Die Krise der Sozialdemokratie
Zur unmöglichen Rettung eines unvermeidlichen Übels

von Vince O’Brien

11/2018

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Die Leute sehen, wie die Chancen schwinden, daß man selber zu den happy few gehört. Sie ahnen, daß es nicht mehr darum geht, wer verelenden müsse, sondern daß die Alternative alle oder keiner heißt. Sie spüren, daß ihre eigene Sicherheit auf den Prinzipien beruht, deren Aufhebung sie fordern. Deshalb erwarten sie keine Nachgiebigkeit. Zur Entscheidung steht, ob die Verhältnisse den Menschen angepaßt werden müssen, oder ob den bestehenden Verhältnisse die Menschen anzupassen sind, was ihre Verelendung, Vertreibung, Ausweisung bedeutet. Existierte eine Linke, müßte ihre Forderung heißen: Offene Grenzen.
Das würde auf keinen Fall gemütlich. Die Ankommenden werden keine übertrieben netten Menschen sein. Sie bringen nicht Kultur mir, sondern Haß und Hunger. Sie werden diese Gesellschaft vor die Alternative stellen, ob sie sich ändern oder zusammenbrechen will. Aber vor dieser Alternative steht sie sowieso. Nur daß nichts bleibt, wie es ist, ist sicher. Vor der Zukunft haben alle Angst. Sie wird durch Abschiebungen verstärkt, durch das Elend hinter dem Zaun, nicht durch offene Grenzen. Sie wird gemildert durch die Sicherheit: Was auch kommen mag – niemand wird rausgeschmissen, keiner muß im Elend verrecken, wer er auch sei. Nicht die Anwesenheit der rumänischen Zigeuner, sondern ihre Behandlung macht den Einheimischen Angst, weil sie jeden lehrt, wie es ihm selber ergehen könnte, wenn er nur noch ein bißchen tiefer rutscht. Die Leute würden einem dankbar sein, wenn man sie mit aller Macht zu einer anständigen Behandlung der Zigeuner zwänge. Das gäbe ihnen die Sicherheit, die sie derzeit am meisten entbehren.
Was angesichts der Stimmungslage der Mehrheiten und der Machtverhältnisse wie Utopie klingen mag, ist in Wahrheit Realismus. Umgekehrt ist es die reine Träumerei, was Realpolitiker für kluge Berechnung halten. Sie ignorieren die Bedeutung der Moral. Der amoralische Asylkompromiß beispielsweise hat vermutlich nicht nur Engholm das Genick gebrochen, sondern der ganzen SPD:
Wäre sie bei ihrer alten Linie geblieben – die Leute hätten sie verflucht und respektiert. Am Ende hätte sie vielleicht sogar die Partei gewählt, die in unsicheren Zeiten ein Minimum an Sicherheit bietet. Ein Minimum an Sicherheit bietet einer, wenn Verlaß darauf ist, daß er bestimmte Dinge unter keinen Bedingungen machen wird. Seit dem Asylkompromiß ist allen, die ihn wollten, klar, was sie selber – etwa Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslose – von der SPD zu erwarten haben, wenn dies die Lage erfordert. Seither ist diese Partei – und mit ihr die ganze Linke – dort, wo sie 1933 war, als die Nazis alle Funktionäre abräumen konnten ohne jeden Protest aus der Bevölkerung. –

Das schrieb Wolfgang Pohrt 1994. Wie es mit der SPD danach weiterging, weiss man.

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Nun gilt die SPD unter radikalen Linken von jeher nicht viel, und nicht nicht erst wegen neulich. Die SPD gilt als Inbegriff und Verkörperung des Verrats an der Arbeiterklasse, ihrer Niederhaltung und Unterwerfung unter die herrschende Ordnung. Die SPD hat den Krieg von 1914 vaterlandstreu mitorganisiert, hat nach der Niederlage die Revolution betrogen und abermals die Arbeiterklasse an den Feind ausgeliefert; hat mit Brüning paktiert, statt die Kapitalisten zu stürzen, und den Widerstand gegen Hitler sabotiert; hat nach 1945 systematisch daran gearbeitet, im neuen Staat anzukommen. Vom Godesberger Programm bis zur Koalition mit Strauss und Kiesinger hat sie alles getan, um ihre sozialistische Verpflichtung einzutauschen gegen die Befähigung, im kapitalistischen Staat wieder mitzuregieren.

