Braucht jemand noch einen Scheissjob?!
Callgirls und Callboys gegen die Ausbeutung

Von Kolinko

12/01
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"Die erste Woche verdienst du nix... dann gibts 12 Mack... Manche von uns sehen sich gezwungen, in solchen überdurchschnittlich miesen Buden zu arbeiten, um über die Runden zu kommen... ISI hat grad Anzeigen laufen... für ihre Call Center in Bochum, Essen, Düsseldorf, Köln... Braucht jemand noch einen Scheissjob?!"

Mit diesem Text wurde im März auf der Internetseite des hotlines-Kollektivs (1) ein Flugblatt zur Arbeit in einem Call Center der Firma ISI Marketing eingeleitet. ISI-Geschäftsführer Steinbach fühlte sich dermassen auf den Seidenschlips getreten, dass er beim Landgericht Bochum eine einstweilige Verfügung gegen die Begriffe "miese Bude" und "Scheissjob" erwirkte. Da er weder die ArbeiterInnen noch die Leute von hotlines kannte, ging er gegen den damaligen Provider free.de (2) vor.

Nun ist sicher nichts Aussergewöhnliches daran, wenn ein Krauter wie Steinbach beleidigt zu einem bürgerlichen Gericht rennt, weil ArbeiterInnen öffentlich aussprechen, dass sie keinen Bock auf die miesen Arbeitsbedingungen in seinem Laden haben. Wo kommen wir hin, wenn alle sagen, was sie denken? In diesem Fall haben die ArbeiterInnen auch noch selber ein Flugblatt geschrieben - anstatt sich hilfesuchend an eine Gewerkschaft zu wenden. Ist das nicht illegal?

ISI ist eins der Call Center, die anderen Firmen Telefondienstleistungen anbieten und in denen die ArbeiterInnen im Akkord Anrufe machen müssen. Erst wurden Call Center von Politikern und Unternehmern als schöne neue Arbeitswelt verkauft, als "saubere" Hi-Tech-Arbeitsplätze. Wie "sauber" die Arbeit ist, merkst du schnell, wenn der Tinitus im Ohr klingelt, die Augen brennen und du die Kopfschmerzen nicht mehr los wirst, nachdem du jeden Tag Hunderte Anrufe entgegengenommen, Daten in den PC gehackt oder zig Leute per Anruf genervt hast, um ihnen was anzudrehen. Also bleibt das übrig, was uns auch sonst zur Arbeit zwingt: Wir brauchen die Kohle zum Leben und nehmen halt die Jobs, die wir kriegen können und die einigermassen erträglich scheinen.

Nach einigen Jahren Boom werden jetzt auch in Call Centern Leute rausgeschmissen bzw. die Läden gleich zugemacht. Das hängt mit der Krise der (Neuen) Ökonomie und weiteren Rationalisierungsmassnahmen zusammen, wie z.B. der Einführung von Sprachcomputern und der Verlegung von Aufgaben auf Internet-Angebote.

Nach dem Streik bei der Citibank 1998 gegen die Schliessung der alten Call Center (und die Neugründung in Duisburg mit schlechteren Verträgen) hat es eher kleinere Konflikte und Kämpfe gegeben, in denen ArbeiterInnen auf Abteilungsebene oder bei kleinen Call Centern gegen die Bedingungen vorgingen. Darin sind einige (bisher meist kurzlebige) Basisinitiativen von ArbeiterInnen entstanden (z.B. bei hotline GmbH in Berlin, jetzt bei Transcom in Düsseldorf). Die Gewerkschaften (ver.di) versuchen, einen Fuss in die Call Center reinzukriegen, insbesondere indem sie die Gründung von Betriebsräten forcieren. (3) Es gibt auch Versuche von Linken, sich auf die Situation und die Kämpfe in Call Centern zu beziehen. Dazu gehören u.a die callcenteroffensive (4), die sich um Auseinandersetzungen in einigen Berliner Call Centern gekümmert hat (audioservice, hotline GmbH, atm, emnid) und unsere hotlines-Initiative in Rhein/Ruhr. Mit hotlines versuchen wir, den Austausch von ArbeiterInnen über die Bedingungen und Möglichkeiten von Kämpfen zu fördern, ohne auf die Vertretungsfalle durch Gewerkschaften oder Betriebsräte reinzufallen. (5) Dazu gingen wir selber in Call Centern arbeiten, begannen eine Flugblattserie und bauten die schon erwähnte Website auf. Leute aus Brighton/England und Bologna/Italien beteiligten sich und verteilten in ihren Regionen Flugblätter vor Call Centern. Hinter diesen Versuchen steht eine grundlegende Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise. Wir denken, dass wir uns dabei auf den Zusammenhang der ArbeiterInnen in der Arbeit und ihr Verhalten in den alltäglichen Konflikten beziehen müssen. Es ist wichtig, die Tendenzen zu unterstützen, die neue Kampfmöglichkeiten und mit ihnen auch die Perspektive der gesellschaftlichen Befreiung eröffnen. Kern der Initiative ist also die Verbreitung von Kampferfahrungen und deren Kritik von einem (kommunistischen) ArbeiterInnenstandpunkt aus. Hier ergeben sich auch Konflikte mit Gewerkschaftsvertretern, die die Auseinandersetzungen in Call Centern aufgreifen. Sie wollen sich als VertreterInnen der ArbeiterInnen auch der "Neuen Ökonomie" profilieren und das für die Rekrutierung neuer Mitglieder nutzen.(6) Alles soll gefälligst in die geordneten Bahnen der "sozialpartnerschaftlichen" Konfliktlösung. Geht zu eurem Betriebsrat, der regelt das. Auch nach dem Motto, dass wir ja doch nur "Verbesserungen" durchsetzen könnten, alles andere sei Träumerei (Revolution...).

