Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich
Soziales & Ökologie
Gewerkschaftliche und andere Positionen zum schweren Industrieunfall im Seveso-Werk in Rouen

11/2019

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Zu-keinem-Zeitpunkt-bestand-irgendeine-Gefahr-für-die-Bevölkerung. Natürlich nicht, wie denn auch, wer käme denn auf solche Gedanken… Nun: Wem solcherlei Ankündigungen von irgendwoher vertraut erscheinen, etwa aus den Tagen des Reaktorunglücks von Tschernobyl 1986 oder der Beinahe-Katastrophe im – erst jüngst definitiv abgeschalteten – US-amerikanischen Atomkraftwerk Three Miles Island 1979, der oder die könnte in den letzten knapp zwei Wochen in Frankreich ein Déjà vu-Erlebnis gehabt haben.

Allerdings ging es in den vergangenen zwei bis drei Wochen in Frankreich nicht um einen Atomunfall, sondern um eine Havarie in der Chemieindustrie, die ebenfalls nicht wirklich unerhebliche Auswirkungen zeigte. Dabei trat mutmaßlich auch hochgiftiges Dioxin aus. Eine 22 Kilometer lange Rauche- und Rußwolke zog ab dem vorletzten Donnerstag über mehrere Hundert Kilometer durch Nord- und Nordostfrankreich bis auf belgisches Territorium. „Man kann (in der betroffenen Zone) atmen und trinken“, verkündete der französische Premierminister Edouard Philippe dazu, ungemein beruhigend.

Die Parallele zur jüngeren Geschichte lässt sich noch weitertreiben. Bekanntlich hielt der Rhein im Frühjahr 1986 die radioaktiv belastete Wolke von Tschernobyl auf, die Niederschläge kamen nur bis Kehl, aber nicht bis Strasbourg. Jedenfalls in der offiziellen Propaganda von Regierung und Behörden. Im März 2011 fand deswegen ein Gerichtsprozess statt, den an Schilddrüsenkrebs Erkrankte gegen den damaligen „Strahlenschutzexperten“ der französischen Regierung – den Professor Pierre Pellerin – angestrengt hatten. Zufällig zwanzig Tage nach dem Atomunfall im japanischen Fukushima, am 31. März 11, wurde Pellerin damals allerdings freigesprochen: Er habe nicht bewusst gelogen. Unterdessen ist die Geschichte von der Tschernobylwolke, die am Rhein auf ihre Maginot-Linie traf, in der öffentlichen Debatte längst zum Treppenwitz der Geschichte geworden. Vorige Woche wurde an ihn vielerorts erinnert: Vom Karikaturisten der Pariser Abendzeitung Le Monde bis zu einer Artikelüberschrift in der Boulevardzeitung Le Parisien wurden „die Wolken von Tschernobyl und von Rouen“ in einem Atemzug erwähnt.

Vorsätzlich log vielleicht (vielleicht!) auch Premierminister Philippe nicht; eventuell glaubte er auch einfach nur den arbeit„geber“nahen Experten (vgl. dazu: http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article50653 ) sowie den Eigentümern der Schmiermittel- und Schmierölfabrik Lubrizol, einer Filiale des gleichnamigen US-amerikanischen Chemiekonzerns. Diese war seit 1954 am westlichen Seineufer, nahe am Stadtzentrum von Rouen angesiedelt und brannte in der Nacht vom 25. zum 26. September d.J. nieder.

