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Lost in Space - Sozialrevolten und Subjektkritik
Das schwarze Bedürfnis

Wie lässt sich Emanzipation subjektkritisch denken? Ernst Lohoff zu Udo Wolters Kritik am »Schwarzbuch Kapitalismus«

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Ist ein Ausstieg aus der Geschichte möglich? Robert Kurz hat in seinem »Schwarzbuch Kapitalismus« die Moderne als eine permanente Disziplinierung des Menschen für die Erfordernisse der »schönen Maschine« beschrieben. Und gleichzeitig eine Gegenbewegung ausgemacht. Aus der Ungleichzeitigkeit von kapitalistischer Modernisierung und subjektiven Bedürfnissen resultierten die Sozialrevolten der vergangenen Jahrhunderte. Sie seien zugleich emanzipatorisch und gegen die Moderne gerichtet. Mit dieser These lande Kurz im Reich linker Ontologie und Geschichtsphilosophie, hatte Udo Wolter in der Jungle World kritisiert. Die unmittelbaren Subjekte der Sozialrevolten seien selbst nur ein Spiegel der Verhältnisse. Lohoff hält in seinem Beitrag dagegen, dass antikapitalistische Bewegungen immer nur als eine Mélange widersprüchlicher Elemente denkbar seien.

Der Autor ist Mitarbeiter der Zeitschrift Krisis und lebt in Nürnberg.

In Genua liest man über den Gefängnistoren und auf den Ketten der Galeerensträflinge dies Wort Libertas. Diese Anwendung des Leitwortes ist schön und gerecht. In der Tat sind es nur die Bösewichter jeder Art, die den Bürger daran hindern, frei zu sein. In einem Land, wo dieses ganze Gelichter auf den Galeeren wäre, würde man sich der vollkommensten Freiheit erfreuen.
Jean-Jacques Rousseau: »Vom Gesellschaftsvertrag«

Der Marktwirtschaftsterror hat in der letzten Dekade wahrlich unverschämte Formen angenommen. Schon lange sind die Exekutoren der »schönen Maschine« nicht mehr so brutal vorgegangen wie nach dem Untergang des Realsozialismus. Noch nie haben sie mit solcher Arroganz die gnadenlose (Selbst-) Zurichtung zum Rädchen im Wertverwertungsbetrieb als Menschheitsbeglückung verkauft wie heute - im sicheren Gefühl, dass es keine Alternative gibt. Eine solche Entwicklung kann indes nicht nur Einverständnis erzeugen. Bei denjenigen, die mit dem rasanten Prozess nicht Schritt halten können, weckt der Vormarsch von marktwirtschaftlicher Menschenverachtung und Don't-worry-be-happy-Idiotismus auch Widerwillen. Eine solche Situation aber verlangt nach Stimmen, die dem untergründigen Unbehagen Ausdruck verleihen.

In Frankreich lieferte Viviane Forrester mit ihrer 1996 erschienen Streitschrift »Terror der Ökonomie« diesem diffusen kritischen Impuls einen Bezugspunkt. Ihre moralische Argumentation fügte sich dabei allerdings nicht nur bestens zu den sozialen Protestbewegungen, die Ende 1995 das Land erschütterten, sie ließ sich auch mit der Sozialstaatsnostalgie verbinden, wie sie in der Folge u.a. der französische Soziologe Pierre Bourdieu zum Programm erhoben hat.

Eine ähnliche Bedeutung hat in Deutschland das »Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft« von Robert Kurz erhalten. Die Diskrepanz zwischen der Reichweite der dem »Schwarzbuch« zugrunde liegenden theoretischen Position und dem unspezifischen Bedürfnis, das dieses Buch vorderhand bedient, lässt sich bei der Rezeption des Buches mit Händen greifen. Die positiven Rezensionen in der bügerlichen Presse goutieren zwar den Versuch, den Kapitalismus zu delegitimieren. Doch die auf die Aufhebung von Warenproduktion, Arbeit und Subjekt zielende Fundamentalkritik nehmen sie entweder höflichkeitshalber gar nicht erst zur Kenntnis oder schieben sie als eigentlich überflüssigen Verbalradikalismus beiseite.

Es wäre also mehr als voreilig, wollte man von der großen Resonanz, die das »Schwarzbuch« hervorgerufen hat, auf eine Zunahme radikaler Gesellschaftskritik schließen. Der Erfolg ist vielmehr dadurch zu erklären, dass bei der Rezeption die wertkritischen Essentials weitgehend auf der Strecke blieben. Dafür sind nicht allein die Vorzeichen verantwortlich zu machen, unter denen die Arbeit von Kurz wahrgenommen wird. Indem der theoretische Hintergrund zumindest teilweise ausgeblendet wird, kommt das »Schwarzbuch« dieser Neigung auch von sich aus entgegen.