Es besteht zwischen den verschiedenen Fraktionen der Linken Uneinigkeit darüber, wann präzise auf diesem Weg die SPD aufgehört haben soll, eine linke Partei zu sein. 1914, oder schon vorher, als sie die Anarchisten hinauswarf? 1919, als ihre Führer die Faschisten bewaffneten und die Revolution zusammenschiessen liessen, oder spätestens 1928, als sie entgegen ihres Wahlkampfversprechens den Panzerkreuzer B doch bauen liessen? Ernst Busch hat ja damals mit seinem berühmten „Seifenlied“ dem Proletariat endgültig die Augen über diesen Verein geöffnet. Oder erst 1959 mit der Ersetzung des Sozialismus durch die friedliche Nutzung der Kernenergie im Grunsatzprogramm? Kein Witz. Oder zu einem späteren Zeitpunkt? Aber zu welchem?

Die Geschichte der Sozialdemokratie scheint eine Geschichte des Verrats zu sein. Damit stellt sich aber das Rätsel her, wieso diese Formation so zählebig zu sein scheint, dass wir heute, 2017, immer noch damit beschäftigt sind, über ihren Niedergang, sogar über ihre Zukunft zu sprechen. In denjenigen Gesellschaften, in denen wir ihren Niedergang viel weiter vorgeschritten sehen, sehen wir dabei komplexe Bilder: in den USA zeigt sich unter dem Namen der „Resistance“ und in der Folge der Wahlkampagne von Bernie Sanders geradezu eine sozialdemokratische Erneuerungsbewegung; in Ländern wie Ungarn oder Polen sieht es dagegen so aus, als hätte wirklich jede Linke gleichzeitig mit der Sozialdemokratie ihren Rahmen, ihren Boden und ihre Handhabe verloren.

Die Radikalität der veschiedensten sogenannten Basisbewegungen in gewissen anderen Ländern kann von ihrer gesellschaftlichen Ohnmacht und ihrer Abhängigkeit von der Politik des Staates kaum ablenken. Die griechischen Anarchisten sind keineswegs in der Lage gewesen, irgendeine Form gesellschaftlicher Gegenmacht aufzubauen; gegen die Räumung einiger ihrer Häuser 2016 waren sie machtlos. Ihre schiere Existenz verdankt sich der Fähigkeit, gegenüber einer sozialdemokratischen Regierung aufzutreten, mit ihr auf dem klassischen Weg des Riots zu verhandeln (nichts anderes ist ein Riot), und ihr damit eine Balance und einen gewissen Handlungsspielraum aufzuzwingen. Das funktioniert, ob sie es wissen oder nicht, genau so lange, wie diese Regierung besteht; denn, so feind man sich ist, appelliert man doch an die selbe gesellschaftliche Koalition. Fällt die Regierung der Syriza, wird von den griechischen Anarchisten auch wenig übrigbleiben.

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Unter den gebräuchlichen linken Argumenten gegen die Sozialdemokratie ist das irritierendste der Einwand, die Sozialdemokratie sei schon lange kein taugliches Mittel einer sozialistischen Umgestaltung mehr. Für sich genommen ist das ja auch vollkommen richtig. Es hat vielleicht nur schon lange niemand mehr etwas anderes behauptet, am allerwenigsten die Sozialdemokratie. Selbst Bernie Sanders meint mit seinem Sozialismus ja nicht gesamtgesellschaftliche Kontrolle über den gesellschaftlichen Produktionsprozess, sondern Zustände wie in Europa. Nicht nur in den USA, sondern auch z.B. im Mittleren Osten geht ja das Gerücht, in Europa herrsche Sozialismus.

