Bonner Afghanistan-Konferenz:

Die Vereinten Nationen präsentieren eine Art Kolonialregime

Von Peter Symonds

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Nachdem auf dem Petersberg bei Bonn neun Tage lang in Hinterzimmern gefeilscht worden war, konnte die Afghanistankonferenz der Vereinten Nationen (UN) am vergangenen Mittwoche ein Ergebnis präsentieren: die Ankündigung einer Übergangsregierung aus handverlesenen politischen Figuren. Es ist der erste Schritt in einem längeren politischen Prozess, auf den gewöhnliche Afghanen keinerlei Einfluss haben werden und der Wahlen erst für eine ferne Zukunft vorsieht.

Die Vereinbarung, die von den afghanischen Delegationen pflichtgemäß unterschrieben wurde, hat einige Kritik von Seiten jener einflussreichen Afghanen hervorgerufen, die sich übers Ohr gehauen fühlen. Aber der bemerkenswerteste Aspekt der Vereinbarung ist ihr quasi-kolonialer Charakter. Wie im Fall von Bosnien, dem Kosovo und Ost-Timor werden die Großmächte, die sich der Vereinten Nationen als Werkzeug bedienen, einen beträchtlichen Einfluss auf das Regime in Kabul ausüben.

Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Afghanistan, derzeit Lakhdar Brahimi, wird die Umsetzung aller Aspekte der Vereinbarung überwachen und sicherstellen, dass die Übergangsregierung die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates in Bezug auf Afghanistan befolgt. Die Vereinten Nationen werden auch die Vorbereitungen für eine loya jirga - eine Versammlung der Stammesführer - überwachen, die in sechs Monaten einberufen wird, um einen Übergangsherrscher zu ernennen, der wiederum für die nächsten zwei Jahre regieren soll. Die Vereinbarung gibt dem Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen die formelle Macht, jegliche politische Pattsituation zu verhindern.

Hinter diesen formalen Vereinbarungen verbirgt sich die ökonomische, politische und militärische Macht der Großmächte, besonders der Vereinigten Staaten, die allesamt mit der Zurückhaltung von Hilfsgeldern drohten, wenn die afghanischen Delegierten die Unterzeichnung des Rahmenabkommens der Vereinten Nationen verweigern sollten. Die Vereinbarung sieht eine Militärpräsenz der Vereinten Nationen in Kabul und eine Ausweitung derselben auf andere Städte vor. Größe und Zusammensetzung der UN-Truppe sind allerdings noch umstritten.

Die Vereinigten Staaten, deren Militärkräfte ohne Einschränkung im ganzen Land aktiv sind, haben versucht, ihr Monopol aufrechtzuerhalten, indem sie die Entsendung von fremden Truppen begrenzten. Großbritannien, Frankreich und andere europäische Mächte haben auf eine stärkere militärische Beteiligung gedrängt, die ihnen einen größeren Einfluss auf die Zukunft Afghanistans geben würde. Der neu ernannte Außenminister Abdullah Abdullah, vormals außenpolitischer Sprecher der Nordallianz, hat jedoch angekündigt, dass die Größe einer UN-Truppe auf nur 200 Soldaten beschränkt werden könnte - was die Vereinigten Staaten und die Nordallianz zu den einzigen Militärkräften mit Gewicht im Lande machen würde.

Der Marionettencharakter der neuen Regierung wird besonders deutlich, wenn man den Mann an ihrer Spitze betrachtet - Hamid Karzai. Seine Qualifikationen für diesen Job sind erstens, dass er ein paschtunischer Stammesführer mit engen Verbindungen zum exilierten König Sahir Schah ist, und zweitens, dass er, wie es die amerikanische Presse ausdrückt, "in Washington einen guten Ruf genießt". In den 1980-er Jahren leitete Karzai das Peshawarer Büro von Sebghatullah Modschadeddi, dem Anführer der sieben Mudschahiddin-Gruppen, die zum Kampf gegen das von der Sowjetunion gestützte Regime in Kabul von der CIA finanziert und bewaffnet wurden.