Das »Schwarzbuch« hat nicht nur in den bürgerlichen Medien ein kräftiges Echo gefunden. Nimmt man die Rezensionen in konkret und Jungle World zum Maßstab, kann man nicht unbedingt behaupten, die linke Rezeption unterscheide sich positiv von der übrigen, auch wenn das ihr zugrunde liegende Bedürfnis ein anderes war. (1)

Wertkritik als Subjektkritik

Eine Besprechung fällt indes neben dieser Sorte Verlautbarung angenehm auf: »Das wundersame Überleben der unmittelbaren Subjekte« von Udo Wolter (Jungle World, 26/00). Er hebt auf die grundsätzliche im »Schwarzbuch« enthaltene Fragestellung ab, die sich zwar durch die gesamte Kurzsche Darstellung zieht, aber nicht explizit aufgelöst wird: die Subjekt-Problematik.

Über die in anderen Texten von Krisis-Autoren entwickelten Positionen geht das »Schwarzbuch« vor allem an einem Punkt hinaus. Es verweist im Bruch mit der marxistischen Tradition die »zivilisatorische Mission des Kapitals« kategorisch ins Reich der Fabel. Weil Kurz eher historisch-deskriptiv als begrifflich-kategorial die Warengesellschaft von Anfang an delegitimiert, erscheint bei ihm insbesondere auch die Aufklärung in ungewohnt düsterer Beleuchtung. Lichtgestalten wie Kant oder Rousseau gelten ihm als Dunkelmänner, die genauso in die Geisterbahn der Modernisierungsgeschichte gehören wie Hardcore-Liberale vom Schlage Mandevilles oder de Sades. Damit gewinnt die Kritik der Warengesellschaft nicht nur eine zusätzliche historische Dimension, die Darstellung im »Schwarzbuch« bricht zugleich in zweierlei Hinsicht mit dem klassischen materialistischen Geschichtsbild.

Die 800 Seiten lassen sich als eine einzige »Gegendarstellung« zu der vom Evolutionismus des 19. Jahrhunderts ererbten Vorstellung lesen, die Geschichte sei als Höherentwicklung und als Abfolge bestimmter determinierter Stadien zu verstehen. (2) Mit seiner »Verschwörungstheorie ohne Verschwörer« (Handelsblatt) stellt Kurz außerdem den Stellenwert heraus, der den liberalen Vordenkern von Hobbes bis Smith bei der Installation der »schönen Maschine« zukam. Glaubt man dem »Schwarzbuch«, so waren die liberal-totalitären Ideen viel mehr als nur passiver Reflex realer historischer Veränderungen. Indem die geistige Bewegung der praktischen vorauseilte, hat sie ihr den Weg planiert und sie damit in gewisser Weise überhaupt erst ermöglicht.

Die Abrechnung mit dem Aufklärungsdenken im »Schwarzbuch« hat allerdings einen Haken. Sie spart dessen genuinen Beitrag zur Modernisierungsgeschichte, d.h. seinen Anteil an der Subjektkonstitution, aus. In der Darstellung des »Schwarzbuchs« erschöpft sich die Mitverantwortung der Aufklärer für die Durchsetzung abstrakter, über den Wert vermittelter Herrschaft im Wesentlichen darin, die »schöne Maschine« und die dazugehörige Menschendressur propagiert zu haben. Die Frage nach einem inneren Zusammenhang zwischen der emphatischen aufklärerischen Subjektvorstellung und dem automatischen Subjekt, dem Wert, ist damit noch nicht ins Blickfeld gerückt, geschweige denn beanwortet. (3) Wo das emphatische Subjektdenken unbehelligt davonkommt, ist die Aufklärung aber noch nicht dingfest gemacht.

