Erkenntnistheoretische Grundbegriffe
§1 Was ist Erkenntnistheorie?

von Béla Fogarasi

11/2020

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Was verstehen wir unter Erkenntnis? Die Erkenntnis ist das Ergebnis der menschlichen Denktätigkeit, des Denkens; jedoch nicht jedes Denken kann Erkenntnis genannt werden. Erkenntnis nennen wir die Entwicklungsstufe, die Phase, die Form des Denkens, die in richtigen Begriffen, Urteilen und Schlüssen Ausdruck findet. Wrir unterscheiden in dieser Hinsicht zwischen „Kennen" und „Erkennen". Die Erkenntnis bietet nicht nur einzelne Kenntnisse, sondern ein Wissen, welches auch die mehr oder weniger vollständige Kenntnis des Zusammenhanges der Dinge in sich faßt. Die höchste Form der Erkenntnis ist die Wissenschaft, die, wie ihr sprachlicher Ursprung zeigt, eine Variation des Wissens ist (vgl. lat. scire - scientia).

Der allgemeine Sprachgebrauch unterscheidet nicht genau zwischen den Begriffen Kenntnis und Erkenntnis bzw. versteht unter Kenntnis oft die elementare Stufe des Wissens. (In der Oberschule lehrt man „gesellschaftliche Kenntnisse", auf der Universität Gesellschafts­wissenschaft.) Die Tatsache, daß gewisse Begriffe im gewöhnlichen Sprachgebrauch einen anderen Sinn haben als in der Philosophie^ kommt sehr häufig vor. Die daraus entstehenden Mißverständnisse können nur durch genaue Bestimmung des Sinnes, der Bedeutung dieser Begriffe in der Philosophie eliminiert werden. Im Folgenden werden wir den Ausdruck „Erkenntnis" als philosophischen Begriff gebrauchen. Wenn wir von Kenntnissen sprechen, so werden wir die Resultate der Erkenntnis, und zwar nicht nur ihre auf elementarer Stufe des Wissens mitteilbaren Resultate, darunter verstehen.

Was ist Erkenntnistheorie? Der Zweig der Philosophie, der sich mit dem Denken als Erkenntnis befaßt. Also nicht mit den Erschei­nungen und Prozessen der objektiven Außenwelt und deren Gesetz­mäßigkeiten, wie z. B. die Physik, die Chemie, die Biologie, bzw. auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaft die Ökonomie, die Ge­schichte usw. Die Erkenntnistheorie prüft die Bedingungen der Er­kenntnis, stellt den Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit, zwischen Wahrheit und Irrtum fest, erschließt das Verhältnis des Denkens zur Wirklichkeit, befaßt sich mit der Frage, worin dieses Verhältnis des Denkens zur objektiven Welt besteht. Gibt das mensch­liche Denken ein vollkommen treues Bild oder ein teilweise treues Bild oder überhaupt kein treues Bild von der Wirklichkeit? Ver­mögen wir die Wirklichkeit zu erkennen, d. h. in bezug auf die Wirk­lichkeit richtige, wahre Urteile zu fällen? Diese Fragen wirft die Erkenntnistheorie auf, darauf muß sie Antwort geben.

Wie und wann entstehen solche Fragen? Im alltäglichen Leben sehen wir, daß das gewöhnliche Denken, der „common sense", sich nicht mit erkenntnistheoretischen Fragen befaßt, ebensowenig tut das der wissenschaftliche Fachmann in seiner Tagesarbeit. Die Menschen sind im Allgemeinen davon überzeugt, daß das, was sie für Wirklich­keit halten, auch tatsächlich Wirklichkeit ist. Sie meinen, daß die Erkenntnis die Welt so wiedergibt, wie sie ist. Der wissenschaftliche Fachmann verhält sich zu dieser Frage ebenso wie der einfache Mann im sogenannten alltäglichen Denken. Indessen gerät unter gewissen Umständen der denkende Mensch in Ungewißheit, nicht nur, ob er in diesem oder jenem Fall die Wahrheit erkannte oder geirrt habe, sondern auch, ob wir überhaupt imstande sind, die Wahr­heit zu erkennen. Eine solche Ungewißheit kann sich aber nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Philosophie ergeben. In Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen und Krisen wird die naive, selbstsichere Überzeugung von der Gewißheit der Erkenntnis er­schüttert. Das schafft den Boden für die erkenntnistheoretische Fragestellung.

