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send to http://www.ainfos.ca/ on 29 Oct 1999

Am Sonnabend begeht der niederländische freiheitliche Sozialist Arthur Lehning 
seinen 100. Geburtstag. 


Von Volker Külow

11/99
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»Nicht heute oder morgen sollst Du Deinen Geburtstag feiern, sondern heute und morgen und jeden Tag, denn jeden Tag sollst Du von neuem geboren werden und jeden Tag das Leben von neuem gebären: Das heißt mir Mensch und Künstler zu sein.« In etwas exaltiertem Deutsch begann
der niederländische Dichter Hendrik Marsman die »Geburtstäglichen Betrachtungen«, die er seinem Freund Arthur Lehning zu dessem 20. Geburtstag widmete. Das war im Oktober 1919. Am heutigen Sonnabend, mehr als ein Menschenleben später, begeht der letzte lebende große Anarchist in dem mittelfranzösischen Dorf Lys-St.-Georges seinen 100. Geburtstag. Ob in dem kleinen Bauernhaus dichterische Ermunterungen wie vor 80 Jahren vorgetragen werden, kann der Autor, der vor acht
Jahren in Begleitung eines guten Freundes die herzliche Gastfreundschaft des ungewöhnlichen Jubilars genießen durfte, nur vermuten.

Gewiß aber wird die intime Gratulantenschar ausführlich an viele Lebensstationen erinnern, die Arturo - wie ihn seine Freunde und Mitstreiter seit seinem Spanienaufenthalt Mitte der 30er Jahre
kurzerhand nennen - fast in der gesamten Länge dieses Jahrhunderts absolviert hat.

Geboren 1899 in Utrecht, begann Lehning nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Rotterdam sein Studium der Wirtschaftswissenschaften, das er ab 1922 in Berlin fortsetzte. Berlin war damals die kulturelle Hauptstadt Europas, und für den niederländischen Studenten, der sich
bereits in seiner Heimat für den deutschen Expressionismus interessiert hatte, bildeten die Kontakte zu französischen Kubisten, italienischen Futuristen und russischen Konstruktivisten ein
prägendes Erlebnis. Für seinen künftigen politischen Werdegang als libertärer Sozialist wurde allerdings die Bekannschaft mit »leibhaftigen« Bakunisten entscheidend. Bereits in Rotterdam hatte
Lehning die sechsbändige französische Bakunin-Ausgabe intensiv studiert; die Faszination für die herkulische Gestalt mit dem berühmten grauen Filzhut sollte ihn fortan nicht mehr loslassen.
Nunmehr begegnete er bedeutenden Vertretern des zeitgenössischen Anarchismus und Anarchosyndikalismus wie Emma Goldman, Alexander Berkman und Alexander Schapiro, die nach dem gescheiterten Kronstädter Aufstand 1921 freiwillig oder gezwungenermaßen Rußland verlassen mußten. Ihr von Michail Bakunin geprägtes Revolutions- und Staatsverständnis, daß es keine Freiheit ohne Sozialismus und keinen Sozialismus ohne Freiheit geben kann, wurde Leitmotiv für Arthur Lehnings künftiges Wirken.

Nach Beendigung des Studiums, wo er u. a. Vorlesungen bei Werner Sombart gehört hatte - dessen anekdotische Definition des Kapitalismus »Eine Schuhfabfrik ist nicht eine Fabrik, um Schuhe zu produzieren, sondern um Gewinne zu erzielen« begeistert Lehning im übrigen bis heute -, kehrte er über längere Aufenthalte in Wien und Paris im Jahre 1926 nach Holland zurück. Hier engagierte er sich in der syndikalistischen und anarchistisch orientierten antimilitaristischen Bewegung, die in dieser Zeit unter der Losung »Indie los van Holland« Indonesien bei der Befreiung vom holländischen Imperialismus unterstützte.

Von 1927 bis 1929 gab Lehning in Amsterdam die legendäre literarische Zeitschrift i 10 heraus, die mit dem Untertitel Internationale Revue ihren kosmopolitischen Anspruch unterstrich. Lehning versammelte in diesem künstlerisch und politisch radikalen Blatt eine bunte Gesellschaft: Von den Marxisten Ernst Bloch und Walter Benjamin über den »Herodot des Anarchismus«, Max Nettlau, und den Ex-Pfarrer, Revolutionär und Antimilitaristen Bart de Ligt bis hin zu Künstlern wie El Lissitzky und den Bauhaus-Mitbegründer László Moholy- Nagy kam eine nicht nur für damalige Verhältnisse erstaunliche Vielfalt unterschiedlicher Auffassungen zusammen. Im Juni 1929 ging die
Zeitschrift mit dem merkwürdigen und geheimnisvollen Namen leider wegen Geldmangels ein, in ganz Europa fanden sich nur etwa 250 Abonnenten.