Wertkritik ist mehr als nur eine Kritik der herrschenden Produktions- und Distributionsweise. Sie enthält wesentlich auch eine radikale Kritik der für diese Gesellschaft charakteristischen und konstitutiven Bewusstseins-, Wahrnehmungs- und Beziehungsformen. Das grundlegende Merkmal warengesellschaftlicher Welterfahrung aber ist die Spaltung der Wirklichkeit in das aus seinen Zusammenhängen herausabstraktifizierte Subjekt und eine von ihm strikt getrennte und damit zum äußeren Faktum gewordene Realität. Ob individuell oder kollektiv: Der Subjekt-Status ist nur zu erringen, indem alles, was das soziale Dasein überhaupt ausmacht, als etwas Fremdes behandelt wird. (4)

Das bürgerliche Denken identifiziert diese Fremdheit mit Freiheit. Hinter dem dichotomischen Gegensatz von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt und sozialem Gefüge verbirgt sich aber nichts anderes als die perfide Logik ungesellschaftlicher Gesellschaftlichkeit. Indem das Subjekt sich als herausgelösten Handlungsträger zelebriert, hat es die Objektivierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs immer schon anerkannt. Es ist ihr ausgeliefert und exekutiert sie - und das ist wesentlich - zugleich durch die Form, in der es als Subjekt mit seinesgleichen in Beziehung tritt.

Die Identität von Subjektkonstitution und Herrschaft des Werts kennzeichnet auch die Naturbeziehung. Menschen können nicht zu Subjekten mutieren, ohne dass sich ihnen ihr vielfach gegliederter »anorganischer Leib« (Marx) in eine Ansammlung passiver Körper auflöst. Die Erhöhung des Menschen zum Subjekt degradiert den Rest der Welt zur in sich zusammenhangslosen passiven Verfügungsmasse. Diese der Inwertsetzung vorausgehende Entwertung der unbelebten und belebten Natur spart natürlich auch das Verhältnis des Menschen zu seiner inneren Natur nicht aus. Mit dem Naturbezug nimmt auch der Selbstbezug eine ebenso eindimensionale wie herrschaftliche Gestalt an. Das Subjekt kommt zu sich, indem es in der gleichen zergliedernden und subsumierenden Weise auf sich selber zugreift, die es im Umgang mit der äußeren Natur eingeübt hat. Das Subjekt wäre keins, würde es sich nicht auch zu seinen eigenen Bedürfnissen, zu seiner Sinnlichkeit und seiner Körperlichkeit wie zu einem äußeren Gegenstand verhalten.

Dem Aufklärungsdenken kommt bei der Herausbildung der Warengesellschaft vor allem deshalb eine Schlüsselrolle zu, weil es genau diese Art von Welterfahrung »erfunden« und ihre Verallgemeinerung in die Wege geleitet hat. In der Selbstzweckhaftigkeit des weltvergessenen Subjekts steckt bereits die Selbstzweckhaftigkeit der weltzerstörenden »schönen Maschine«. Dabei lassen die Wurzeln des modernen Zurichtungsprozesses sich mindestens bis Descartes zurückverfolgen. Bei ihm erscheint das der Welt fremde Subjekt noch als reines Erkenntnisproblem. Er lässt das nach sicherem Wissen suchende metaphysische Subjekt so verloren durch die Welt stolpern, dass ihm als einzige Gewissheit das solipsistische »cogito, ergo sum« übrig bleibt. Drei Jahrhunderte Modernisierungsgeschichte hatten im Kern nichts anderes zum Inhalt als die Übertragung dieser solipsistischen Grundhaltung auf die Alltagspraxis. Am Ende des langen Weges steht das (post)moderne Subjekt, das allein durch Arbeit und Konsum sich seiner schieren Existenz und der einer Außenwelt versichern kann.

Die negative Dialektik der Aufklärung

Das »Schwarzbuch« beschränkt sich auf die historisch-deskriptive Kritik der »schönen Maschine« und blendet die subjektkritische Dimension weitgehend aus. Dementsprechend fällt auch die Kritik am Aufklärungsdenken zwar im Ton, nicht aber in der Sache so scharf aus, wie es notwendig ist. An diesem Punkt hakt Wolters Kritik zunächst ein. Er macht gegen die Darstellung von Aufklärung und Modernisierung im »Schwarzbuch« die Sichtweise der »Dialektik der Aufklärung« geltend. Während Adorno und Horkheimer auf der »Gleichzeitigkeit von Emanzipation und Herrschaft« beharrten, argumentiere Kurz grobschlächtig und unterschlage die emanzipativen Momente der Moderne und der Aufklärung. Worin diese emanzipativen Momente bestanden haben sollen, weist Wolter zwar nicht explizit aus. Dennoch steht zunächst einmal Behauptung gegen Behauptung.

Da Wolter für seine Gegenthese Adorno und Horkheimer als Zeugen bemüht, lässt sich mutmaßen, dass

er - ebenso wie die Kritische Theorie - im Prozess der Subjektkonstitution die apostrophierten befreienden Momente verortet. Sein zentraler Vorwurf an Kurz stützt diesen Verdacht jedenfalls. Nicht daran, dass sich im »Schwarzbuch« die Emanzipation noch immer auf das Subjekt zu reimen scheint, stößt er sich, suspekt ist ihm lediglich die Subjektontologie, die er bei Kurz am Werk sieht. Unterstellt er damit aber nicht indirekt, mit der klassischen Kritischen Theorie, dass allein das Subjekt den Bezugspunkt jeder emanzipatorischen Perspektive abgeben kann, dieser Bezugspunkt aber leider verloren gegangen ist?