Nach dem Fall der pro-sowjetischen Nadschibullah-Regierung 1992 war Modschadeddi für kurze Zeit Präsident und belohnte seinen Sprecher Karzai mit dem Posten des stellvertretenden Außenministers. Karzai behielt seine Position nachdem Burhanuddin Rabbani Präsident geworden war, trat aber 1994 zurück, als offensichtlich wurde, dass die kleine Modschadeddi-Fraktion über keine wirkliche Macht verfügte.

Karzai wird in Washington eindeutig als wichtiger politischer "Aktivposten" betrachtet. Er hat in den letzten zwei Monaten eng mit der CIA zusammengearbeitet, um eine gegen die Taliban gerichtete Revolte unter dem einflussreichen Popolzai-Klan anzufachen, den er anführt. Anfang November gab der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bekannt, dass eine Sondereinsatztruppe entsandt wurde, um den von den Taliban bedrohten Karzai und seine Anhänger "herauszuholen"

Karzai nahm an den Treffen in Bonn nicht teil, da er in Afghanistan um die Übergabe von Kandahar verhandelte. Seine Vereinbarung mit den Taliban-Führern, die den freien Abzug der afghanischen Taliban und die Gefangennahme ihrer ausländischen Unterstützer vorsah, brachte ihn in den letzten Tagen mit Washington in Konflikt. Dem Taliban-Führer Mullah Mohammed Omar sollte Amnestie gewährt werden, wenn er den "Terrorismus zurückweisen" würde.

Karzais Vorschlag rief umgehend eine scharfe Rüge aus Washington hervor. Verteidigungsminister Rumsfeld bestand darauf, dass Mullah Omar gefangen genommen und vor Gericht gestellt werden müsse, und fügte hinzu, dass die Vereinigten Staaten ihre Ansicht in dieser Frage sehr nachdrücklich bekräftigt hätten. "Unsere Zusammenarbeit mit und Unterstützung für diese Leute würde deutlich nachlassen, wenn etwas unternommen würde [...], das mit dem von mir Gesagtem nicht in Einklang steht. [...] Wenn unsere Pläne durchkreuzt und abgelehnt werden, bevorzugen wir die Zusammenarbeit mit anderen Leuten," warnte er ohne Umschweife.

Karzai hat den Spagat versucht, es mit beiden Parteien zu halten und sowohl die Forderungen der Vereinigten Staaten zu erfüllen wie auch den paschtunischen Stammesführern entgegenzukommen, von denen immer noch viele mit den Taliban sympathisieren. Karzai selbst unterstützte die Taliban nach ihrer Gründung 1994 mit Geld und Waffen. Er wandte sich von der Taliban-Führung erst 1999 ab, nachdem sein Vater ermordet worden war - auf Befehl der Taliban, wie seine Familie sagt.

Das Ergebnis der Verhandlungen in Kandahar bleibt unklar. Karzai reagierte sofort auf Rumsfeld Diktat und erklärte: "Selbstverständlich will ich ihn [Omar] verhaften. Ich habe ihm jede Chance gelassen, den Terrorismus zu verurteilen, und nun ist die Zeit abgelaufen." Gleichzeitig sieht es allerdings so aus, als ob die Taliban-Kämpfer gemeinsam mit Mullah Omar aus der Stadt geflohen sind - und Karzai damit praktischerweise aus der Zwickmühle befreit haben.

Ethnische Rivalitäten

Der Zwischenfall in Kandahar unterstreicht die politischen Widersprüche, auf denen die Regierung Karzais beruht. Die Vereinten Nationen und die Vereinigten Staaten haben ein Afghanistanabkommen erzwungen und ein gefügige Regierung eingesetzt. Aber nach zwei Jahrzehnten Krieg ist das Land in sich bekämpfende ethnische und religiöse Gruppen sowie Stammesverbindungen zerspalten, die drohen, die Regierung von Beginn an zu unterminieren. Jeder der neuen Minister trifft auf dieselben Schwierigkeiten wie Karzai: Es gilt die Unterstützung der Großmächte zu behalten, während man gleichzeitig die Interessen der eigenen Kundschaft vertritt.

