»Nicht heute oder morgen sollst Du
Deinen Geburtstag feiern, sondern heute und morgen und jeden Tag, denn
jeden Tag sollst Du von neuem geboren werden und jeden Tag das Leben von
neuem gebären: Das heißt mir Mensch und Künstler zu sein.« In etwas
exaltiertem Deutsch begann
der niederländische Dichter Hendrik Marsman die »Geburtstäglichen
Betrachtungen«, die er seinem Freund Arthur Lehning zu dessem 20.
Geburtstag widmete. Das war im Oktober 1919. Am heutigen Sonnabend, mehr
als ein Menschenleben später, begeht der letzte lebende große
Anarchist in dem mittelfranzösischen Dorf Lys-St.-Georges seinen 100.
Geburtstag. Ob in dem kleinen Bauernhaus dichterische Ermunterungen wie
vor 80 Jahren vorgetragen werden, kann der Autor, der vor acht
Jahren in Begleitung eines guten Freundes die herzliche Gastfreundschaft
des ungewöhnlichen Jubilars genießen durfte, nur vermuten.
Gewiß aber wird die intime Gratulantenschar ausführlich an viele
Lebensstationen erinnern, die Arturo - wie ihn seine Freunde und
Mitstreiter seit seinem Spanienaufenthalt Mitte der 30er Jahre
kurzerhand nennen - fast in der gesamten Länge dieses Jahrhunderts
absolviert hat.
Geboren 1899 in Utrecht, begann Lehning nach dem Ende des Ersten
Weltkrieges in Rotterdam sein Studium der Wirtschaftswissenschaften, das
er ab 1922 in Berlin fortsetzte. Berlin war damals die kulturelle
Hauptstadt Europas, und für den niederländischen Studenten, der sich
bereits in seiner Heimat für den deutschen Expressionismus interessiert
hatte, bildeten die Kontakte zu französischen Kubisten, italienischen
Futuristen und russischen Konstruktivisten ein
prägendes Erlebnis. Für seinen künftigen politischen Werdegang als
libertärer Sozialist wurde allerdings die Bekannschaft mit
»leibhaftigen« Bakunisten entscheidend. Bereits in Rotterdam hatte
Lehning die sechsbändige französische Bakunin-Ausgabe intensiv
studiert; die Faszination für die herkulische Gestalt mit dem
berühmten grauen Filzhut sollte ihn fortan nicht mehr loslassen.
Nunmehr begegnete er bedeutenden Vertretern des zeitgenössischen
Anarchismus und Anarchosyndikalismus wie Emma Goldman, Alexander Berkman
und Alexander Schapiro, die nach dem gescheiterten Kronstädter Aufstand
1921 freiwillig oder gezwungenermaßen Rußland verlassen mußten. Ihr
von Michail Bakunin geprägtes Revolutions- und Staatsverständnis, daß
es keine Freiheit ohne Sozialismus und keinen Sozialismus ohne Freiheit
geben kann, wurde Leitmotiv für Arthur Lehnings künftiges Wirken.
Nach Beendigung des Studiums, wo er u. a. Vorlesungen bei Werner Sombart
gehört hatte - dessen anekdotische Definition des Kapitalismus »Eine
Schuhfabfrik ist nicht eine Fabrik, um Schuhe zu produzieren, sondern um
Gewinne zu erzielen« begeistert Lehning im übrigen bis heute -, kehrte
er über längere Aufenthalte in Wien und Paris im Jahre 1926 nach
Holland zurück. Hier engagierte er sich in der syndikalistischen und
anarchistisch orientierten antimilitaristischen Bewegung, die in dieser
Zeit unter der Losung »Indie los van Holland« Indonesien bei der
Befreiung vom holländischen Imperialismus unterstützte.
Von 1927 bis 1929 gab Lehning in Amsterdam die legendäre literarische
Zeitschrift i 10 heraus, die mit dem Untertitel Internationale Revue
ihren kosmopolitischen Anspruch unterstrich. Lehning versammelte in
diesem künstlerisch und politisch radikalen Blatt eine bunte
Gesellschaft: Von den Marxisten Ernst Bloch und Walter Benjamin über
den »Herodot des Anarchismus«, Max Nettlau, und den Ex-Pfarrer,
Revolutionär und Antimilitaristen Bart de Ligt bis hin zu Künstlern
wie El Lissitzky und den Bauhaus-Mitbegründer László Moholy- Nagy kam
eine nicht nur für damalige Verhältnisse erstaunliche Vielfalt
unterschiedlicher Auffassungen zusammen. Im Juni 1929 ging die
Zeitschrift mit dem merkwürdigen und geheimnisvollen Namen leider wegen
Geldmangels ein, in ganz Europa fanden sich nur etwa 250 Abonnenten.