Versteht man Wertkritik als Subjektkritik, so ist es jedenfalls keineswegs ausgemacht, dass die »Dialektik der Aufklärung« über ihren Gegenstand »differenzierter« urteilt als das »Schwarzbuch«, weil ihr eine tiefere Kapitalismusanalyse zugrunde liegt. Vielmehr drängt sich ein anderer Verdacht auf. Der reale historische Prozess warengesellschaftlicher Durchdringung war weniger ambivalent als die Haltung der Kritischen Theorie zu ihm. Adorno und Horkheimer sahen die mörderischen Folgen von Aufklärung, Modernisierung und Umformung von Menschen zu Subjekten, sie konnten sich letztlich aber selber nicht konsequent aus der geistigen Tradition lösen, die all diesen Schrecken zugrunde lag. In der Angst vor dem Irrationalen in der Moderne hat die Kritische Theorie eine halbversöhnliche Haltung gegenüber dessen Zwillingsschwester, der Aufklärungsvernunft, an den Tag gelegt. Sie scheute sich, die eigentlich logische Konsequenz zu ziehen und die Möglichkeit von Befreiung als Aufhebung von Subjekt und Ratio zu denken.

Deshalb geriet die Kritische Theorie auch in die Nähe einer negativ gewendeten Geschichtsteleologie. Mit dem emanzipativen Moment, das irgendwann einmal auf der Strecke geblieben sein soll, wurde in den Aufklärungsprozess und in die Konstitution des Warensubjekts etwas hineingeheimnist, das in beidem noch nie enthalten war. »Vernunft schlägt« keineswegs »in Irrationalität und Barbarei um«, wie die von Wolters bemühte Formel lautet. Die abstrakte Aufklärungsvernunft ist schlicht per se barbarisch, und Vernunft und Irrationalität sind so identisch wie Arbeit und Kapital.

Eine grundsätzlich subjektkritische Argumentation verfängt sich weder in den für die Kritische Theorie charakteristischen Aporien, noch muss sie jedes emanzipative Moment in der Geschichte leugnen. Allerdings sind befreiende Bestrebungen dann ganz anders zu verorten: Von einer »Dialektik der Aufklärung« kann gewissermaßen höchstens im Sinne einer »negativen Dialektik« die Rede sein. So etwas wie eine emanzipative Perspektive konnte immer nur im Widerstand gegen den Prozess von Rationalisierung und Aufklärung aufscheinen, sie war aber nie in dieser Entwicklung selber enthalten. Das »Schwarzbuch« hat das zwar nicht kategorial entwickelt, macht aber diese These am historischen Material plausibel.

Subjekt durch die Hintertür

Es gibt keinen Grund, in die düsteren Farben, in denen das »Schwarzbuch« das Bild des Kapitalismus malt, ein paar hellere Farbtöne zu mischen und den Glauben an die Aufklärung zu retten. Erst recht besteht kein Anlass, die emphatische Subjektvorstellung der Aufklärung auf irgendeinen anderen Hoffnungsträger zu projizieren, nachdem sich die bisherigen »revolutionären Subjekte« allesamt desavouiert haben. In dieser Hinsicht trifft Wolters Kritik zu.

Dass es eine als Subjektkritik verstandene Wertkritik eigentlich verbietet, die Gegenbewegungen der Vergangenheit ihrerseits als eine Art Antisubjekt darzustellen, weiß Kurz genau. In seinem Aufsatz »Subjektlose Herrschaft« (Krisis, Nr. 13) hat er es selber dargelegt. Dementsprechend finden sich im »Schwarzbuch« immer wieder Formulierungen eingestreut, die sich gegen eine idealisierende Sicht der Sozialrevolten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wenden und auf der Vielschichtigkeit dieser Bewegungen beharren. Die Diktion des »Schwarzbuchs« dementiert indes über weite Strecken diese Warnungen wieder.