Es stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob sozialdemokratische Politik ein tauglicher Weg zur sozialistischen Umgestaltung sein könne. Das war sie auch nie. Die beiden sind aber auch nicht abstrakte Alternativen zueinander, dass man etwa zwischen beiden wählen müsse oder gar könne, aber nur eines von beiden; als ob etwa sozialdemokratische Reformpolitik politische Energien binde, oder die Massen täusche, die ansonsten wie von alleine für die sozialistische Umgestaltung zur Verfügung stünden. Es ist ja nicht so, dass das Proletariat nach dem Bankrott der Sozialdemokratie, der immer einmal wieder eintritt, von seinen Ilusionen geheilt nunmehr zur Selbsttätigkeit schreitet.

Genausowenig ist es umgekehrt allerdings so, dass sozialdemokratische Reformpolitik sich mit genügend Massenaktivität und Selbsttätigkeit des Proletariats dann zur Umwälzung addieren und gegenseitig eskalieren könnte. Denn, leider, sozialdemokratische Politik hat eine, ihr selbst nicht immer bewusste, Eigentendenz: sie lebt in dem Zwiespalt, die Ansprüche der arbeitenden Klassen mit dem Bestand der jetzigen Ordnung versöhnen, sie also im Staat erfüllen zu müssen, was aber nicht geht. Ihre Eigenbewegung läuft darauf hinaus, die gesellschaftliche Bewegung dem Staat zu annektieren, damit die bestehende Ordnung zu erneuern und befestigen, und sich selbst als Garant für diese Versöhnung und Annexion zu installieren.

Was Agnoli die Involution der Demokratie nannte, die autoritäre Eigentendenz des autoritären Staates, ist sowohl Ursache als auch Wirkung dieser Eigenart der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie ist, so betrachtet, selbst eine objektive gesellschaftliche Tendenz der Gesellschaft, oder Selbstvermittlung der Gesellschaft mit dem Staat. Nicht die einzige solcher Tendenzen, wie sie auch nicht die einzige bestehende Partei ist. Die Geschichte des sozialdemokratischen Verrats ist also nicht die der Abweichungen von einem Ideal, sondern genau seine Realität.

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Das ärgerliche und kennzeichnende an objektiven Tendenzen ist nun, dass sie objektiv sind, d.h. dass man schlecht drum herum kommt. Die von Agnoli beobachtete Involutionstendenz der SPD, so gut beobachtbar sie 1967 war und so sehr die Studenten, Auszubildenden und jungen Arbeiter sie 1968 kannten, hinderte 1969 den Grossteil davon nicht, sich genau dieser SPD anzuschliessen. Mitte der 1970er war fast die Hälfte, circa 300.000 der Mitglieder dieser kurz vorher fast fossilierten Partei unter 35, davon mehr als 100.000 aus der jungen Arbeiterschaft. Gleich als erstes zeigten sich die neuen Mehrheiten beim Münchner Bundeskongress der Jungsozialisten 1969, wo die sogenannte „Linkswende“ beschlossen wurde, eine Neudefinition des Juso-Verbandes als linken Richtungsverbands in der SPD, sowie die sog. Doppelstrategie, der Arbeit innerhalb der SPD einerseits, ausserhalb der SPD in der gesellschaftlichen Bewegung andererseits.

Die SPD war damit, unglaublich zu sagen, die grösste Nachfolgeorganisation des SDS und der 1968er Bewegung geworden. Wie ist das zugegangen? Waren die 1968er einfach nicht radikal genug, doch eigentlich nur Kinder der Mittelschicht, auf Postenjagd, typische Studenten, Versöhnler und Kleinbürger? Die Linke hat mit solchen Erklärungen nicht gespart. Wo nur immerzu dieser Keim der Verderbnis herkommen mag! Dieser bedauerliche Mangel an Radikalität oder, wie es Robespierre genannt hätte, Tugend! Die Frage, warum die SPD nicht längst diskreditiert war, löst sich allerdings nicht dadurch, dass man die, die sie unterstützen, für ebenso schlimm hält. Diese SPD hat zwei Wahlen mit den Stimmen der Arbeiter gewonnen, und als man 1972 versucht hat, ihren Kanzler zu stürzen, hat die Arbeiterschaft mit Generalstreik gedroht. Ist das auch eine Folge irgendwelcher kleinbürgerlicher Tendenzen unter den linken Studenten?