Tatsächlich fiel man vom Einatmen nicht sofort tot um, auch wenn fünf bis sechs Tage nach dem verheerenden Brand in der Schmiermittel- und Schmierölfabrik Lubrizol –– noch immer ein Übelkeit erregender Geruch über der normannischen Großstadt lag. Und auch wenn 200 Menschen mit Atemproblemen und extremen Übelkeitssymptomen in die Notaufnahme von Krankenhäusern eingeliefert wurden. Vom Essen hatte der Regierungschef allerdings vorsorglich nicht gesprochen. Warum 1.800 Landwirten im engsten Einzugsbereich der Wolke jeglicher Verkauf von Nahrungsmitteln oder Milch von ihren Höfen strikt verboten bleibt, erklärte er nicht. Ebenso wenig wie der juristische Vertreter der Zentralregierung vor Ort, der amtierende Präfekt Pierre-André Durand. Jener schwang sich zwei Tage nach dem Abbrennen von gut 5.000 Tonnen bei Lubrizol lagernden chemischen Gefahrstoffen, zuzüglich weiteren 4.000 Tonnen aus einer Nachbarfabrik (vgl. https://www.paris-normandie.fr/), zu der Behauptung auf, die „Luftqualität“ sei „normal“. (Sic)

Dieselbe Präfektur hatte es übrigens zu Anfang des Jahres 2019 unterlassen, eine Umweltverträglichkeitsprüfung anzuordnen, als Lubrizol ankündigte, die Lagerkapazitäten für chemische Risikostoffe auf dem Firmengelände zu erhöhen. (Vgl. dazu ausführlich https://www.actu-environnement.com und https://reporterre.net/) Seit Juni 2019 hat die Regierung übrigens die Auflagen für solche Gefahrenprüfungen gelockert (vgl. auch den ersten der beiden zitierten Artikel)… und hält an just dieser Position auch nach dem Lubrizol-Unfall fest: https://www.bastamag.net/

Landwirtschaftsminister Didier Guillaume seinerseits beeilte sich zu versichern, das Verkaufsverbot erfolge ausschließlich „aus dem Vorsorgeprinzip“ heraus; ein Risiko bestehe also allenfalls theoretisch, doch man sei ja nie vorsichtig genug. Die betroffenen Landwirte sind nicht die einzigen Geschädigten, die nun auf eventuelle Versicherungsleistungen warten. Restaurants in Rouen beklagten etwa Ende voriger Woche einen Rückgang ihrer Gäste um 30 bis zu über 75 Prozent; Ähnliches gilt für örtliche Hotels. (Unterdessen drohen die ausgetretenen Gefahrstoffe übrigens auch den Grundwasserspiegel zu erreichen, und dann „herzlichen Glückwunsch“… Vgl. https://www.paris-normandie.fr/ )

Unter erheblichem Druck einer zunehmend kritischen bis ungehaltenen Öffentlichkeit stehend – die, jedenfalls außerhalb von Rouen, glücklicherweise dadurch abgelenkt wurde, dass drei Tage lang alle Fernsehkanäle quasi vollständig von Nachrichten und Sondersendungen zum Ableben von Altpräsident Jacques Chirac am selben Datum (26.09.19) ausgefüllt waren -, ordnete Philippe an, dass die Liste der bei Lubrizol gelagerten chemischen Substanzen veröffentlicht werden müsse. Seit den letzten Attentaten in Frankreich bleiben solche Auflistungen ansonsten geheim gehalten. Die fragliche Liste erschien dann auch am 1. Oktober auf der Webseite der Präfektur, in mehreren Schritten. Das erste dort publizierte Dokument war allerdings wertlos, da es nur Angaben zur industriellen Verwendung der aufgeführten Stoffe enthielt – „62,88 % Zusatzstoffe mit mehrfacher Verwendbarkeit“ -, nicht zu den spezifischen Risiken. Weitere Dokumente enthielten dann nähere Angaben; ein halbes Dutzend Stoffe waren demnach mit dem Kürzel „H304“ eingestuft. Dieses bedeutet: „bei Einatmen tödlich“. Doch Experten sahen weitere Probleme mit der Verwendbarkeit der Liste: Produkte seien unter ihrem Code-, jedoch nicht ihrem Handelsnamen aufgelistet und nicht immer eindeutig identifizierbar. Gefahrenanalysen waren aufgeführt, jedoch mitunter nur auf einige Fragestellungen ausgerichtet, während etwa Fragen nach Wechselwirkungen mit anderen Stoffen bei ihrer Niederschrift nicht gestellt worden waren.