Auch wir von hotlines haben nichts gegen "Verbesserungen". Aber die Forderungen danach sind nicht unser Ausgangspunkt, sondern vielmehr die Erfahrungen, die die ArbeiterInnen in den Auseinandersetzungen und Kämpfen machen. In diesen liegt die Möglichkeit des kollektiven Erlebens der eigenen Macht, die Verhältnisse, die nach der Anhäufung von Kapital organisiert sind, anzugreifen und abzuschaffen. Wir lehnen Gewerkschaften und andere Vertretungsformen nicht ab , weil ihre Ziele nicht radikal genug sind und auf eine Verschönerung der Ausbeutung statt auf ihre Abschaffung hinauslaufen, sondern weil gewerkschaftliche Kampfformen diese Erfahrungen und damit die Perspektive von Selbstbefreiung kaum zulassen.

Wenn wir diese Perspektive im Auge behalten wollen, müssen wir uns auch davor hüten, von "Überausbeutung" in Call Centern zu sprechen, wie das linke GewerkschafterInnen und AktivistInnen der callcenteroffensive gerne mal tun (7). Alles ok, wenn wir genug verdienen und Flachbildschirme bekommen? Sicher müssen wir die besonders miesen Bedingungen brandmarken (wie durch das ISI-Flugblatt), gleichzeitig aber verhindern, dass dadurch Bilder entstehen, die unterstellen, es gäbe sowas wie eine "gerechte" Ausbeutung und eine "ungerechte". Vielmehr geht es darum, an allen Punkten die Kämpfe gegen die Ausbeutung zu unterstützen und auf den Zusammenhang der unterschiedlichen Ausbeutungssituationen hinzuweisen (nicht nur zwischen Jobs hier, sondern auch solchen in den Chipbuden und Turnschuh-Nähereien in Ostasien oder Lateinamerika). Wenn wir nur die Call Center als "miese Buden" bezeichnen und den Zusammenhang zu kapitalistischer Krise und Ausbeutung (im Weltmassstab) rauslassen, landen wir doch wieder bei gewerkschaftlicher Vertretung oder "Standort-Diskussion".(8)

Dabei ist das Problem von Initiativen wie hotlines, die auf die Dynamik im Klassenkampf setzen: Trotz der sich verschärfenden Krise, den Angriffen der rot-grünen Regierung (Kürzungen der Arbeitslosenhilfe, verschärfter Druck auf Arbeitslose...), trotz der Aufweichung der "Sozialstandards" hat sich keine grössere Mobilisierung von ArbeiterInnen ergeben. Der Klassenkampf ist schwer erkennbar, solange er auf kleiner Flamme brennt. Es ist auch problematisch, auf Kampferfahrungen von (Call Center-)ArbeiterInnen zu verweisen, wenn diese Kämpfe bisher wenig Hoffnung auf eine breitere Bewegung machen und in der Verteidigung des Status Quo (gegen Entlassungen, gegen Auslagerung) hängenbleiben. Bleibt der Versuch, an den (kleinen) Konflikten hier dranzubleiben und Berichte z.B. über die Streiks in italienischen Call Centern zu verbreiten. Es geht darum, eine Vernetzung von ArbeiterInnen zu unterstützen, die sie im Falle einer grösseren Mobilisierung einsetzen können. Zudem müssen wir mit Beiträgen in die ArbeiterInnendiskussion intervenieren, in denen wir auf den Zusammenhang von Arbeit, Ausbeutung, kapitalistischer Krise und der Macht der ArbeiterInnen, sich als Klasse abzuschaffen, eingehen.

