Schaden in der Oberleitung

Buchvorstellung von Richard Albrecht

11/2019

trend
onlinezeitung

"Das Desaster der Deutschen Bahn ist kein Versehen. Es gibt Täter. Sie sitzen in Berlin. In der Bundesregierung, im Bundestag. Und seit Jahren im Tower der Deutschen Bahn. Kritik an der Deutschen Bahn bleibt oft stehen bei lustigen Englischfehlern, falschen Wagenreihungen oder ausfallenden Klimaanlagen. Doch die Malaise liegt im System: Seit der Bahnreform im Jahr 1994, nach der die Bahn an die Börse sollte, handeln die Bahn-Verantwortlichen, als wollten sie die Menschen zum Autofahrer erziehen. Arno Luik, einer der profiliertesten Bahn-Kritiker, öffnet uns mit seinem Buch die Augen. Konkret geht es um Lobbyismus, Stuttgart 21, um Hochgeschwindigkeitszüge, um falsche Weichenstellungen, kurz: um einen Staatskonzern, der außer Kontrolle geraten ist. 10 Milliarden jährlich pumpen wir Steuerzahler in die Deutsche Bahn – dafür ist sie dann in 140 Ländern der Welt im Big Business tätig. Aber hierzulande ist die Bahn eine echte Zumutung: Die Züge fahren immer unpünktlicher, oft fahren sie gar nicht und manchmal sind sie ein Risiko für unser Leben."

Soweit der treffende Verlagshinweis zu einem wichtigen kritischen Sachbuch zur Katastrophe des gesellschaftlichen Phänomens und sozialen Destruktionsereignisses Deutsche Bahn (das mich als jahrzehntelang aktiven Bahnfahrer auch nicht erst seit gestern mittag interessiert[1]). Autor des verständlich geschriebenen 290-Seitenbuchs ist der professionell arbeitende Reporter und Journalist Arno Luik (*1954). Der sich auch von Anfang an gegen das milliardenschwere DB-Megaprojekt STUTTGART 21 und für den Erhalt des alten Stuttgarter Sack- oder Kopfbahnhofs öffentlich engagierte.

Gegenwärtig ist der Zustand der Deutschen Bahn in der Tat für ihre vielen Millionen Benützer eine mehrfache Verhaltenszumutung: egal ob sie pünktlich fährt oder nicht oder ob sie überhaupt fährt ... genauer: seit 1994, also nunmehr 25 Jahre seit der großen Bahnreform mit dem weiland geplanten DB-Börsengang, handeln Bahnverantwortliche aller Kulturformate, Preisklassen und Politfarben als wollten sie aus Bahnnutzern Autofahrer machen, grad so als veranstaltete die Deutsche Bahn die wirkungsvollste Reklame für die automobilistische Verkehrsgesellschaft.

Seine Kritik der DB und der politischen Generallinie ihrer Konzernherren faßte Autor Luik plastisch so zusammen: "Ich traf einen Verkehrsplaner (gemeint Karlheinz Rösler[2]), der seit vielen Jahren mit der Bahn zu tun hat, seine Erfahrung mit der Bahn fasst er so zusammen: ´Die Bahn ist bloß noch eine Scheinverkehrsfirma. Sie ist zu einem Betrugskonzern mutiert, der sich der Betonindustrie unterworfen hat. Die Bahn ist eine regierungskriminelle Vereinigung zur Veruntreuung von Steuergeldern´."

Über seine detaillierte und ausgiebig belegte Kritik am Istzustand der DB (als "regierungskriminelle Vereinigung zur Veruntreuung von Steuergeldern") in siebzehn Kapiteln hinaus skizziert der Autor im Ausblick ("Ist diese Bahn noch zu retten? Und wenn ja: wie?") einige Kernpunkte zum grundlegenden "Umsteuern" als "Zeit für eine zweite Bahnreform" auch als rationale Verkehrswende. Seine Kernvorschläge faßte Luik in einem Interview m.E. realistisch zusammen:

"Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Bahn wieder halbwegs richtig funktionieren kann. Zuviel ist zerstört worden. Um den schweizer Standard zu erreichen, müsste das Streckennetz hierzulande um 25 000 Kilometer erweitert werden. Es sieht nicht so aus, dass sich Bahn oder Regierung dafür einsetzen. Stattdessen propagiert Bahnmanager Ronald Pofalla, auch so ein Bahn-Azubi, Dinge, die überaus fragwürdig sind: etwas das Signalsystem ETCS, das die herkömmlichen Leitsysteme ersetzen soll. Die Kosten dafür, so eine McKinsey-Studie: 21 Milliarden Euro. Ein, wenn man so will, riesiges Subventionsprogramm für die Industrie. Ich bezweifle daher, dass eine wirklich gut funktionierende Bahn tatsächlich von den Regierenden ernsthaft gewollt wird. Und ich bezweifle auch, dass es strukturell überhaupt noch möglich ist: zu viel, wie gesagt, ist zerstört worden, zu viel wertvolles Bahngelände ist verkauft worden. Das ist einfach weg – für immer. Dort, wo mal Rangierbahnhöfe waren, Ausweich- und Überholgleise, stehen heute Supermärkte, Logistikzentren, Wohn- und Bürohochhäuer. Wie herkulisch die Aufgabe wäre, eine ökologische Bahn wieder aufzubauen, zeigen ganz simpel die Zahlen: Gab es 1994 noch über 11 000 Gleisanschlüsse für Industriebetriebe, sind es jetzt bloß noch 2357, Tendenz weiter sinkend. Gab es 1994 noch 131 968 Weichen und Kreuzungen, sind es heute bloß noch 70 031 Stück. Allein in seinem ersten Amtsjahr, 2017, ließ Bahnchef Lutz 344 Weichen ausbauen, 242 Bahnhöfe schließen, 205 Haltepunkte wegfallen. Und während ich das Buch schrieb, hat die Autobahn GmbH, ein staatliches Unternehmen, den opulenten Ausbau von Autobahnen angekündigt. Im Frühsommer hat die Lufthansa den Flugverkehr von Nürnberg nach München aufgenommen. Sie lernen es einfach nicht. Dass sie einfach nichts lernen, dafür steht beispielhaft der Bundesverkehrsminister [Andreas Scheuer, CSU], der sich dem von der Politik mitproduzierten Chaos und Elend am Boden in die Luft entziehen will. Der, ohne sich zu schämen, Flugtaxis als Mobilitätskonzept für die Zukunft anpreist. Solange solche Luftikusse das Sagen haben, bleibt es bei diesem hässlichen Wort „Betriebsstörung“. Bleibt es beim „Schaden in der Oberleitung“[4] .

Diese kurze Buchvorstellung von Arno Luiks SCHADEN IN DER OBERLEITUNG möchte ich nicht schließen ohne auf ein eindringliches poetisches Lied hinzuweisen: die historische Eisenbahnballade des Künstlers Reinhard Mey[5]. Dort heißt es erinnernd unter anderem:

"Manch neue Industrie und manch Imperium entstand,
Manch unschätzbarer Reichtum, doch an jedem Meter Gleis,
Jeder Brücke, jedem Tunnel klebten Tränen, Blut und Schweiß.
Die Eisenbahn trug Fortschritt, technische Revolution
In jedem Winkel, bis in die entlegenste Station.
Trug Güter von den Seehäfen bis an den Alpenrand,
Verband Menschen und Städte und trug Wohlstand in das Land.
Doch der großen Erfindung haftet stets die Tragik an,
Daß sie dem Frieden, aber auch dem Kriege dienen kann."

[1] http://www.trend.infopartisan.net/trd0918/richard-albrecht-db-wallstreet-bestimmtes-geschc3a4ftsmodell-2013.pdf ; Überprüfung aller Links mit Manuskriptabschluß am 300919

[2] Rede von Karlheinz Rößler, Verkehrsberater aus München, Montagsdemonstration Stuttgart am 6.5.2019: https://www.bei-abriss-aufstand.de/tag/karlheinz-roessler/

[3] Rede von Arno Luik, Montagsdemonstration Stuttgart am 2.9.2019: https://www.bei-abriss-aufstand.de/2019/09/04/schaden-in-der-oberleitung-das-geplante-desaster-der-deutschen-bahn-ag/

[4] https://www.nachdenkseiten.de/?p=55028

[5] https://www.youtube.com/watch?v=W33vMqBqZdo;

Text https://www.musixmatch.com/de/songtext/Reinhard-Mey/Die-Eisenbahnballade

Inhalt

Der kleine Bahnhof 7 1 Das Symbol für den Niedergang: Stuttgart 21 13 2 Mehdorns Weltmachtphantasien 98 3 Die Kunst der Selbstbereicherung 118 4 Die Botschaft von Eschede 124 5 Ohren zu im Weltkulturerbe 146 6 Der wichtigste Strippenzieher 169 7 Die Pofalla-Wende 172 8 Von wegen Güter auf die Schiene 198 9 Der Mythos vom Öko-Champion 209 10 Das Teuerste muss es sein 229 11 Protz in Metropolen, Bahnhofs-Ruinen auf dem Land 249 12 Unfähige Verkehrsminister 256 13 Die Einflussagenten 264 14 Endlich ein Eisenbahner 268 15 Neue Mitspieler und die Folgen 275 16 Verkehrswende? Nicht mit diesen Leuten 281 Ausblick: Ist diese Bahn noch zu retten? Und wenn ja: wie? 291

 

Arno Luik
SCHADEN IN DER OBERLEITUNG.
Das geplante Desaster der Deutschen Bahn.

Frankfurt/Main: Westend Verlag, 2019, 295 p., ISBN 978-3-86489-267-1, 20 €uro (D).


Editorischer Hinweis

Den Beitrag erhielten wir vom Autort für diese Ausgabe