Eine sehr viel bessere Analyse solcher Vorgänge findet man in einer Selbstverständnisschrift aus dem Juso-Verband der 1970er selbst, den „Göttinger Thesen“ von 1976. Dieses unwahrscheinliche Stück fast ideologiekritischer Literatur ist Ergebnis eines halben Jahrzehnts Debatten über die Doppelstrategie. Diese hatte der Juso-Bundeskongress 1969 eigentlich einfach vom SDS übernommen, wo sie u.a. von Dutschke entworfen worden war. Es war nun überhaupt nicht klar, was eigentlich das Verhältnis der Arbeit in den „Institutionen“, d.h. hier der Partei, zu der des ausserparlamentarischen Flügels war. Das bildete sich ab auf der Frage: hat man zur SPD, in der man arbeitet, ein strategisches oder nur ein taktisches Verhältnis?

Die Antwort der „Göttinger Thesen“ greift in zurück auf die Entwicklung der Lohnform im „Kapital“ von Marx. Im Arbeitslohn erscheint der Beitrag der Arbeiter am Produkt als abgegolten. Da die Mehrwertbildung undurchschaut bleibt, erscheint natürlicherweise der Rest, der Profit, als Entgelt eines Wertschöpfungsbeitrags des Kapitals. Dieser Denkform entspringen nach Marx alle Rechtsvorstellungen, sowohl der Arbeiter als auch der Kapitalisten. Selbst die Erfahrung der Ausbeutung wird in diesen Formen verarbeitet; der Weg zu Veränderung wird auf dem Weg von Interessenvertretung gesucht, durch Zusammenschluss und Verhandlung „auf Augenhöhe“. Das ist nicht nur eine praktische Frage, weil das Kapital nun einmal mächtig ist, sondern erscheint als richtig, weil dem Kapital im Lohnarbeiterbewusstsein, aufgrund der Lohnform, irgendein Eigenrecht und Anteil an der Produktion zugeschrieben wird.

Dabei ergeben sich für diese Art der Interessenvertretung miteinander in Widerstreit liegende Forderungen: einerseits soll sie einem „Allgemeinwohl“ dienen, welches nichts anderes als Kapitalakkumulation und Staatsinteresse sein können; andererseits soll sie weitgehende Verbesserungen bringen, so dass die Kluft zwischen realter Ausbeutungserfahung und den ideologischen Ansprüchen dieser Gesellschaft, nämlich Freiheit und Gleichheit derArbeitskraft- und Warenbesitzer, möglichst klein wird.

Die Göttinger Thesen bringen dabei das Kunststück fertig, nicht nur die Existenz und den Inhalt der sozialdemokratischen Partei und Gewerkschaften, sondern sogar noch die ihrer linken und rechten Flügel aus dem 17. Kapitel des „Kapital“ abzuleiten, einschliesslich der sozialliberalen Koalition selbst. Ob das vielleicht ein bisschen übertrieben ist, will ich hier nicht beurteilen.

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Der Vorzug dieser Behandlung gegenüber jeder anderen, die ich kenne, ist, dass sie die mühsamen und unplausiblem Manipulations- und Korruptions-Theorien überflüssig macht, mit denen insbesondere der Leninismus immer wieder das bedauerliche Faktum verschleiern wollte, dass die Hauptstütze der angeblich kleinbürgerlichen Politik seltsamerweise doch die Arbeiterschaft ist. Hier muss überhaupt nichts manipuliert werden, hier geht es in Wirklichkeit alles seinen sozialistischen Gang, und genau deswegen läuft alles falsch.

Für die Autoren der „Göttinger Thesen“ hiess das aber auch: es gibt kein bloss taktisches Verhältnis zur SPD, man tritt ihr nicht auf Abruf bei und wartet darauf, dass links von ihr eine andere, diesmal die richtige sozialistische Partei entsteht, zu der man dann den linken Flügel mitnimmt. Sondern die SPD ist die bestehende linke Partei, eine andere wäre im Grundsatz nicht anders, die Widersprüche der Reformismus sind nicht vermeidbar, sondern sie gehören zu dem Geschäft, das man nun einmal auf sich genommen hat: They sentenced me to twenty years of boredom / for trying to change the system from within.