Und free and ISI? Die hotlines-Seite wechselte zu einem anderen Provider (motkraft.net), um free.de aus der Schusslinie zu nehmen. Immerhin bedrohte die kostspielige juristische Auseinandersetzung die Existenz von free. Zudem legte ISI nach und beantragte eine weitere einstweilige Verfügung. Das hotlines-Flugblatt ist weiter vor ISI-Call Centern verteilt worden. Da BewerberInnen bei ISI erstmal eine Woche "ganz umsonst" arbeiten "dürfen" und nur übernommen werden, wenn sie genug Zeitschriften-Abos vertickt haben, hiess das im Flugblatt: "Erpressung-Vertrag bei Abo-Schnitt". Diesmal lehnte das Landgericht Bochum den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen diese Formulierung ab, nicht zuletzt weil die Seite nicht mehr bei free.de lag. ISI hat aber weitere juristische Schritte angekündigt. Dabei hat sich der Fall schon jetzt als Eigentor für ISI erwiesen: Die Soli-Aufrufe von hotlines und free.de haben zu einer weiteren Verbreitung des Flugblatts und anderer Berichte über ISI geführt; und einige ArbeiterInnen, die vom Arbeitsamt zu ISI geschickt wurden, waren vorgewarnt und konnten das Vorstellungsgespräch platzen lassen...

Imma Freitag (hotlines-Kollektiv)

Um Kohle für free und hotlines ranzukriegen, findet am Freitag, 30. November 2001 im Druckluft in Oberhausen, Am Förderturm 27 (5 Minuten vom Hbf.) ein Rave statt: RAVE AGAINST THE MACHINE u.a. mit DJs vom Tresor/Berlin und Tschaka/Ruhrgebiet. Beginn: 22 Uhr, 15 Mark

Fussnoten:

(1) www.motkraft.net/prol-position
(2) www.free.de
(3) z.B. durch die Gewerkschaftszeitung "login", "CallZ" in Dortmund...
(4) www.callcenteroffensive.de ; seht dazu auch den Artikel im ak 449, S. 3
(5) Die Diskussion über Betriebsräte ist besonders deswegen brisant, weil in vielen Call Centern bisher keine solchen Vertretungsmechanismen liefen. Einige ArbeiterInnen haben also die Hoffnung, dass sie ihre Bedingungen über einen Betriebsrat verbessern können. Realistischer ist der Verlauf wie bei Medion in Mülheim: Der Betriebsrat hat gerade die Erhöhung der Anrufzahlen und Ausdehnung der Aufgaben abgesegnet - während Medion eine Gewinnsteigerung um 45 Prozent meldet (FR, 10.11.01). Ohne die Furcht der Bosse vor der Militanz der ArbeiterInnen taugt halt auch ein Betriebsrat nix
(6) VerteilerInnen von hotlines-Flugblättern wurde von DGB-Betriebsräten der Aufruf zu "illegalen wilden Streiks" vorgeworfen; und als Leute der callcenteroffensive - die den Gewerkschaften weniger kritisch gegenübertreten - bei ATM in Berlin Flugblätter verteilten, wandte sich ver.di gegen "überzogenen Aktionismus" und verhandelte hinter verschlossenen Türen weiter mit der Geschäftsleitung, um "arbeitsvertragliche Mindestbedingungen" festzulegen. In der Sprache der Gewerkschaft geht es darum, "Arbeit im Call Center human und produktiv [zu] gestalten" (laut Broschüre "Arbeiten im Call Center. Handlungshilfe für Betriebs- und Personalräte", Frankfurt, 1999)
(7) siehe z.B. unter http://www.ornament-und-verbrechen.de/CallCenter_08.html. Die Diskussion zur "Überausbeutung" erinnert auch an die über den "Neoliberalismus" als besonders böse Variante des Kapitalismus. Als wenn der "normale" Kapitalismus nicht schon unsägliches Leid und Elend produziert! (8) Übrigens sind die zahlreichen Medienberichte über die schlimmen Bedingungen in Call Centern auch darauf zurückzuführen, dass viele deutschsprachige - oft studierende - Linke in den miesen Buden arbeiten und die Bedingungen dort (richtigerweise) angreifen. Über ähnlich schlimme Jobs in Putzklitschen, Müllsortieranlagen oder Küchen hören wir weniger. Da arbeiten mehrheitlich MigrantInnen

Editoriale Anmerkungen
Dieser Text sollte so im aktuellen ak erscheinen, wurde aber von der ak-Redaktion gekürzt, sodass die Zusammenhänge zum Teil schwer verständlich sind. Deswegen hier der vollständige Text.

Übrigens: Wie einige schon gemerkt haben, läuft die Website von prol-position und hotlines - www.motkraft.net/prol-position - momentan nicht. Der Provider motkraft hat Probleme. Für prol-position und hotlines wird eine Zwischenlösung gesucht, bis motkraft wieder online geht. Wer Texte, Flugblätter, usw. von der Seite braucht, soll schreiben an: hotlines@motkraft.net