Mali
Ein Festmahl für Jihadisten, ein wachsendes Problem für Frankreich

von Bernard Schmid

11/2020

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Ein üppiges Festmahl mit Hunderten Teilnehmern mitten in der Wüste, in den Bergen der tiefsten Sahara unweit der Grenze zwischen Mali und Algerien, mit Hammelfleisch und frischem Obst: Solches ereignete sich vorige Woche in Anwesenheit des Jihadisten-Chefs Iyad Ag Ghali, dessen Al-Qaida nahe stehende „Gruppe für die Unterstützung des Islam und der Muslime“ (französisch GISM oder arabisch Al-Jama’at al-nasr al-islam wa-l muslim, hervorgegangen aus einer Fusion der Vorgängergruppen AQMI – „Al-Qaida im Land des islamischen Maghreb“ - und Ansar ed-Din) unter wechselnden Namen seit einem knappen Jahrzehnt die Sahelzone unsicher macht, und unter einer Flagge mit religiösem Schriftzug. Ein Photo von dem Ereignis machte im Internet die Runde. Auch bei jihadistischen Kämpfern findet so etwas nicht alle Tage statt.

Tatsächlich gab es auch etwas zu feiern: Im Laufe der erster vier Wochentage (vom 05. bis 08. Oktober d.J.) waren insgesamt 204 Gefangene freigekommen. Unter befinden sich diversen Presseinformationen zufolge – die ausführlichsten, jedoch sich teilweise zwischen beiden Quellen widersprechenden Informationen lieferten am Sonntag, den 11. Oktober d.J. die linke französische Netzzeitung Mediapart sowie am Montag, den 12. Oktober d.J. die Webseite des konservativen Wochenmagazins Le Point -, rund zwanzig Kader vom harten Kern der Jihadisten, etwa ein Attentäter vom internationalen Hotel Radison Blue in Bamako von 2015 und Sprengstoffspezialisten – vgl. eine erbauliche Liste u.a. unter: https://www.rfi.fr/ -, aber auch viele Angehörige des einfachen „Fußvolks“ oder von Hilfstruppen. (Was bis zum Schluss einen Blockadefaktor bildete, d.h. das Vorankommen des Freilassungsprozesses blockierte, war die Haftentlassung von Aliou Mahamane Touré, des früheren Chefs der „islamischen Polizei“ – d.h. Schari’a-Polizei – in Gao im Jahr 2012, unter der mehrmonatigen Besatzung durch die islamistische Bewegung MUJAO in diesem nordöstlichen Teil Malis. Unter seiner Ägide waren damals Körperstrafen und Amputationen in Gao angeordnet und, z.T. in der Öffentlichkeit vollzogen worden. Dieses Schwein hätte man tatsächlich wesentlich lieber an einem Strick baumeln sehen, als ihn in Freiheit zu wissen!)

Alle, ansonsten divergierenden, Analysen gehen davon aus, dass auch viele (im Rahmen des Ausnahme- und Kriegszustands im Norden Malis) „unschuldig“ Verhaftete, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befanden oder denunziert worden waren, und einfache Kriminelle unter den Häftlingen befanden. Dies erhöhe, präzisierte etwa Le Point, die Popularität von Iyad Ag Ghali in der Krisenzone im Norden Malis: Da die Ortsansässigen ungefähr wüssten, wer unschuldig einsaß oder nicht zur Kerntruppe zählte, erscheine er nun als eine Art Wohltäter der Familien und nicht nur als „Befreier“ der eigenen Kombattanten.

Diese Freilassung in mehreren Wellen erfolgte im Rahmen eines Deals, zu dem auch die Befreiung des malischen parlamentarischen Oppositionsführers Soumaïla Cissé nach sechsmonatiger Gefangenschaft (er war am 25. März dieses Jahres im Raum Mopti, Zentralmali, durch Jihadisten enführt worden) und die der Französin Sophie Pétronin – offiziell war die 75jährige, die zuvor Waisenkindern in Gao half, die letzte französische Geisel im Ausland – sowie zweier italienischer Geiseln gehörte. Hingegen wurde kurz darauf (zunächst über Sophie Pétronin) bekannt, eine schweizerische Geisel, die christliche Missionarin Béatrice Stockly, sei getötet worden. Die Französin Pétronin stellte die Dinge so dar, Stockly habe sich wiederholt offen mit ihren Geiselnehmern angelegt.