Die erste Hälfte der 30er Jahre war Lehning als Sekretär der anarchosyndikalistischen Internationale in Berlin, Madrid und Barcelona rastlos tätig. Die maßgeblich von den Anarchosyndikalisten
und ihrer Organisation »Confederación National de Trabajo« geprägte revolutionäre Bewegung gegen Franco begrüßte Lehning im Herbst 1936 in einer Radiorede emphatisch: »Dies ist die welthistorische Stunde Bakunins.« Nach der Vernichtung der spanischen Revolution beteiligte
sich Lehning an der Gründung des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, das in der zweiten Hälfte der 30er Jahre viele wertvolle Nachlässe (darunter auch die von Marx und
Engels) und Bibliotheken vor dem Zugriff der deutschen Faschisten rettete. Zu den neuen Schätzen des Instituts an der Keizersgracht 264 zählte auch die legendäre, 40 000 Bände umfassende Anarchismus- Bibliothek Max Nettlaus, die während der kriegsbedingten Auslagerung im englischen Exil auch die wichtigste Arbeitsgrundlage für Lehnings wissenschaftliche Arbeiten bildete.

Mit dem Aufbau einer Bibliothek für Ökonomie, Politik und Sozialgeschichte im kolonial befreiten Indonesien Anfang der 50er Jahre bezeugte Lehning erneut die ihn zeit seines Lebens
auszeichnende Verbindung von Forscherdrang und aktiver Neugier auf Geschehendes, sein Streben, beides nach Möglichkeit miteinander zu verbinden. Anschließend begann er in Amsterdam die Arbeit an seiner großen Bakunin- Ausgabe, zweifellos das Opus magnum in Lehnings über 600 Titel umfassendem Lebenswerk. Der erste Band der »Archives Bakounine« wurde 1961 publiziert. Sechs weitere folgten bis 1981, die mit der Renaissance des russischen Revolutionärs unter der Losung »Bakunin back in town!« einigen Einfluß auf die 68er Generation und ihre Nachfolger hatten. Der letzte Band dieser monumentalen Edition steht noch immer aus; das Alter zwang Lehning kurz vor Fertigstellung der Einleitung zur vorläufigen Beendigung der Editionsarbeiten. Gerade diesen Band hat der Herausgeber, zweifellos der profundeste Kenner von Leben und Werk des namhaften Anarchisten, allerdings als einen der wichtigsten charakterisiert, denn er spiegelt erstmals
vollständig Bakunins Wirken in Italien als Organisator seiner »Fraternité Internationale« (1864 - 1867) wider. Mehr noch. »Es sind die wichtigsten Quellen seiner Ideen: ein kohärentes System seiner atheistischen, föderalistischen und kollektivistischen Auffassungen, denen eine revolutionäre Praxis inhärent ist und mit denen sein Name immer verbunden bleibt.«

Der liebenswürdige, stets bescheiden auftretende Arthur Lehning hat mit Ausnahme der Ehrendoktorschaft an der Universität Amsterdam im Jahre 1976 kaum offizielle Ehrungen erfahren. Die Festschriften zu seinem 75., 85. und 90. Geburtstag bezeugen allerdings die beeindruckende Resonanz seines wissenschaftlichen und politischen Wirkens, die in Frankreich, Italien und Spanien größer war als im anglo-amerikanischen Sprachraum bzw. in Deutschland oder seinem Heimatland. In einer der Jubiläumsschriften illustrierte er seine Utopievorstellungen in einem autobiographischen Vortrag anhand des Gedichts »Ithaka« des griechischen Dichters Konstantin Kafavis, das mit folgenden Zeilen endet: »Ithaka gab dir die schöne Reise./Du wärest ohne sie nicht auf die Fahrt gegangen./Und mehr hat sie dir nicht zu geben./Auch wenn sie sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht./So weise, wie du wurdest, und mit so viel Erfahrung/wirst du gewiß verstanden haben, was ein Ithaka bedeutet.«

Die vorläufig letzte Auszeichnung wurde Arthur Lehning im Dezember 1998 zuteil, als dem 99jährigen mit dem P.C.-Hooft-Preis der bedeutendste holländische Literaturpreis verliehen wurde. Die Anspielungen von niederländischen Journalisten, daß diese Ehre eigentlich um Jahrzehnte »zu spät« gekommen sei, quittierte Lehning mit der ihm eigenen Souveränität: »Der Preis kommt gerade rechtzeitig und ist eine schöne Kompensation kurz vor Toresschluß.«

Uns bleibt heute nur der Wunsch, daß die Aufregungen des Jubiläums vom Geburtstagskind schadlos überstanden werden und es in wenigen Wochen auch den denkwürdigen Lebensbogen vom 19. ins 21. Jahrhundert bei guter Gesundheit feiern kann. Prosit, Arturo!

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