Gesellschaftliche Veränderung, so sahen sie es, ist ohne die Sozialdemokratie nicht möglich, auch wenn die Sozialdemokratie nicht Agentin dieser Veränderung sein wird. Das ist das Amt der ausserinstitutionellen Bewegung. Beide stehen aber in einem wechselvollen und widersprüchlichen Verhältnis; ihre Ansprüche kollidieren meistens; sie konkurrieren manchmal um Einfluss; in Situationen der Krise, und das haben die Autoren der „Göttinger Thesen“ unbegreiflicherweise völlig übersehen, gehen beide direkt gegeneinander bis zu dem Punkt der gegenseitigen Zerstörung.

Unbegreiflich, weil sich 1976 genau das auch in Deutschland abgespielt hatte, wenn auch auf unvergleichlich kleinerer Skala als 1919. Und gegenseitig, weil die Sozialdemokratie, indem sie den Feind von links niederwirft, auch ihre eigenen Sehnen durchschneidet. Es lässt sich wahrscheinlich bis heute noch kein Beispiel dafür finden, dass ein solcher Kampf mit dem Sieg der ausserinstitutionellen Linken über die Sozialdemokratie endet, ausser in einem sehr übertragenem Sinne.

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In solchen Formen bewegt sich anscheinend die Revolutionsgeschichte, und man ist versucht, die Sozialdemokratie nicht mehr das kleiner Übel zu nennen, sondern ein unvermeidliches. Sie gehört zu den gesellschaftlichen Institutionen, die man im besten Falle nicht so einfach loskriegt und im schlimmsten Falle bitter vermisst. Sie ist so objektiv wie das Geld, aber das heisst nicht, dass sie nicht notfalls durch Befehl von ganz oben ausser Kurs gesetzt werden könnte. Ihr anzudichten, sie leiste einen Beitrag zur Überwindung des Kapitalismus, ist so albern, wie ihr das abzusprechen. Ihre Funktionäre sind meistens feiste Lügner, aber es hat selten ein gutes Ende genommen, wenn die Leute ihnen nicht mehr geglaubt haben.

Das Unglück ist, dass sie das ganze solange treiben, bis es auch wirklich soweit ist, und dann stehen die guten linken Leute da und wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Soll man, um jetzt mal rapide den Ort zu wechseln, nach 25 Jahren Clinton Genugtuung spüren, dass man diesen Leuten nicht mehr glaubt? Oder soll man aus höchste alarmiert sein, dass ausgerechnet in den USA ein Präsident gewählt wurde, dessen Anhänger ihn wählen nicht, wie bei unseren, obwohl er lügt, sondern weil er lügt?

Wenn man von Hoffnung viel hielte: was, liebe Leser/innen, raten Sie und zu hoffen? Dass die Arbeiter, die schnell spüren werden, dass der Präsident alle anlügt, um sie zu betrügen, jetzt reumütig, durch Schaden klug, wieder anfangen, Clintons Partei zu wählen, weil sie einsehen, dass es auch nichts geholfen hat, sie nicht zu wählen? Oder aber, dass dieselben Arbeiter aus denselben Gründen jetzt, was völlig richtig wäre, die Fabriken besetzen, den Laden selbst übernehmen und schauen, ob sie das nicht besser hinkriegen?

Beides wird nicht passieren. Beides zu erwarten wäre naiv. Alle wissen, dass das System rigged ist, wie es bei uns Amerikanern heisst; das heisst gezinkt. Aber das bringt niemanden dazu, den Spieltisch umzuwerfen und zu schreien: So ein Scheissspiel. Was stattdessen passiert, ist beides und keins von beidem. Die sogenannte „Resistance“ mobilisiert Leute jeder Sorte zu politischer Tätigkeit, Organizing, Kandidaturen für jedes denkbare Wahlamt. Sie wird ununterscheidbar von der ausserparlamentarischen Bewegung, während sie gleichzeitig zum Spielball der Kräfte wird, die die Demokratische Partei beherrschen.