In den Anfängen der Philosophie wird das Erkenntnisproblem noch nicht aufgeworfen. Und so ist die Erkenntnis für die ersten griechischen Naturphilosophen noch kein Problem. Sie sind zwar philosophische Materialisten, aber ihre Auffassung stützt sich noch nicht auf eine bewußt materialistische Erkenntnistheorie. In einer weiteren Phase der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung, mit dem Anwachsen der Krise der auf Sklaverei beruhenden Gesell­schaftsordnung, geht die griechische Philosophie zur Prüfung der Be­dingungen des Wissens über. Die Sophisten, Sokrates, Platon und Aristoteles behandelten eingehend die Fragen der Erkenntnis.

Das Problem der Erkenntnis beschäftigte Jahrtausende hindurch die Philosophen und in vielen Fällen auch die Wissenschaftler. Die Beschäftigung mit den Fra gen der Erkenntnis bedeutet aber noch keine Erkenntnistheorie. Die Philosophen befaßten sich im Allgemeinen im Rahmen ihrer ganzen Philosophie mit den Fragen der Erkenntnis, machten diese aber nicht zum Gegenstand einer besonderen Unter­suchung.

Die Geschichte der Philosophie ist wesentlich die Geschichte des Kampfes zwischen Materialismus und Idealismus. In diesem Kampfe schieden sich die Philosophen je nach dem Standpunkt, den sie in der Frage des Primats der Materie bzw. des Geistes einnahmen. Der Kampf zwischen Idealismus und Materialismus hat aber auch eine erkenntnistheoretische Seite, und diese Seite ist es, die in der neuzeitlichen Philosophie allmählich in den Vordergrund rückt. Schließlich „verselbständigt sich" die Erkenntnistheorie und isoliert sich von den großen inhaltlichen Fragen der Philosophie. Zur ge­sonderten Prüfung der Erkenntnis in diesem Sinne machte Kant den ersten Versuch. Mit Kant beginnt die Richtung, die die Philosophie wesentlich als Erkenntnistheorie auffaßt und die nicht die Meta­physik, sondern die ihr angeblich gegenüberstehende Erkenntnis­theorie für die Grundwissenschaft der Philosophie hält.

Nach Kant müssen wir erst die Erkenntnis prüfen, sie zum Gegen­stand einer Kritik machen, bevor wir beginnen, metaphysische Systeme bzw. philosophische Systeme überhaupt aufzubauen. In diesem Sinne nannte Kant seine Philosophie Kritizismus. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde in der bürgerlichen Philosophie die Prüfung der Erkenntnis Selbstzweck. Die Erkenntnistheorie ist nicht mehr eine Art Voruntersuchung, der dann gleichsam die syste­matische Darstellung der Philosophie folgt, sondern ersetzt die alten philosophischen Systeme. In der bürgerlichen Philosophie wurde somit die Erkenntnistheorie ein Ersatz für die alte Metaphysik. Die Philosophie geriet in eine Krise, die Metaphysik machte Bankrott, und es wurde die Aufgabe der Erkenntnistheorie, aus dieser Krise einen Ausweg zu finden. Im letzten Drittel des 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts begegnen wir einer Fülle von erkenntnistheore­tischen Richtungen.

Die Mannigfaltigkeit dieser Richtungen aber verdeckt nur die grund­legende Tatsache, daß alle diese Richtungen auf zwei Grundformen zu­rückgehen. Auch auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie wird jener Kampf geführt, der die grundlegende Gesetzmäßigkeit der Geschichte der Philosophie darstellt: der Kampf zwischen Idealismus und Materia­lismus. Es ist nicht nötig, den zwischen den idealistischen Erkenntnis­theorien bestehenden Schattierungen eine besondere Bedeutungzu ver­leihen. Es genügt zu erwähnen, daß in der bürgerlichen Philosophie zwei idealistische Erkenntnistheorien großen Einfluß ausübten. Die eine ist der Neukantianismus mit seinen verschiedenen Variationen, die andere der sogenannte „physikalische" Idealismus der Gegenwart, der im Zusammenhang mit der naturwissenschaftlichenKrise am Ende des Jahrhunderts erstarkte. (Mach und Avenarius, Poincare - in unseren Tagen: Jeans, Eddington, Bohr, Heisenberg und andere.)