Zum Teil resultiert das sicherlich aus der Schwerpunktsetzung des »Schwarzbuchs«. Sein zentrales Thema ist die kapitalistische Entwicklung und ihre Subsumtionsgewalt. Die Sozialrevolten des 18. und 19. Jahrhunderts werden lediglich als eine Art Kontrastmittel bemüht, vornehmlich, um den »verhausschweinten« Charakter der bereits auf die Integration in die Welt von abstrakter Arbeit und Wert ausgerichteten klassischen Arbeiterbewegung herauszustellen. Die mit dem Vormarsch der kapitalistischen Logik identische Zwangsvereinheitlichung färbt bei einem in dieser Weise beschränkten Zugang aber sehr leicht auf die Darstellung der angeführten widerständigen Momente ab. Dass die große Dampfwalze der Moderne diese Gegenbewegungen allesamt überrollt hat, lässt sie in einer Kohärenz erscheinen, die ihnen nie zukam. Damit entsteht der Eindruck, wir hätten es doch wieder mit einem Subjekt zutun.

Diese falsche Vereinheitlichung betrifft - und auch hier hat Wolter Recht

- nicht nur die Sozialrevolten einer fernen Vergangenheit. Dem vom »Schwarzbuch« bedienten, aber eben auch osmotisch adaptierten diffusen Protestimpuls entsprechend erscheint der Kontrapunkt zur kapitalistischen Versachlichungslogik ebenso nebulös wie einförmig und damit unveränderlich. Beschworen wird nicht viel mehr als der ewige Wille, beim kapitalistischen Irrsinn nicht mitzumachen. Woraus sich dieser Wille jeweils speisen kann, was er über den Verweigerungsgestus hinaus zum Inhalt hat, erfährt man nicht. Der existenzielle Gestus hilft über die theoretische Leerstelle hinweg, aber nur um den Preis, dass die beschworene Widerständigkeit genau die Färbung annimmt, die mit Wertkritik eigentlich unvereinbar ist, nämlich die einer conditio humana.

Dass Kurz die Naturalisierung des kapitalistischen Irrsinns mit aller Entschiedenheit kritisiert, ist zwar richtig. Der Tenor, jede Art von Rebellion sei viel weniger erklärungsbedürftig als die Tatsache, dass Menschen die kapitalistischen Zumutungen verinnerlicht und sich zu eigen gemacht haben, passt als polemische Zuspitzung gut zur Intention des »Schwarzbuchs«, dem Kapitalismus jede Legitimation abzusprechen.

Allerdings droht die Kritik der Naturalisierung wiederum in eine Naturalisierung des Widerstands gegen die kapitalistischen Zwangsgesetze umzuschlagen. Der Ton allgemeiner Empörung, den Kurz anschlägt, ist ebenso monoton und einförmig wie das mit sich identische Subjekt. Der »aufrechte antikapitalistische Gang«, den Kurz wiederholt anmahnt, erinnert fatal an die Art von Fortbewegung, zu der bereits die von ihm so gründlich verdammte Aufklärung die Menschheit erziehen wollte.

Dass das »Schwarzbuch« an einem nicht ganz unwesentlichen Punkt Analyse durch Empörung ersetzt, spiegelt sowohl das beschränkte Bedürfnis des breiteren Publikums wider als auch den Stand von Gesellschaftskritik in dieser Frage. Es wäre fatal, wollte sich Wertkritik mit der im »Schwarzbuch« angebotenen Auflösung begnügen und sie als Antwort verkaufen, statt die ungelöste Frage, die sich hier stellt, auch offen zu legen: Wie lässt sich Emanzipation subjektkritisch denken? Wie im Hinblick auf untergegangene und künftige Bewegungen?

Die Niederlage vor der Niederlage

Wolter wirft Kurz vor, die Sozialrevolten des frühen 19. Jahrhunderts zu idealisieren. Vor allem die Verbreitung antisemitischer Muster in diesen Bewegungen nimmt er als Indikator für deren ambivalenten Charakter. Kurz behandelt den Antisemitismus als ein der Welt der »moral economy« an sich wesensfremdes Element, das sich auch nur in Deutschland mit den Sozialrevolten amalgamiert hat. Wolter sieht dagegen einen inneren Zusammenhang zwischen einem allgemeineren, über Deutschlands Grenzen hinaus verbreiteten Ressentiment gegen die Juden und dem lokal-bornierten, in vielerlei Hinsicht reaktionären und repressiven Charakter, den er diesen Sozialrevolten zuschreibt.