Mittendrin zwischen Black Lives Matter und den Democratic Socialists of America wursten die Clinton-Leute mit, betreiben Schulungen für Gemeinderatskandidaten, für Senatskandidaten, für Wahlkampfhelfer und Wahlbeobachter. Und dabei werben sie darum, dass jetzt nicht die Zeit wäre, weiter Grabenkämpfe zu führen, warum sie die Wahl verloren haben; während alle Umfragen sagen, dass die Wahl heute genauso wieder ausgehen würde, während Sanders in den Umfragen 55 zu 39 vor Trump gelegen hatte. Sehen wir uns das doch genauer an, als Beispiel für Niedergang und Auferstehung der modernen Sozialdemokratie.

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Clintons Leute nannten sein Projekt 1992 New Democrats, das Vorbild für Blairs New Labour. Dem Beispiel folgten in verschiedenem Masse die sozialdemokratischen Parteien Europas und die motley crue, die sich die Sozialistische Internationale nennt. Dazu gehören, in Polen und Ungarn, auch Parteien, die kurz vorher noch gemässigten Stalinismus getrieben hatten. Das verwirrt das Bild alles eher: vor allem leninistische Linke tun so, als wäre es der Niedergang des Staatssozialismus gewesen, der eine so genannte Entfesselung des Marktes und Entmachtung der Nationalstaaten ausgelöst hätte. Das ist solange plausibel, wie man nur die sogenannten sozialistischen Parteien in Europa betrachtet, deren Politik eine gemeinsame historische Wurzel hat. Es wird unplausibel in der sogenannten Dritten Welt; vollkommen unhaltbar in den USA, wo die reformistische Partei niemals entfernt derartige Staatswirtschaft getrieben hatte wie die Westeuropäer, dass Clinton etwa staatliche Altindustrien oder grosszügige Sozialprogramme abzuwickeln gehabt hätte.

Im Gegenteil folgen Clinton wie Blair auf eine weitgehende solche Abwickelung in den 1980er Jahren unter Reagan und Thatcher. Diese reagieren, wie Andrew Kliman (The Failure of Capitalist Production, 2011) überzeugend dartut, auf einen Fall der industriellen Profitrate der 1970er durch Senkungen von Steuern und Sozialtransfers sowei durch Angriffen auf die Löhne. Der Niedergang der „sozialistischen“ Industrien des Ostens seinerseits kommt wahrscheinlich aus derselben Profitratenkrise. Die Krise des Kapitals setzt sich als erstes um als Krise derjenigen im Grundsatz kapitalistischen Wirtschaften, die zu rigide sind, um ihr entgegenzuwirken.

Die Ausgleichung der kapitalistischen Profitrate aber erfordert tiefe Umstrukturierungen des Verwertungsprozesses, sogenannte Basisinnovationen, Angriffe auf die Löhne, und Weltmarktoffensiven, die man gewöhnlich Handelskriege nennt. Wir wollen nicht Leuten zuviel Bewusstsein unterstellen, aber es scheint, als ob die Leute, die Schumpeter zitieren, hier meistens auch wissen, was sie tun. Es ist der mehr oder weniger bewusste Versuch, einen Bruch der Grössenordnung von 1929-33 zu managen, ohne dieselben politischen Folgen zu provozieren. Man darf den Leuten wahrscheinlich unterstellen, dass sie nicht mehr nur vor der fälligen Revolution Angst haben, sondern auch dazu vor etwas wie einem neuen Hitler; nicht wegen der KZ oder dem Holocaust, sondern wegen dem Weltkrieg.