Für den dialektischen Materialismus ist die Erkenntnistheorie nicht Selbstzweck. Um aber in den Grundfragen der Philosophie einen konsequenten Standpunkt einnehmen zu können, ist es un­bedingt erforderlich, einen konsequenten Standpunkt in der Frage zu besitzen, ob die Erkenntnis die Wirklichkeit treu wiederzugeben vermag, ob es überhaupt eine objektive Wahrheit gibt und ob die Er­kenntnis auf dem zur Wahrheit führenden Wege vorwärtsschreitet oder nicht. Das alltägliche Denken gibt keinen sicheren Kompaß für die Entscheidung dieser Fragen; auch die Einzelwissenschaften geben ihn nicht, weder die Physik oder Biologie und Chemie, noch die Sprach-und Geschichtswissenschaft. Diese Wissenschaften werfen die Frage nicht in ihrer Allgemeinheit auf. Ihre Vertreter wenden nur im Falle besonderer Schwierigkeiten erkenntnistheoretische Gesichtspunkte an. Somit ist es erforderlich, auf der Grundlage des dialektischen Materia­lismus, von allgemeinen Gesichtspunkten ausgehend, die erkenntnis­theoretischen Fragen zu behandeln. Ohne konsequenten erkenntnis-theoretischen Standpunkt vermögen wir nicht, unser Vertrauen auf die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis zu begründen; ohne dieses Vertrauen aber können wir nicht auf Grund wissenschaftlicher Voraussicht handeln und an der Förderung des menschlichen Fort­schrittes mitwirken.

In welchem Zusammenhange befassen sich die Anhänger des dialektischen Materialismus mit der Erkenntnistheorie? Sie be­trachten die Erkenntnistheorie nicht als isoliertes, in sich abge­schlossenes philosophisches Wissenschaftsgebiet, das außerhalb der einheitlichen Methode und einheitlichen Theorie des dialektischen Materialismus stände. Sie wenden die Theorie des Materialismus und die Methode der Dialektik auf die Fragen der Erkenntnis an. Die Erkenntnistheorie ist demnach ein Teil, ein Bestandteil der einheit­lichen Lehre des dialektischen Materialismus. Dialektik, Logik, Er­kenntnistheorie sind eines und dasselbe, sagt Lenin: „Die Dialektik ist eben die Erkenntnistheorie (Hegels und) des Marxismus: gerade diese ,Seite' der Sache (es ist nicht eine ,Seite', sondern das Wesen der Sache) ließ Plechanow unbeachtet, von anderen Marxisten ganz zu schweigen.(1)

Daraus folgt aber nicht, daß es nicht möglich, ja berechtigt wäre, die Fragen der Erkenntnistheorie in besonderen Vorträgen, Kollegs, Abhandlungen, Büchern zu behandeln. Dafür sprechen pädagogische Gründe, sowie auch der historische Umstand, daß in unserer Zeit die Fragen der Erkenntnistheorie im Kampfe zwischen Idealismus und Materialismus im Vordergrunde stehen. Deshalb hielt es auch Lenin für angebracht, ein besonderes erkenntnistheoretisches Werk zu schreiben. Dieses Werk veranlaßt uns heute, die Fragen der Erkennt­nistheorie in systematischer Reihenfolge zu behandeln und aus der Totalität der Lehre des dialektischen Materialismus herauszuheben.

Die Klassiker des Marxismus haben nun die Fragen der Erkenntnis­theorie im Allgemeinen in streitbarer, polemischer Form, in der Auseinandersetzung mit falschen Theorien, dargelegt. Indem sie idealistische Ansichten kritisierten, verteidigten sie den Standpunkt des Materialismus. (Engels: Anti-Dühring; Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus.) Unter pädagogischem Gesichtspunkt ist es jedoch zweckmäßig, erst den Standpunkt des dialektischen Mate­rialismus, d. h. den richtigen Standpunkt darzulegen und danach zur Kritik der idealistischen Theorien überzugehen.