Am fünften Tag nach dem Unglück demonstrierten, am Dienstag, den 1. Oktober 19, erstmals rund 2.000 Menschen in Rouen (späterhin fanden weitere Proteste statt). Mehrere hundert Menschen versuchten kurz darauf, sich auch gegen den Willen der Behörden Zugang zu einem Krisenstabtreffen in Anwesenheit des Präfekten zu verschaffen und störten dieses dadurch erheblich.

Am bemerkenswertesten ist vielleicht die Rolle der Gewerkschaften, von denen mehrere – die Orts- und Kreisverbände des relativ linken, mitgliederstärksten Gewerkschaftsverbands in Frankreich, der CGT, und von Solidaires, Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften (SUD) – die Demonstration vom 30. September neben NGOs mitorganisiert hatten. Noch vor dreißig Jahren hätte die CGT sich zweifellos derart positioniert, dass sie den Erhalt der Industriearbeitsplätze, auch bei Lubrizol, als vorrangig behandelt und Umweltbedenken demgegenüber mindestens untergeordnet hätte. In den letzten 14 Tagen war die CGT im Gegenteil federführend bei der Kritik an den Umweltfolgen des Brandes und organisierte Demonstrationen mit, auf denen zumindest von vielen Anwesenden die Schließung von Lubrizol am Standort Rouen gefordert wurde. Die örtliche CGT handelt unter dem Druck einer oppositionellen Öffentlichkeit. Aber auch ihrer eigenen Mitglieder, die nicht im Chemiebetrieb arbeiten, sondern etwa in Kindergärten – wo Beschäftigten aus dem Lubrizol-Brand stammende Rußklumpen in den Innenhöfen aufschrubbten – oder unter den Feuerwehrleuten, von denen mehrere nach dem Einsatz gegen das Großfeuer stationär behandelt wurden.

Innerhalb des örtlichen Chemiewerks ist die CGT nicht stark vertreten. Dort ist hauptsächlich die – rechtssozialdemokratisch geführte – CFDT verankert; an zweiter und dritter Stelle folgen die christliche Gewerkschaft CFTC sowie die Spartengewerkschaft der höheren Angestellten, die CFE-CGC. Diese, nicht sonderlich progressiven Verbände blieben in den ersten Tagen nach dem Brand „erstaunlich diskret“, wie die regionale Webzeitung Paris Normandie am 02. Oktober 19 formulierte. Konkret blieben sie zu dem Zeitpunkt nicht nur diskret, sondern stumm, was die Umweltfolgen und die Fragen der Bevölkerung betrifft. Inzwischen hat sich auch dies geändert: Unter dem Druck der Öffentlichkeit positionierten sich auch CFDT, CFTC und CFE-CGC in einer Pressemitteilung, die am Samstag, den 05. Oktober 19 publiziert wurde. Darin erklärten sie, die „Gesundheits- und Umweltsorgen der Bevölkerung“ zu teilen, man habe sich allerdings bisher darauf konzentriert, „besorgte Mitarbeiter zu begleiten“, und deswegen nicht öffentlich Stellung genommen. Doch sei man ja selbst „nicht nur Beschäftigte, sondern auch Anwohner“. Man fordere Aufklärung durch die Justiz, aber auch durch eine unabhängige Expertenkommission.
Die Eigentümer von Lubrizol beharren bislang darauf, das Feuer habe eine externe Ursache, die bislang nicht aufgeklärt sei.

Editorische Hinweis: wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe. Er ist eine überarbeitete Langfassung eines Artikels, dessen gekürzte Version am 09. Oktober 19 in der Wochenzeitung ‚Jungle World‘ (Berlin) erschienen ist.