Ins schwarze Loch
Wer hätte das gedacht. Die Meinungsumfragen lagen ja stark daneben. Aber wir noch mehr. - Erste Überlegungen zum fulminanten Wahlsieg der Volkspartei
Von Franz Schandl
12/02
 
 
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Kann man solche Ergebnisse eigentlich noch erklären? Man tut sich schwer und darf es doch nicht lassen. Es gibt keinen rationalen Grund für diesen Sieg, folglich muss es viele "irrationale" geben. Psychologie, ja Psychopathologie sind gefragt.

Was geschah da?

Am besten mal tief durchatmen und staunen. Erdrutsch ist ja fast untertrieben. Der Gewinn von über 15 Prozent für die ÖVP und der noch größere Verlust der FPÖ sind beispiellos in der langen Geschichte der Zweiten Republik. Wofür Haider mehr als 12 Jahre benötigte, das gelang Wolfgang Schüssel in weniger als drei Jahren, ja eigentlich in knapp 10 Wochen. Da nutzt es auch nichts, dass SPÖ und Grüne zwischenzeitlich (fast) alle Wahlen gewonnen haben. Diese Nationalratswahl haben sie (trotz matten Zuwächsen) eindeutig verloren. Die Koalition wurde bestätigt, nur ist es der ÖVP gelungen, eine 1:1-Parität in ein 4:1-Kräfteverhältnis zu verwandeln.

Wer hätte das zu fürchten gewagt? Selbst wenn man jetzt einwenden sollte, dass die ÖVP ungefähr ihren Stand von 1986 wieder erreicht hat, war das eine außergewöhnliche Wählerrückholungsaktion im Zeitraffer. Freilich muss man sich gleich fragen, ob diese noch dieselben sind. Das ist gar nicht generationsmäßig zu verstehen, sondern wesensmäßig. Was meint, dass die Gebundenheit dieser Leute eine andere ist, als sie es vor mehr als 15, geschweige denn 30 Jahren gewesen ist. Schüssel hat diese Stimmen nicht erobert, sondern gestohlen. Aber haben tut er sie. Vorerst einmal.

Dass das Platzen der Koalition alleine der FPÖ angelastet werden konnte, war zweifellos ein Meisterstück des Kanzlers. Ein gelungener Coup, der auch gar nicht verheimlicht wurde. Denn so etwas wird goutiert. Ein Mythos ist geboren. Der kleine Prinz wird als Drachentöter gehandelt, weil er des Drachens abgeschlagene Köpfe als seine Tat präsentierte. Dass der Drache sich selbst die Köpfe abgebissen und ausgerissen hat, die der Prinz dem Publikum vorhielt, ist da ohne Belang. Wichtig ist: Der hat's dem Haider gegeben. Wovon Linke und Liberale stets träumten, nämlich Haider zu schlagen, das gilt fortan als Verdienst Wolfgang Schüssels. Dass es nicht stimmt, ist völlig egal, es wirkt.

Einmal mehr wurden Provinzialität und Dumpfheit der Österreicher unterschätzt. Der Zug der Lemminge ist geradezu ins schwarze Loch marschiert. Die Generalsekretärin der ÖVP, Maria Rauch Kallat, dankte zwar dem lieben Gott, indes waren es nur die beschränkten Wähler, die Schüssel zum Sieg verholfen haben. Ihnen sollte man ein Marterl errichten. Vor allem das Land hat die Stadt in die Schranken gewiesen. In den bevölkerungsdichteren Agglomerationen schlugen sich SPÖ und Grüne um einiges besser. Doch in der Provinz gab es ein Debakel sondergleichen. Mitgespielt haben dürfte neben einiger schwarz-blauer Gräuelpropaganda ("Grüne für Haschischtrafiken") auch das penetrante Gerede vom "rot-grünen Chaos". Das "rot-grüne Abschreckungsmodell" mit Verweis auf Schröder und Deutschland hat jedenfalls seinen Zweck erfüllt.