Daneben soll ein Lösegeld bezahlt worden sein, dessen Höhe offiziell nicht enthüllt wurde; Medien in Mali sprechen von (fünfzehn bis) zwanzig Millionen Euro. Mal heißt es dazu, die französische Seite habe die Auszahlung dieser Gelder missbilligt, mal wird dem widersprochen. Es scheint jedoch festzustehen, dass die Geldmittel vom malischen Staat und nicht aus Europa kommen.

Bereits zu Beginn voriger Woche (der Woche vom 05. bis 11. Oktober 2020) war der Austausch von Gefangenen, konkret: vier gegen 204, angekündigt worden. Doch erst am Abend des Donnerstag, den 08. Oktober 20 trafen Sophie Pétronin und Soumaïla Cissé in Bamako ein. Die Französin reiste am darauffolgenden Tag weiter und traf in den Abendstunden des Freitag, den 09. Oktober d.J. am Militärflughafen von Villacoublay bei Versailles ein, wo auch Staatspräsident Emmanuel Macron persönlich zu ihrem Empfang anwesend war. Ihr Sohn Sébastian Pétronin durfte allerdings nicht dabei sein. Er hatte während der knapp vier Jahre ihrer Gefangenschaft, seine Mutter war am 24. Dezember 2016 im Raum Gao entführt worden, alle möglichen Hebel für ihre Freilassung in Bewegung gesetzt, war extrem aktiv gewesen, aus eigenem Antrieb wiederholt in die Region – Mali und Niger – gereist und hatte dort diverse Mittelsmänner getroffen. Die französische Staatsmacht schien sein Handeln oft als eigenmächtig zu betrachten und enthielt ihm, jedenfalls aus seiner Sicht, Informationen vor, allerdings finanzierte die offizielle Seite wiederholt Reise-, Visa- und Hotelkosten. Sébastien Pétronin beklagte sich wiederum in der Öffentlichkeit darüber, der im Mai 2017 gewählte Präsident Macron habe ihn während seiner gesamten Amtszeit nie empfangen.

Konflikte um einen Deal

Zahlreiche Konflikte spielten sich hinter den Kulissen rund um diesen Deal ab, Mediapart spricht ausführlich von „Interessengegensätzen zwischen Paris und Bemako“. Die Netzzeitung von Edwy Plenel schreibt, ursprünglich habe Cissé schon im Juli d.J. freikommen sollen; anderen Quellen zufolge wohl sogar im Frühjahr 2020, aber militärische Kämpfe zwischen den örtlichen Ablegern von Al-Qaida (d.h. dem GISM) und des „Islamischen Staates“ (IS) in Zentralmali zwangen die Geiselnehmer wohl zu Ortswechseln, die das Vorhaben zum Scheitern brachten. Zuvor hatte der IS seinen Widersachern Weichheit in Verhandlungen mit dem Staat vorgeworfen. - Tatsächlich führte der GISM Gespräche mit dem Staat durch und ließ es im Raum Mopti (Zentralmali) zu, dass staatliche Schulen wieder geöffnet wurden, was der IS-Ableger im Sahara-/Sahelraum ihm als Verrat auslegte und zum Vorwurf machte. Dutzende von Kombattanten kamen im Frühjahr 2020 bei Kämpfen zwischen beiden Organisationen ums Leben.

Dann jedoch, so wiederum Mediapart, seien innerhalb des Staatsapparats in Mali Widersprüche aufgetaucht – der Chef der mächtigen „Staatssicherheit“ (SE), in dessen auch für Anwälte unzugänglichem Geheimgefängnis die Mehrzahl der freizupressenden Häftlinge einsaßen, in Gestalt des Generals Moussa Diawara, war nicht an den Verhandlungen mit den Jihadisten beteiligt und torpediert diese -, aber auch mit Frankreich. Denn die Pariser Regierung habe darauf bestanden, dass der am 25. März d.J. entführte Cissé nicht vor der Französin Pétronin freigelassen werden dürfe. Le Point gibt diesbezüglich jedoch eine andere Version: Ihm zufolge hatten Iyad Ag Ghali und seine Leute nie etwas gegen die Freilassung der 75jährigen einzuwenden gehabt. Diese sei aufgrund ihres Alters respektiert worden, aber auch, weil sie zum Islam konvertiert war – übrigens nicht in der Gefangenschaft, wie viele französische Medien zunächst ungeprüft schrieben, weshalb etwa beim Fernsehsender BFM TV nächtelang über ihr „Stockholm-Syndrom“ (so drückte sich bspw. der Chefredakteur des Wochenmagazins L’Express, Christophe Barbier, wirtschaftsliberale Plaudertasche in vielen Talkshows, aus) diskutiert wurde; sondern deutlich zuvor, als sie über ihre Adoptivtochter familiäre Beziehungen in Gao knüpfte. Als Pétronin, von Ortswechseln in der Sahara erschöpft, ihren Geiselnehmern vorschlug, sie doch lieber zu erschießen, hätten diese ihr geantwortet: „Aber Maryam (ihr örtlicher Name), so etwas können wir doch nicht tun!“

