang einig werden.

Im praktischen Leben der Kultur selbst ergibt sich der Zusammenhang von einzelner Not und der bestehenden Kultur im Rückschluss des begrifflichem Denkens, indem durch ein Begreifen der Kultur die Momente menschlicher Erkenntnis erkannt werden können, die in ihren Lebenszusammenhänge untergehen. Weil sie so der kulturellen Lebenskenntnis entwunden werden, werden sie auch von der Macht des kultivierten Lebens befreit. Alles Nötige erscheint in diesem Licht als der Sinn des Lebens, das in seinen Notwendigkeiten verharrt, weil es allerorten in Not gerät und zugleich sich an Ort und Stelle winden und wenden muss, um sich zu erhalten. Es ist ein in sich gehindertes, in seiner Entfaltung blockiertes Leben, das sich als Lebensnotwendigkeit ausgeben kann, wenn es nicht seine kritische Kraft findet.

Das begriffliche Denken soll also beweisen, dass die einzelnen Notwendigkeiten einen Zusammenhang haben und ihre Einzelheit zugleich Vielheit bedeutet, dass ihre einzelne Notwendung objektive Notwendigkeit hat. Zur Wendung vereinzelter Not genügt vielleicht die Änderung einzelner Verhältnisse. Aber die Vielfalt der Notwendigkeiten und die Erkenntnis ihres Zusammenhangs macht kulturkritisches Handeln nötig (139), das die kulturellen Verhältnisse selbst hinterfragt und ihren allgemeinen Grund als Entfremdung der Kultur von den Menschen, als allgemeine Isolierung ihres Lebensinhalts angreift. Kulturkritik steht so im Interesse der Vergesellschaftung menschlicher Lebensäußerungen, was auf eine Veränderung der Gesellschaft hinausläuft (134), eine Umkehr ihrer Lebensbasis (135), eine gesellschaftlichen Erneuerung.

Editorische Anmerkungen

Dieser Text wurde entnommen aus:
http://www.kulturkritik.net/Psychologie/Skizzen%20Privatperson/index.html

Wolfram Pfreundschuh schickte uns diesen Auszug zur Veröffentlichung verbunden mit der Bitte, auf sein Internetprojekt hinzuweisen, wo dieser Text einer ständigen Erweiterung und Bearbeitung unterzogen ist.

Im trend erschien vom selben Autor: Der Entwurf einer "Gesellschaft für Kritische Sozial- und Subjektwissenschaft"? Eine ideologiekritische Körperschaft

Surftipp: http://www.kulturkritik.net "Zur Kritik der politischen Kultur"