Rotierende Stimmungen

Wahlkonkurrenzen werden immer mehr zu bloßen Eindruckskonkurrenzen. Es geht weniger um die Beschaffenheit der Produkte und dem Interesse daran, als um die Inszenierung am Markt. Demokratie ist nichts anderes als Verkauf und Ankauf von Stimmungen. Schon der selige Johann Nepomuk Nestroy ("Freiheit in Krähwinkel", 1848) ahnte, dass "Wahlen nach vorhergegangener Stimmung" entschieden werden. Heute ist das deutlicher denn je. Dass Stimmen keine substanzielle Größe sind, sondern eine rein konjunkturelle, ja sogar zufällige, wird zusehends kenntlicher. Wahlzeiten sind Hochzeiten, wo Fiktion und Einbildung am Traualtar das Versprechen abgeben, die Lüge zu lassen, wo Anhänger zu Frenetikern und Fanatikern mutieren.
Während auf der inhaltlichen Ebene beinahe nichts mehr geht, scheint auf der Ebene der Wahlresultate alles möglich geworden zu sein. Die Stimmen rotieren, die Unentschlossenheit wächst. Ergebnisse werden abhängiger von (zumindest hätte man früher so gesagt) sekundären Merkmalen: Outfit, Timing, Public Relation, Events. Eventualität wird zu einem maßgeblichen Faktor in der Politik. Der letzte Kick ist manchmal Ausschlag gebend.

Politik gestaltet sich als Exekutor eines sozialen Räumungskommandos. Vielleicht rührt die zunehmende Unentschlossenheit ja gerade aus dem Umstand, dass es dort nichts mehr zu entschließen gibt. Eine signifikante erkenntnistheoretische Frage könnte sein: Ist eine Wahl gewesen oder hat bloß eine Abstimmung stattgefunden? Denn die zentralen Merkmale der Gesellschaft stehen ja überhaupt nicht zur Disposition: Sachzwang, Markt, Geld, Arbeit, Verwertung, Verdinglichung, Ausbeutung. Darüber wird kaum debattiert, geschweige denn entschieden. Dass alles Ware zu sein hat, wird nicht in Frage gestellt, auch wenn gelegentlich der Gedanke "Die Welt ist keine Ware!" aufflackert. Das bleibt belanglos und unbegriffen.
Das flexibilisierte Subjekt schlägt natürlich auch auf die Wähler durch. Wie könnte es auch anders sein? Sie sind sich selbst überlassene Entlaufene, die ab und zu eingefangen werden, um als Souverän vorgeführt zu werden. Sie sind Hin- und Hergerissene, ihre Freiheit besteht in ihrer Haltlosigkeit. Gestern waren sie bei Haider, heute sind sie bei Schüssel, morgen möglicherweise bei einem österreichischen Blair. Der Wähler ist ebenso wenig König wie der Kunde, er ist vielmehr das umschwirrte und umstellte Objekt, für das die Parteien pro Fang Kopfprämie kassieren.

Eins weiß nicht so recht, wenn es wählen soll, nur dass es wählen soll, das weiß es. Hier regiert beinahe das Los. Vor allem Last-minute-Wähler entscheiden buchstäblich in den letzten Minuten vor der Stimmabgabe, ja oftmals vielleicht erst in diesem kurzen Moment an der Urne, für wen sie ihre Stimme beerdigen. Am wählbarsten erscheint immer der aktuell Erfolgreichste. Der prognostizierte Sieger. The winner takes it all. Gerade Last-minute-Wähler wollen bei den Siegern sein. Was sonst könnte sie ihrer Unentschlossenheit in der Wahlzelle so entledigen? Sie sind nicht Trendsetter, sondern Trendverstärker. Verschubmasse, ja Stimmvieh, das vom Wahlschinder regelmäßig abgeholt wird. Diese Tendenz darf nicht als Zugewinn von Selbstbestimmung und Autonomie interpretiert werden wie dies einige heimische Politikwissenschafter tun. Die neue Meinungsfreiheit ist eine Meinungslosigkeit. Hörig ist der Wähler, nicht mündig.