Das Wochenmagazin Le Point geht deswegen davon aus, dass die Geiselnehmer selbst Pétronin durchaus ziehen lassen wollten. - Gegen die Konzessionen, die an ihre Geiselnahme für ihre Freilassung gemacht wurden, wurde im Übrigen in Frankreich selbst eine wachsende Rechtsopposition laut (die im Kern darauf hinauslauf: Hätte man sie mal in Gefangenschaft vermodern lassen…). Ihr vorausgegangenes humanitäres Engagement vor Ort in Mali und speziell in Gao, ihre Bekehrung zum Islam… Hinzu kam ihr geäußerter Wunsch, in naher Zukunft nach Mali zurückzukehren, sowie manche ihrer Äußerungen, die für die Kombattanten eher Verständnis zu zeigen scheinen (so lehnte sie die Verwendung des Begriffs „Jihadisten“ für ihre Entführer ab und zog ihm die Bezeichnung „bewaffnet gegen die Regierung kämpfende Opponenten“ vor). Wobei die Fußtruppen, mit denen sie durch die Wüste zog und mit denen sie zwangsläufig über Jahre hinaus die Lebensbedingungen teilten musste, ja durchaus aus von einfachen Verhältnissen geprägten armen Schluckern bestehen können, die allerdings durch weitaus zynischere und brutalere djihadistische Ideologen und Warlordsim Hintergrund ihrerseits „verheizt“ werden. Jedenfalls wuchs auf Facebookseiten und Blogs im Zuge ihrer Freilassung eine Welle von Hassäußerungen gegen Pétronin, die u.a. als Außerirdische im ET-Kostüm (und mit der Parole „Ich will nach Haus, nach Haus“, mit dem Finger in Richtung Mali gerichtet) abgebildet oder schlicht als alte Verrückte dargestellt wurde. Dabei mischten sich oft auch Verachtung gegen eine „Landesverräterin“, eine Portion Sexismus und Arroganz.

Konflikte zwischen Clans und Seilschaften behindern Verhandlungen… und treiben den Preis in die Höhe:

Das Wochenmagazin Le Point geht ebenfalls davon aus, dass Konflikte zwischen den zuvor durch die malische Regierung eingeschalteten Unterhändlern wie dem Tuareg Ahmada Ag Bibi und dem General Diawara zu den ernsthaften Verzögerungsgründen zählten. Beide Protagonisten hatten dabei Interessen im internationalen Drogenhandel, der auf der Route zwischen Südamerika und Europa über den Norden Malis läuft und Kontakte zu nomadischen Schmugglergruppen, über diese auch zu bewaffneten Gruppen beinhaltet.

Dabei scheint fest zu stehen, dass die mehrmonatige Verzögerung den Preis in die Höhe trieb: Ursprünglich hätten die Geiselnehmer „nur“ die Freilassung von, je nach Bericht, zwanzig oder dreißig Personen und zwei Millionen Euro gefordert. Am Schluss wurden es zehn mal so viel.

In Frankreich nutzte die rechtsextreme Oppositionspolitikerin Marine Le Pen aktiv die Gunst der Stunde, um sich gegen einen Deal zu echauffieren, dessen Preis in Gestalt der Freilassung von Jihadisten grundsätzlich zu hoch sei. Aus ziemlich anderen Motiven stellen Medien und Bürger/innen in Mali jedoch ziemlich genau dieselben Fragen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe. Es handelt sich um eine Langfassung eines Artikels, von welchem eine gekürzte Fassung in der Wochenzeitung ‚Jungle World‘ (Berlin) vom 15. Oktober 2020 erschienen ist.