Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Jihadistische Taten

25. September 2020: Mordversuche in der Nähe der früheren Redaktion von Charlie Hebdo

11/2020

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Seit dem 02. September dieses Jahres wurde – unter mehr oder minder reger Anteilnahme der Öffentlichkeit, jedenfalls in den Medien – vor Gericht über den doppelten Angriff von vor fünf Jahren (im Januar 2015) auf die Charlie Hebdo-Redaktion und einen jüdischen Supermarkt verhandelt - da schien der Schrecken plötzlich zurückzukehren. Am Mittag des Freitag, den 25. September 20 lief der Nachrichtenalarm über alle Kanäle: Mehrere Menschen seien bei einer „Macheten-Attacke“, wie es zunächst hieß, in der Nähe des alten Sitzes der Charlie Hebdo-Redaktion schwer verletzt worden.

Dass die Redaktion der satirischen Wochenzeitung dort heute nicht mehr anzutreffen ist, so viel war schnell klar, hatte dabei keine Bedeutung. Denn es ist nur einem geringen Kreis von Personen bekannt, wo Charlie Hebdo heute produziert wird, aus leicht nachvollziehbaren Gründen: Die Bedrohung für deren Redaktion hat nicht nachgelassen. Erst zu Anfang derselben Woche war während des Prozesses bekannt geworden, dass die Personalchefin der Wochenzeitung, Marika Bret, ihre Wohnung fluchtartig verlassen musste. Die polizeilichen Personenschützer hatten ihr zehn Minuten Zeit dafür gegeben, infolge von Drohungen, die hinreichend konkret seien, dass sie ernst genommen werden müssten. Die Räumung erfolgte bereits am 14. September 20, doch erst acht Tage später entschied sich die Betroffene dazu, mit dieser Information an die Öffentlichkeit zu gehen.

Wer in jüngerer Zeit nach der Redaktionsadresse von Charlie Hebdo suchte, stieß also im Internet immer wieder nur auf die rue Nicolas Appert im elften Pariser Bezirk. Dorthin kehrten die Mitarbeiter zwar nicht zurück, nachdem am 7. Januar 2015 dort zwölf Menschen – neben Redaktionsmitgliedern auch ein Wartungsarbeiter im Gebäude sowie zwei Polizisten – ermordet worden waren. Andere Adresshinweis sind jedoch öffentlich nicht aufzufinden. Überdies schmücken symbolische Hinweis auf das Attentat die Örtlichkeiten: Ein kleiner Platz an der vom Verkehr abgelegenen Straße wurde in „Platz der freien Meinungsäußerung“ umbenannt, und ein großes künstlerisches Portrait der Getöteten ziert eine Hauswand.

Der Täter befand sich also im Glauben, an der richtigen Adresse zu sein, als er am Spätvormittag dieses 25. September (übrigens, zufällig, der Jahrestag der Abschaffung des „Blasphemie“-Straftatbestands in Frankreich im Jahr 1791…) gegen 11.30 Uhr – das war übrigens auch die Uhrzeit der knappe zwei Minuten währenden Attacke auf die Charlie-Redaktion damals – auf eine Frau und einen Mann losging, die gerade auf dem Trottoir eine Kaffeepause einlegten. Er handelte auch in der Vorstellung, es mit Mitarbeiterinnen von Charlie Hebdo zu tun zu haben. Auch wenn die beiden in Wirklichkeit für Premières lignes (ungefähr: „An den vordersten Fronten“) arbeiten, eine Medien- und Bildagentur, die zuvor kollegiale Beziehungen zu Charlie Hebdo unterhielt. Von dort aus waren damals auch in Sekundenschnell die ersten Meldungen über die tödlichen Schüsse in derer Redaktionen abgesetzt worden, weswegen die halbe Welt sofort auf dem laufenden war, noch bevor die Polizei eintraf; ein Detail, das Verschwörungstheoretiker wiederholt auszuschlachten versuchten, um die Morde als Fake-News darzustellen.

Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei der Tatwaffe um ein Fleischerbeil, wie es in Metzgerläden eingesetzt wird. Beide Opfer zogen sich schwere Gesichts-, die Frau auch Kopfverletzungen zu, doch sind beide inzwischen außer Lebensgefahr. Kurze Zeit später wurde auf den Stufen der wenige Hundert Meter entfernt gelegenen modernen Oper am Bastille-Platz ein junger Mann ausgemacht und durch Polizisten festgesetzt. Er trug Blutspuren an sich, und schnellte stellte sich heraus, dass er auch dieselben roten Turnschuhe anhatte wie der dringend Tatverdächtige, von dem inzwischen über Polizeifunk und Medien die Rede war.

Der Täter, der am selben Abend seine Rolle bei der Attacke während der Vernehmungen einräumte und sich in deren Verlauf als gesprächig erwies – was bei den meisten Terrorverdächtigen nicht der Fall ist – und die Wiederveröffentlichung der umstrittenen Mohammed-Karikaturen durch Charlie Hebdo zu Anfang des Monats (rund um die Prozesseröffnung) als Motiv bezeichnete, wurde damals als 18jähriger Pakistaner eingestuft. Ausweislich seiner in Frankreich ausgestellten Dokumente war er am 10. August 2002 unter dem Namen Ali Hassan geboren und im August 2018, zusammen mit einem zwei Jahre jüngeren Bruder, als unbegleiteter Minderjähriger in Frankreich eingereist. Erste Bilder von seiner Festnahme ließen jedoch schnell verbreitete Zweifel daran aufkommen, ob er nicht in Wirklichkeit älter sei.