Die erste Hälfte der 30er Jahre war Lehning als Sekretär der
anarchosyndikalistischen Internationale in Berlin, Madrid und Barcelona
rastlos tätig. Die maßgeblich von den Anarchosyndikalisten
und ihrer Organisation »Confederación National de Trabajo« geprägte
revolutionäre Bewegung gegen Franco begrüßte Lehning im Herbst 1936
in einer Radiorede emphatisch: »Dies ist die welthistorische Stunde
Bakunins.« Nach der Vernichtung der spanischen Revolution beteiligte
sich Lehning an der Gründung des Internationalen Instituts für
Sozialgeschichte in Amsterdam, das in der zweiten Hälfte der 30er Jahre
viele wertvolle Nachlässe (darunter auch die von Marx und
Engels) und Bibliotheken vor dem Zugriff der deutschen Faschisten
rettete. Zu den neuen Schätzen des Instituts an der Keizersgracht 264
zählte auch die legendäre, 40 000 Bände umfassende Anarchismus-
Bibliothek Max Nettlaus, die während der kriegsbedingten Auslagerung im
englischen Exil auch die wichtigste Arbeitsgrundlage für Lehnings
wissenschaftliche Arbeiten bildete.
Mit dem Aufbau einer Bibliothek für Ökonomie, Politik und
Sozialgeschichte im kolonial befreiten Indonesien Anfang der 50er Jahre
bezeugte Lehning erneut die ihn zeit seines Lebens
auszeichnende Verbindung von Forscherdrang und aktiver Neugier auf
Geschehendes, sein Streben, beides nach Möglichkeit miteinander zu
verbinden. Anschließend begann er in Amsterdam die Arbeit an seiner
großen Bakunin- Ausgabe, zweifellos das Opus magnum in Lehnings über
600 Titel umfassendem Lebenswerk. Der erste Band der »Archives
Bakounine« wurde 1961 publiziert. Sechs weitere folgten bis 1981, die
mit der Renaissance des russischen Revolutionärs unter der Losung
»Bakunin back in town!« einigen Einfluß auf die 68er Generation und
ihre Nachfolger hatten. Der letzte Band dieser monumentalen Edition
steht noch immer aus; das Alter zwang Lehning kurz vor Fertigstellung
der Einleitung zur vorläufigen Beendigung der Editionsarbeiten. Gerade
diesen Band hat der Herausgeber, zweifellos der profundeste Kenner von
Leben und Werk des namhaften Anarchisten, allerdings als einen der
wichtigsten charakterisiert, denn er spiegelt erstmals
vollständig Bakunins Wirken in Italien als Organisator seiner »Fraternité
Internationale« (1864 - 1867) wider. Mehr noch. »Es sind die
wichtigsten Quellen seiner Ideen: ein kohärentes System seiner
atheistischen, föderalistischen und kollektivistischen Auffassungen,
denen eine revolutionäre Praxis inhärent ist und mit denen sein Name
immer verbunden bleibt.«
Der liebenswürdige, stets bescheiden auftretende Arthur Lehning hat mit
Ausnahme der Ehrendoktorschaft an der Universität Amsterdam im Jahre
1976 kaum offizielle Ehrungen erfahren. Die Festschriften zu seinem 75.,
85. und 90. Geburtstag bezeugen allerdings die beeindruckende Resonanz
seines wissenschaftlichen und politischen Wirkens, die in Frankreich,
Italien und Spanien größer war als im anglo-amerikanischen Sprachraum
bzw. in Deutschland oder seinem Heimatland. In einer der
Jubiläumsschriften illustrierte er seine Utopievorstellungen in einem
autobiographischen Vortrag anhand des Gedichts »Ithaka« des
griechischen Dichters Konstantin Kafavis, das mit folgenden Zeilen
endet: »Ithaka gab dir die schöne Reise./Du wärest ohne sie nicht auf
die Fahrt gegangen./Und mehr hat sie dir nicht zu geben./Auch wenn sie
sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht./So weise, wie du
wurdest, und mit so viel Erfahrung/wirst du gewiß verstanden haben, was
ein Ithaka bedeutet.«
Die vorläufig letzte Auszeichnung wurde Arthur Lehning im Dezember 1998
zuteil, als dem 99jährigen mit dem P.C.-Hooft-Preis der bedeutendste
holländische Literaturpreis verliehen wurde. Die Anspielungen von
niederländischen Journalisten, daß diese Ehre eigentlich um Jahrzehnte
»zu spät« gekommen sei, quittierte Lehning mit der ihm eigenen
Souveränität: »Der Preis kommt gerade rechtzeitig und ist eine
schöne Kompensation kurz vor Toresschluß.«
Uns bleibt heute nur der Wunsch, daß die Aufregungen des Jubiläums vom
Geburtstagskind schadlos überstanden werden und es in wenigen Wochen
auch den denkwürdigen Lebensbogen vom 19. ins 21. Jahrhundert bei guter
Gesundheit feiern kann. Prosit, Arturo!
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