Die Vereinten Nationen haben die Übergangsregierung als ersten Schritt zu einer "auf einer breiten Basis stehenden, gegenüber Frauenfragen sensiblen, multi-ethnischen und vollkommen repräsentativen Regierung" beschrieben. Diese wohlklingende diplomatische Phrase soll lediglich die schmale Basis der Regierung verschleiern, die im Wesentlichen über zwei Stützen verfügt: die Nordallianz, die selbst eine lose Koalition von Kriegsherren und Milizen der ethnischen Tadschiken, Usbeken und Hasara Afghanistans ist, und den ehemaligen König und seine Gefolgschaft in Rom. Der 87-jährige Sahir Schah, der seit 1973 im Exil lebt, wird hauptsächlich von ethnischen Paschtunen unterstützt, vor allem vom einflussreichen Stamm der Durrani.

Die Nordallianz, deren Milizen den größten Teil Nord- und Westafghanistans inklusive Kabul kontrollieren, überließ das Spitzenamt den Royalisten. Im Gegenzug erhielt sie 17 von insgesamt 30 Ministerposten, darunter die Schlüsselpositionen Außenpolitik, Verteidigung und Innenpolitik. Die Rom-Gruppe, wie sich die Royalisten nennen, haben neun der übrigen Posten erhalten. Damit blieben nur vier weitere für die beiden anderen Fraktionen übrig, die in Bonn vertreten waren - die von Pakistan unterstützte Peschawar-Gruppe und die vom Iran unterstützte Zypern-Gruppe.

Die Bonner Konferenz hat innerhalb der einzelnen Gruppen und zwischen den Fraktionen bereits scharfe Spannungen hervorgerufen. Im Verlauf der Versammlung gab es gemeinsame Bemühungen, den Führer der Nordallianz Rabbani ins Abseits zu drängen, der bislang noch von den Vereinten Nationen nominell als Staatsoberhaupt anerkannt wird. Die Abschlusserklärung spricht von der "tiefen Dankbarkeit" gegenüber Rabbani wegen "seiner Bereitschaft, die Macht zu übergeben", aber er bekam keinen Posten in dem neuen Regime. Drei jüngere Figuren - Abdullah Abdullah, Younus Qanooni und Mohammad Qaseem Fahim - wurden an ihm vorbei auf die Spitzenministerposten für auswärtige Angelegenheiten, Inneres und Verteidigung gesetzt.

Seit Mitte der 1990-er Jahre war Rabbani enge Verbindungen mit Russland und dem Iran eingegangen - die die Hauptunterstützer der Nordallianz darstellten. Die Vereinigten Staaten kalkulieren zweifellos, dass die neuen Gesichter amerikanischen Interessen gegenüber zugänglicher sind. Alle drei hatten enge Verbindungen zu dem früheren Militärkommandeur der Nordallianz Ahmad Schah Masud, der am 9. September bei einem Selbstmordattentat ums Leben kam. Fahim, der Masuds Posten als Verteidigungschef der Nordallianz übernahm, hat in den vergangenen zwei Monaten sehr eng mit dem amerikanischen Militär zusammengearbeitet.

Einigen Berichten zufolge hat Rabbani sich nicht still zur Seite drängen lassen. Seine Vorschlagsliste für die neue Regierung ließ zwei seiner Hauptrivalen - Qanooni und Abdullah - außen vor. Sein Vorschlag wurde allerdings einfach ignoriert und die zwei Namen wurden von der Delegation der Nordallianz in Bonn, die von Qanooni angeführt wurde, wieder ins Spiel gebracht. Obwohl Rabbani, ein konservativer islamischer Gelehrter, keine grundlegende Kritik am Plan der Vereinten Nationen hat, könnte er zu einem Sammelpunkt für Opposition und Unzufriedenheit werden.