Wie die Pariser Abendzeitung Le Monde als erstes Presseorgan berichtete, nachdem sie in die Ermittlungsakten Einblick nehmen konnte, tauchte jedoch schnell eine zweite Identität auf. Aufgrund des Photos eines Ausweispapiers, das auf dem Handy des Festgenommen entdeckt wurde, nehmen die Ermittler demnach an, es handele sich in Wirklichkeit um den mehrere Jahre älteren Zaheer Hassan Mahmood. Dies räumte der Täter dann auch alsbald ein. //Vgl. https://www.laprovence.com //

Laut bisher vorliegenden Erkenntnissen wurde er am 25. Januar 1995 in der pakistanischen Region Lahore geboren und reiste über den Iran, die Türkei und Italien in den Schengen-Raum ein. Unterwegs arbeiteten er und sein Bruder zwischendurch in einer Schuhfabrik in Istanbul.

Aufgrund seiner Altersangabe war er zunächst durch die Bezirksregierung in Cergy-Pontoise bei Paris als minderjährig eingestuft und in die Obhut eines Jugendamts gegeben worden. Die Betreuung nahm jedoch im August dieses Jahres mit Erreichen der Volljährigkeit ein Ende. Eine Polizei- oder Justizquelle erklärte in der Tageszeitung Libération, eventuell habe dies den Betreffenden destabilisiert und eine ideologische Radikalisierung begünstigt. Für eine solche hätte bis dahin den Betreuenden keine Hinweise vorgelegen: „Ali Hassan“ habe gebetet, jedoch keine besonders rigorosen Glaubenspraktiken an den Tag gelegt und bisweilen auch Cannabis geraucht.

Nachdem er in einer Sozialeinrichtung in Cergy-Pontoise untergekommen war, fand er in den letzten Monaten in einer Art Wohngemeinschaft in Pantin nahe Paris eine Unterkunft. Dort wurden in der Nacht zum Samstag (26. September d.J.) fünf frühere Mitbewohner zur Vernehmung festgenommen – drei von ihnen waren am darauf folgenden Montag früh wieder frei -, ebenso kurz darauf ein vormaliger Mitbewohner in Cergy-Pontoise. Ein zweiter Verdächtiger, ein 33jähriger Algerier mit dem Vornamen Youssef, wurde kurz darauf in einer nahe gelegenen Métro-Station festgenommen. Es stellte sich jedoch nach einigen Stunden heraus, dass er dem Täter nicht zu Hilfe kam, sondern ihn aufzuhalten versuchte.

Der mutmaßliche Täter hatte im Juni dieses Jahres eine staatsanwaltliche Ermahnung (un Rappel à la loi) bekommen, weil er bei einer Streitauseinandersetzung am Pariser Nordbahnhof bereits ein Fleischerbeil zog, das er damals allerdings nicht einsetzte. Eigenen Angaben zufolge wollte er jedoch zunächst das Gebäude mit Spiritus in Brand setzen, wovon er jedoch abgesehen habe, da zu viele Leute unterwegs gewesen seien.

Am Wochenende des 26./27 September 20 tauchte zwar kein Bekennerschreiben auf, sei es von Al-Qaida oder vom Islamischen Staat (IS), wohl aber ein Video, das Mahmood in den Stunden vor der Tat an zwei Personen versandte hatte und kurze Zeit bei sozialen Medien zu sehen war. Darin nennt er konkret weder die Mohammed-Karikaturen noch Charlie Hebdo beim Namen und bezieht sich auch auf keine Organisation. Allgemein spricht er jedoch davon, schlecht in Frankreich, einem Land der „Ungläubigen zu leben; und er kündigt in verquast religiöser Manier an, er werde sich auf den „Weg des Propheten“ begeben und eine Lösung finden.

Den zunächst veröffentlichen Informationen aus Ermittlerkreisen zufolge bezieht er sich in dem Video auch auf Ilyas Qadri, den Chef einer zumindest vordergründig Sufi-orientierten Bewegung in Pakistan. Im Unterschied zu Mahmood selbst, zu Al-Qaida oder zum IS tritt diese offiziell gewaltlos auf… spricht sich allerdings auch für die Tötung von „Gotteslästerern“ aus, die ja i.Ü. in Pakistan staatsoffiziell im Gesetz (dem berüchtigten „Blasphemie“-Todesstrafen-Gesetz) vorgesehen ist.

Doch dann ergaben die Ermittlungen, dass der Täter in jüngerer Zeit regelmäßig Videos der radikal-islamistischen, äußerst gewalttätigen pakistanischen Bewegung Tehreek-e Labbaik Pakistan betrachtete. Diese Organisation wiederum erhielt 4,4 % der Stimmen bei den Parlamentswahlen 2018 und ist für ihre außerordentliche Brutalität bekannt; sie tritt offen für die Ermordung von Kritiker/inne/n des o.g. pakistanischen „Blasphemie-Gesetzes“ ein und mobilisierte aktiv und fanatisch für die Vollstreckung der Todesstrafe gegen die (inzwischen freigesprochene und außer Landes gebrachte bzw. geflohene) pakistanische Christian Asia Bibi wegen „Blasphemie“.

In den pakistanischen Medien wiederum verbreitete sich Arshah Mahmoud, der mutmaßliche Vater des Mörders, um zu erklären, er sei „sehr glücklich“ und „sehr stolz“ über die Tat seines Sohnes, um den Propheten zu rächen usw.usf. // Vgl. https://actu.orange.fr/  //
 

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