Wechselwähler hat es schon immer gegeben, doch inzwischen sind sie zum vorherrschenden Typus aufgestiegen. Dieser ist auch nicht mehr klassenmäßig fassbar, eben weil er ein Produkt des allgemeinen gesellschaftlichen Deklassierungsprozesses ist. Er ist zwar perspektivlos, möchte aber unbedingt zu den Gewinnern gehören. Er ist nicht Ausdruck einer neuen Orientierung sozialer Schichtungen, sondern Resultat der Desorientierung herkömmlicher Gesellschaftsstrukturen. Das ideologische Getöse ist Getue. Die sogenannten Protestwähler, das zeigt Haiders tiefer Fall, waren nur zu einem Bruchteil integrierbar. Das Gros ist ein flüchtiger Haufen, der unter gegebenen Voraussetzungen mal da und mal dort hingehetzt werden kann.
Folgender Unterschied verdient Beachtung: Nicht aus eigenem Antrieb sind die Wähler Haider davon gelaufen, er hat sie vertrieben. In ihrer inneren Beschaffenheit haben jene sich nicht verändert. Sie rennen eben einem anderen Erfolgsmenschen nach. Da war lediglich ein Stimmungsumschwung zu verzeichnen, keine Bewusstseinsänderung. Wir möchten nicht wissen, wie oft am Stammtisch jetzt folgender Satz gesagt wird: "Der Haider ist schon gut, aber..." Oder dieser: "Der Schüssel is scho a Hund, wia a des gmocht hot."

Erfolg den Erfolgreichen

Da sich der Erfolg Wolfgang Schüssels seit der Neuwahlansage im September abzeichnete, machte jener skizzierte Wählertypus wohl sein Kreuzerl überwiegend dort. Als Wille soll man diese Stimmabgabe nicht überschätzen, als Stimmenzahl darf man sie allerdings nicht unterschätzen. Schüssel hat deswegen gewonnen, weil sein Erfolg festgestanden ist. Diese Dynamik hat sodann alles mitgerissen: aus dem Aufholen wurde ein Überholen und letztlich ein Davonziehen. "Recht hat aber am Ende der Erfolg", schreibt der Chefredakteur des "Kurier", Peter Rabl am Tag nach der Wahl in affirmativer Absicht. Kritisch müsste man das noch pointierter fassen: Nur noch um diesen Erfolg scheint es zu gehen. Egal wie. Hauptsache dass.
Erfolg meint Stimmenmaximierung durch Stimmungsadaption. Anders als die SP-Plakate unterstellten, geht es bei Wahlen um den Wahlerfolg, nicht um die Menschen. Nicht um deren Anliegen, sondern um deren Gemütslagen. Oder wie es Josef Cap formulierte: "Kaum etwas anderes lässt einen Politiker in der Politik unwiderstehlicher und moderner erscheinen, als wenn er mit seinem Gefühl richtig liegt, also Erfolg hat. (...) Denn nichts ist erfolgreicher als der Erfolg."
Der Kanzler hat diese Nationalratswahl 2002 so haushoch gewonnen, dass die konservative "Presse" zufrieden feststellt: "Ohne ihn geht jetzt nichts mehr." Tatsächlich, um die Christkonservativen ist kein Herumkommen, selbst wenn alle anderen drei Parteien mit ihnen nicht wollen sollten. Dazu war dieser Erdrutsch zu überwältigend. Sich den Lockrufen der ÖVP zu entziehen wird nun schwer, besonders für FPÖ und SPÖ. Mit Neuwahlen können sie ja nicht drohen. Inzwischen trommeln einflußreiche Kräfte ("Kronen Zeitung", Industrie, Landeshauptleute) bereits für die große Koalition.

Niemand soll aber aufgrund des eindrucksvollen Wahlergebnisses glauben, dass jetzt die Rückkehr zum alten Zweiparteiensystem angesagt sei. Das ist hartnäckiger Schein, der bald verpuffen wird. Diese Wahl zeigt vielmehr an, dass der durch Haider maßgeblich vorangetriebenen Mobilisierung ("Aufhetzung") der Wählerschaft auch der Protagonist selbst zum Opfer fallen kann. Es wird jetzt nicht alles wieder so wie früher werden, sondern die Flüchtigkeit hat sich geradezu potenziert. Diese Wahl ist nichts anderes als ein Fanal der Destabilisierung, obwohl sie auf den ersten Blick etwas ganz anders aussagt.

Was soll man den Österreichern noch raten? - Winter wird's. Warm anziehen!

Editorische Anmerkungen

Im Freitag und der Jungen Welt erschien der Aufsatz nur als Kurzfassung. Die vorliegende Fassung erhielten wir vom Autor, verbunden mit dem Hinweis auf die neue Nr.3/02 der streifzüge.

Dazu der Surf-Tipp: www.widerspruch.at/streifzuege