Woltersche Skepsis verweist damit zumindest auf ein weiteres grundsätzliches Problem. Bei den Sozialrevolten des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts handelte es sich in gewisser Hinsicht bereits um kupierten Widerstand. Die Ludditen beispielsweise hatten sich im Wesentlichen auf den Kampf mit den unmittelbaren Repräsentanten der Zirkulationssphäre kapriziert. So wandten sie sich nicht mehr offensiv gegen das territorialstaatliche Regime. Wolter spricht das an, wenn er auf den Topos des gerechten Herrschers zu sprechen kommt, der in diesen Bewegungen präsent war. Das ist ein Indiz dafür, dass wesentliche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen kapitalistischer Herrschaft bereits etabliert und letztlich akzeptiert waren, als sich der »Maschinensturm« erhob. In anderen Zusammenhängen betont Kurz gerne die Rolle der frühneuzeitlichen Staatsbildungskriege beim warengesellschaftlichen Take-off. Seltsamerweise führt ihn das im »Schwarzbuch« aber nicht dazu, die Reichweite der Sozialrevolten des 19. Jahrhunderts zu relativieren.

Es mag in den Ohren historischer Materialisten reichlich verrückt klingen, aber vielleicht wurden die vorentscheidenden, (nicht nur) geistigen Kämpfe, die den Vormarsch der Wertvergesellschaftung einleiteten, noch im religiösen Gewand ausgefochten, und zwar lange bevor die Warenproduktion auf breiter Front die alltäglichen Reproduktionsbeziehungen umwälzte. Wer nach sozialen Bewegungen sucht, die sich nicht nur den Konsequenzen der Warenlogik sperrten, sondern noch für einen anderen Kosmos stehen, muss wohl bis zu den Ketzerbewegungen des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit zurückgehen. Denn sie hatten noch eine - natürlich selbst auf eine spezifische Weise fetischistische - Weltdeutung als Hintergrund, die der gerade erst entstehenden modernen Sicht von Natur und Gesellschaft in einem umfassenden Sinne Paroli bieten konnte. Spätestens mit dem Ende der Bauernkriege und der Niederschlagung der Wiedertäuferbewegung war dieses Kapitel in Deutschland abgeschlossen und die Ebene allgemeiner Weltdeutung preisgegeben.

Der Umstand, dass sie bereits auf einer verheerenden und innerlich akzeptierten Niederlage aufbaute, ist nach Kurz verantwortlich für den »verhausschweinten« Charakter der klassischen Arbeiterbewegung. Über die Sozialrevolten des frühen 19. Jahrhunderts ließe sich Ähnliches sagen.

Emanzipation heißt Emanzipation vom Subjekt

Wolter klassifiziert die Sozialrevolten des frühen 19. Jahrhunderts als »Mélange ambivalenter Elemente«. Dagegen lässt sich zunächst einmal wenig einwenden. Unklar bleibt allerdings, was er an dieser Mélange für problematisch hält. Kamen in den Sozialrevolten Momente zum Tragen, die nur in eine reaktionäre Richtung treiben konnten? Oder ist ihm jede Mélange von vornherein suspekt? Sollte dies der Fall sein, so dürfte Wolter nie mit irgendeiner vergangenen oder denkbaren künftigen sozialen Bewegung oder Strömung glücklich werden. Emanzipative Bewegungen können überhaupt nur als Mélange unterschiedlicher, teilweise gegensätzlicher Motive entstehen. Wollte man Einheitlichkeit fordern, so hieße das nur, die Subjektvorstellung einzuklagen und die warengesellschaftliche Subsumtionslogik in der Form eines vermeintlich emanzipativen Anspruchs zu reproduzieren.

Als praktisch durchgesetzter Imperativ und nicht allein als theoretischer Anspruch hat genau das die Entwicklung der klassischen Arbeiterbewegung wesentlich mitbestimmt. Sie entstand ursprünglich als Konglomerat aus spontanen, unmittelbar auf die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen gerichteten Kämpfen, verschiedensten Ansätzen genossenschaftlicher Selbstorganisation und gesellschaftskritischen Diskursen. Gerade in der Unterordnung ihrer gegengesellschaftlichen Aspekte unter das »Primat der Politik« vollzog sich die Integration dieser Opposition in die warengesellschaftliche Ordnung. (5) In dem Maße, wie die Arbeiterbewegung glaubte, als politisches Subjekt agieren zu müssen, und diesem Glauben alles andere unterordnete, verlor sie ihre widerspenstigen Elemente.

Nicht nur die Revolten des frühen 19. Jahrhunderts, auch andere soziale Bewegungen der Vergangenheit enthielten stets Elemente, die über die warengesellschaftliche Form hinauswiesen. Die Ursache ist in der Kollision von warengesellschaftlicher Transformation und traditionellen Lebens- und Denkweisen und den damit einhergehenden Ungleichzeitigkeiten zu suchen. Wo das Bewusstsein, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse auch anderen Regeln als denen der kapitalistischen Konkurrenz folgen können, noch präsent war, machte die Zertrümmerung des alten sozialen Gefüges eine Neukomposition sozialer Beziehungen zumindest denkbar. Weil mit der Verallgemeinerung des Werts immer größere Teile warengesellschaftlicher Weltdeutung und Welterfahrung selbstverständlich und verinnerlicht wurden, verblasste diese Gegenperspektive allerdings. Selbst wo sich Widerständiges neu formierte, verlor es in den letzten zweihundert Jahren wieder an Einfluss.