Der usbekische Kriegsherr Abdul Rashid Dostum, der auch zur Nordallianz gehört, kündigte am Donnerstag an, dass er die Regierung "boykottieren" werde. Er behauptet, dass die Vereinbarung, seiner Fraktion den Posten des Außenministers zu geben, gebrochen worden sei. "Es ist eine Erniedrigung für uns," sagte Dostum, nachdem seiner Jombesh-e-Melli-Gruppe das Ministerium für Landwirtschaft, Bergbau und Industrie zugeteilt worden war. Er warnte, dass er Regierungsvertretern den Zugang zu den von ihm kontrollierten nördlichen Gebieten verweigern würde, wo Afghanistans Öl- und Gasreserven liegen.

Wahidullah Sabawoon, der Finanzminister der Nordallianz, hat ebenfalls das Abkommen angegriffen, weil es keinen Posten für seine Partei Hizb-e-Islami vorsieht. Er erklärte, die Vereinbarung ändern zu wollen, sobald das Verhandlungsteam nach Kabul zurückgekehrt sei. Der Posten des Finanzministers wurde einem Mitglied der Royalisten-Fraktion übertragen - Hedayat Amin Arsala, einem ehemaligen Vertreter der Weltbank.

Auch die beiden kleineren Exilgruppen waren nicht mit dem Ergebnis zufrieden. Der Kopf der Peschawar-Gruppe Ahmed Gailani verurteilte die Vergabe der Ministerien als "ungerecht". Er deutete jedoch an, dass er bis zur Einberufung der loya jirga abwarten wolle. Gulbuddin Hekmatyar, der mit der Zypern-Gruppe von afghanischen Exilanten im Iran verbunden ist, war weniger zurückhaltend und beschuldigte die Vereinigten Staaten, die Vereinbarung durchgesetzt zu haben. "Dies setzt ein Fragezeichen über die Legitimität der Regierung, die aus dieser Konferenz hervorgeht," sagte er.

Hekmatyar leitete früher die Hizb-e-Islami, die Hauptnutznießerin der CIA-Gelder in den 1980-er Jahren war. Nach dem Sturz Nadschibullahs 1992 führte die erbitterte Fehde zwischen Hekmatyar und Rabbani zum Tod vieler Tausender Zivilisten in Kabul und zur Zerstörung großer Teile der Hauptstadt. Praktisch alle Fraktionen, die nun um die Vorherrschaft in der neuen Regierung intrigieren, haben ihre Wurzeln in den von den Vereinigten Staaten unterstützten antikommunistischen Mudschahiddin-Gruppen, die in den 1990-er Jahren das Land in individuellen Lehen zerstückelt haben.

Es bleibt abzuwarten, wie weit die zerstrittenen Parteien in ihrer Kritik an dem Bonner Abkommen gehen. Die neue Regierung soll ihr Amt am 22. Dezember antreten. Sie wird ein Land führen, das wirtschaftlich ruiniert ist und in dem nach Schätzungen sieben Millionen Menschen ohne angemessene Nahrung, Unterkunft und Kleidung sind. Die alten politischen Muster treten bereits wieder in Erscheinung und die rivalisierenden Kriegsherren und Milizen versuchen, die Kontrolle über ihre ehemaligen Gebiete wieder herzustellen. Die Vereinten Nationen versuchen mit der Rückendeckung Washingtons ihr eigenes Regime einzusetzen, das mit zwei primitiven Werkzeugen zusammengehalten werden soll: mit Schmiergeldern in Form von Wirtschaftshilfe und, falls dies nicht reicht, mit der Androhung weiterer militärischer Maßnahmen.

Editoriale Anmerkungen:
Der Text ist eine Spiegelung von www.wsws.org/de/2001/dez2001/bonn-d12.shtml