Die Anhänger des Marxismus prüfen die Erkenntnistheorie unter dem Gesichtspunkt der Einheit von Theorie und Praxis. Ohne richtige Theorie gibt es keine richtige Praxis, aber ohne Berücksichtigung der Praxis gelangen wir auch nicht zur richtigen Theorie. Darum müssen wir die Fragen der Erkenntnistheorie ständig im Zusammenhang mit der Praxis prüfen, d. h. auch unter dem Gesichtspunkt, was ein be­stimmter erkenntnistheoretischer Satz für das Handeln, die Praxis bedeutet. In dieser Hinsicht ist der Leninsche Satz gültig, daß im Kampf zwischen Materialismus und Idealismus der Kampf der Parteien zum Ausdruck gelangt, daß die Erkenntnistheorie „partei­lich" ist (2), daß der Kampf der Parteien innerhalb der Philosophie „in letzter Instanz die Tendenzen und die Ideologie der feindlichen Klassen der modernen Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Die neueste Philosophie ist genauso parteilich wie die vor zweitausend Jahren.(3)

Bevor wir zu den einzelnen Problemen der Erkenntnistheorie über­gehen, müssen wir die Frage aufwerfen, ob die Erkenntnistheorie ihren Gegenstand zu erkennen, ihre Aufgabe zu verwirklichen im­stande ist. Es gibt nämlich Philosophen, die folgende Argumente anführen: Die Erkenntnistheorie prüft die Erkenntnis durch die Erkenntnis, diese Wissenschaft gleicht daher der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Die Erkenntnistheorie spielt nach der Meinung dieser Philosophen die Rolle des Barons Münchhausen, der, in einen Sumpf geraten, sich am eigenen Schöpfe fassen und heraus­ziehen wollte. Die Erkenntnistheorie begeht danach den Fehler der petitio principii (der Voraussetzung des zu Beweisenden). Die Erkennt­nistheorie kann ihre Aufgabe nicht lösen, denn sie setzt voraus, daß die Erkenntnis ihren Gegenstand zu erkennen imstande sei, während doch gerade dies zu beweisen ist. Mit dieser Begründung leugnet Hegel die Notwendigkeit und Möglichkeit der Erkenntnistheorie.

Auf das sogenannte erkenntnistheoretische Paradoxon antworten wir: Die richtige Erkenntnistheorie prüft das Erkennen nicht abstrakt „an sich", sondern sie prüft die allmähliche Entwicklung des mensch­lichen Wissens in seiner historischen Verwirklichung. Die Erkenntnis ist nicht unwandelbar, sie kann daher nicht in abstrakter, unwandel­barer Form geprüft werden. Nach Lenin ist es die Aufgabe der Logik und der Erkenntnistheorie, festzustellen, wie aus dem Nichtwissen Wissen, aus der Nicht-Erkenntnis Erkenntnis wird. Die Erkenntnis­theorie ist das Bewußtmachen der Entwicklung der Erkenntnis, ihre Analyse und Kontrolle durch die Praxis. Dies entspricht der tatsäch­lichen Entwicklungslinie .der Wissenschaft.

Fußnoten

1) Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Dietz Verlag 1949, Seite 288.
2
) Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Dietz Verlag 1949, Seite 333.

3) Ebenda, Seite 349.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Béla Fogarasi, Dialektische Logik mit einer Darstellung erkenntnistheoretischer Grundbegriffe, Berlin 1953, S.360 - 366

Aus der Vorgeschichte des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt (Main):

"Zu Pfingsten 1923 versammelten sich im Geraberg/Thüringen knapp zwei Dutzend vorwiegend junge sozialistische Intellektuelle (fast alles KPD-Mitglieder), um in einer »Marxistischen Arbeitswoche« über Theorie und Praxis zu diskutieren. Neben den Initiatoren Felix Weil und Karl Korsch (mit ihren Frauen Käthe und Hedda) waren u. a. Georg Lukács Friedrich Pollock, Konstantin Zetkin, Richard und Christiane Sorge, Karl August und Rose Wittfogel, Béla Fogarasi und seine spätere Frau Margarete Lissauer sowie Kuzuo Fukumoto aus Japan anwesend."