Diesen langfristigen Trend der Entradikalisierung zu konstatieren, heißt nicht, ihn per se für irreversibel zu erklären. Die Zerstörung überlebender, vorkapitalistischer Momente bildet nicht den einzig möglichen Ausgangspunkt für die Entstehung emanzipativer Widerständigkeit. Was einmal als Bestandteil warengesellschaftlicher Zurichtung historisch wirksam wurde, sich mit dem Übergang zu neuen Stufen kapitalistischer Herrschaft jedoch in einen Anachronismus verwandelt, taugt unter Umständen in einem neuen Kontext zur emanzipativen Umbesetzung. Vom kapitalistischen Standpunkt dysfunktional gewordene Haltungen werden in einem herrschaftlichen Sinne transformiert oder verschwinden schließlich. Sie können jedoch auch eine Verbindung mit Gesellschaftskritik eingehen.

Der egalitaristische Impetus beispielsweise fungierte zweifellos im Zeitalter der fordistischen Arbeit als Moment der Gleichschaltung und begleitete die Einordnung des Menschenmaterials in die »schöne Maschine«. Es ist aber deswegen nicht von vornherein ausgeschlossen, dass er sich im Übergang zur postfordistischen Apartheidsgesellschaft gegen die für das neue Stadium charakteristische Ausgrenzungslogik mobilisieren lässt. Selbst vom ergrauten Bildungsideal, lange Inbegriff von Menschendressur, lässt sich vielleicht Ähnliches sagen. Mit der Reduktion von Wissen auf Information, auf unmittelbar verwertbare und isolierte Kenntnisse, gewinnt die Idee, überhaupt Zusammenhänge zu denken, fast schon per se eine Affinität zur Subversion. Gerade die ungeheure Beschleunigung, die heute die warengesellschaftliche Entwicklung erfährt, schafft eine Vielzahl von potenziellen Reibungsflächen.

Damit eine emanzipatorische Perspektive entstehen kann, muss allerdings ein Moment hinzutreten. Eine ebenso radikale wie greifbare Kritik der modernen Warengesellschaft hat deren Weltdeutungsmonopol zu brechen und einen ersten provisorischen geistigen Bezugsrahmen zu schaffen, in dem verschiedene widerständige Impulse korrelieren können. Die Sozialrevolten des frühen 19. Jahrhunderts verliefen im Sande, weil das allgemeine Terrain schon preisgegeben war. Im 21. Jahrhundert wird sich eine emanzipative Perspektive von vornherein nur abzeichnen, wenn Gesellschaftskritik auch auf dieser Ebene die Initiative an sich zieht und die warengesellschaftliche Ideologie delegitimiert.

Der Tod auf der Datenautobahn

Man kann die Akzeleration der warengesellschaftlichen Entwicklung kaum beschreiben, geschweige denn begreifen, ohne vom Siegeszug der Mikroelektronik zu sprechen. In den letzten Kapiteln des »Schwarzbuchs« spielt sie daher eine Schlüsselrolle. Die Überlegungen von Robert Kurz lassen allerdings gerade den zentralen, für die Entwicklung einer emanzipativen Perspektive entscheidenden Punkt aus. Er hebt zum einen darauf ab, dass die Anwendung der Mikroelektronik durch die flächendeckende Verdrängung lebendiger Arbeit eine neue Krisenpotenz schafft. Gleichzeitig feiert er jedoch die Mikroelektronik als ein probates Hilfsmittel künftiger direkter Vergesellschaftung. Über die weltweiten »Datennetze« könnten in einer befreiten Gesellschaft unschwer Koordinationsfunktionen direkt abgewickelt werden, die heute beim Geld, dem Medium indirekter Vergesellschaftung, liegen.

Die Frage, in welche Richtung die Mikroelektronik unter kapitalistischen Bedingungen die sozialen Beziehungen verändert, taucht dabei erst gar nicht auf. Mit ihr verschwindet auch das Problem, ob angesichts dieser Entwicklungen die Ergebnisse der mikroelektronischen Revolution überhaupt emanzipativ umgewidmet werden könnten. Erst recht bleibt die Frage ungestellt, wie eine solche digitale »Instandbesetzung« ins Werk zu setzen sei. Wenn Wolter demgegenüber, auf Rudi Schmiede rekurrierend. die Informationsarbeit als »im wörtlichen Sinn abstrakte Arbeit« bezeichnet und damit als Inbegriff der neuerlichen Unterwerfung, macht er dieses Manko sichtbar. Anschlussfähig an eine emanzipative Perspektive dürften eher Bedürfnisse und Haltungen sein, die im so genannten Informationszeitalter hinfällig werden.

Dennoch macht es sich Wolter mit seinem Analogieschluss, man könne nicht wie Kurz das Automobil als per se warengesellschaftliche Technologie verdammen und auf der Datenautobahn in die Emanzipation rollen wollen, vielleicht etwas zu einfach. Anders als eine konkrete technologische Entwicklung wie das Auto lässt die Mikroelektronik prinzipiell durchaus unterschiedliche Ausgestaltungen und Anwendungen zu. Sie kann je nach vorausgesetztem sozialen Zweck in verschiedenen technischen Formen ihren Niederschlag finden. Sowohl die voreilige Produktivkraftkritik wie eine naive Technikbegeisterung verstellen den Blick: Die Gestaltung von Technologie ist selbst ein Schlachtfeld. Dieses Terrain wird heute eindeutig vom warengesellschaftlichen Imperativ beherrscht, die Umgebung der Menschen in Kaufdinge aufzulösen und sie selber in isolierte, enteignete Monaden zu verwandeln. Es gibt keinen Grund, diese Tatsache zu leugnen oder sie als etwas Unveränderliches zu mystifizieren.

Mit einer bloßen Zweckentfremdung der technischen Hilfsmittel, mit denen das Kapital die Welt beglückt, ist es jedenfalls nicht getan. Wenn die Anwendung der Mikroelektronik irgendeine emanzipatorische Bedeutung gewinnen soll, müsste sie sich gerade an das adaptieren, was mit ihrer heutigen Mission inkompatibel ist. Ein Medium, das nur Daten und Fakten transportiert, wäre mit dem gegenläufigen und völlig verstaubten Wunsch vereinbar zu machen, selber zu denken, und zwar in Zusammenhängen. Das omnipräsente Medium der Zusammenhanglosigkeit, der Beliebigkeit und sinnlosen Beschleunigung wäre mit dem Bedürfnis nach Entschleunigung in Einklang zu bringen. Es kann kein historisches Subjekt geben, das diese anspruchsvolle Aufgabe löst. Vielleicht aber braut sich irgendwann eine Mélange zusammen, die so etwas schafft.


Anmerkungen

(1) Zum »Schwarzbuch« von Robert Kurz sind folgende Rezensionen in der Jungle World erschienen: Anton Landgraf (5/00), Thomas Kuczynski (10/00), Martin Janz (11/00), Stephan Grigat (12/00) und Diedrich Diederichsen (15/00).

(2) In der Krisis wurde dieser Aspekt bisher hauptsächlich in meinem Aufsatz »Determinismus und Emanzipation« (Krisis, Nr. 18) angerissen. In der internen Diskussion spielt die Abstoßung vom materialistischen Geschichtsverständnis eine recht zentrale Rolle.

(3) Eine historisch-deskriptiv angelegte Arbeit wie das »Schwarzbuch« kann diese Aufgabe gar nicht erfüllen. Dazu bedürfte es einer kategorial-analytischen Vorgehensweise und einer immanenten Auseinandersetzung mit den Schlüsselwerken der Aufklärung. Der manchmal allzu fulminant geratene Stil des »Schwarzbuchs« suggeriert aber, dass schon alles gesagt sei, was zu sagen ist.

(4) Der Subjektbegriff wird häufig in einem doppelten Sinn verwendet. Er bezeichnet sowohl die individuelle Ebene als auch die Ebene von Metasubjekten wie Arbeiterklasse oder Nation. Dieser Sprachgebrauch ist weder zufällig noch verweist er auf eine bloße Analogie. Vielmehr verbirgt sich dahinter so etwas wie eine Strukturidentität. Es würde den Rahmen sprengen, diesen Zusammenhang hier zu entwickeln. Wenn ich später, bei der Frage des Emanzipationssubjekts, vornehmlich auf der Ebene der Metasubjekte argumentiere, ist er aber bereits unterstellt.

(5) Es war dabei nur ein sekundäres Problem, ob die »Eroberung der Staatsgewalt« als revolutionärer Akt oder als Ergebnis von Wahlerfolgen gedacht wurde.