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Basisinnovationen, Lohnsenkungen, Handelskriege haben das praktische gemeinsam, dass das eine das andere stützt und ermöglicht, aber gleichzeitig das unpraktische, dass das eine auch zum anderen zwingt. Was hilft ein neues konkurrenzlos billiges Produkt, wenn es nicht aggressiv auf den Weltmarkt gebracht werden kann? Welchen Erfolg soll es haben, ausser Konkurrenten aus dem Geschäft zu bringen? Wie soll also die Lösung der Verwertungskrise anders ablaufen als in Form, idealerweise, eines Weltkriegs? Und wer führt die eigene Volkswirtschaft überzeugender in diesen als der jeweils schlimmste aufzufindende Faschist?

Die vorläufigen Antworten kennen wir. Für die oben genannte Frage hilft uns das nur begrenzt weiter. Es ist wie beim bekannten Mühlespiel: Mühle auf, Mühle zu. Clintons und der neueren Sozialdemokratie Politik bestand in einem strategischen Bündnis des Reformismus mit dem Neoliberalismus, hören wir. Was das bedeutet, muss man in den bisher dargelegten Begriffen erklären. Es hiess, dass die reformistischen Parteien eine veränderte Form des politischen Raums als Grundlage des politischen Handelns akzeptierten: einen mehr internationalisierten Handelsraum, neue Verträge der Welthandelsordnung (WTO), Aufgabe von Kapitalverkehrskontrollen oder strategischen staatlichen Beteiligungen an nationalen Industrien. Das bedeutet, sozialdemokratisch gedacht, weniger Möglichkeiten der innerstaatlichen Steuerung. Es verspricht aber, hiess es von der linken Seite derselben Parteien, Ersatz durch neue Möglichkeiten zwischenstaatlicher Vereinbarung und internationaler Zusammenarbeit.

Das nannte man die Globalisierung mit ihren Chancen und Risiken; eine wahrscheinlich eher normale Freihandelsperiode, wie sie immer wieder auftaucht zwischen Perioden der Schutzzollwirtschaft. Man müsste, hiess es damals im Reformismus, sie gestalten. Es gab ja Arbeiterrechteklauseln und Sozialklauseln in den Handelsverträgen, mit denen sich ja der internationalen Arbeiterkonkurrenz entgegenwirken liesse. Aber als 1998 die Erklärung von Doorn zwischen den Metallarbeitergewerkschaften Deutschlands, Belgiens und der Niederlande vorgesehen hatte, keine Lohnabschlüsse mehr unterhalb der verteilungsneutralen Schwelle, also der Summe aus Wachstum, Produktivitätszuwachs und Zielinflation mehr zu machen, dauerte es z.B. in Deutschland gerade ein Jahr bis zum sogenannten Bündnis für Arbeit, welches genau diese Absprache unterbot.

Es wurde klar, dass das alles nicht funktionierte: eine EU, und eine Weltwirtschaft, zusammenhalten, wenn man gleichzeitig alles dran setzt, die ausländische Konkurrenz zu ruinieren. Die ruinöse Politik der Neuen Mitte setzte die Sozialdemokratie überalll auf der Welt unter Druck, es ihnen nachzutun; einfach gezwungen durch die Konkurrenz auf dem Weltmarkt.(1) Es war 1999 tatsächlich als letzter Oskar Lafontaine, der darauf hingewiesen hat. Das war allerdings auch beinahe alles, was er wusste. Wir werden gleich noch auf ihn zurückkommen.

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Diese Zeit damals war auch eine ausgeprägte Zeit des Schwindels, als alle Leute plötzlich T-Online-Aktien kauften und der Meinung waren, alle könnten reich werden, wenn nur alle Aktien kaufen würden. Es war damals praktisch unmöglich, Dingen wie der faktischen Abschaffung der öffentlichen Alterversicherung etwas entgegenzusetzen, oder später der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe (der Kern der Hartz-Reformen). Es entsprach der damals überall vorherrschenden Grundüberzeugung, die mit den Hartz-Reformen dann überging in die ebenso irre Vorstellung: alle Länder könnten reich sein, wenn nur alle Exportüberschüsse erwirtschafteten.

Das Leute so etwas glauben, ist die eine Sache. Dass so etwas dann sozialdemokratische Strategie wird, ist wieder etwas ganz anderes. Welche Sorte Leute kann so bekloppt sein? Wer kann, einer momentanen Stimmung der Wählerschaft zuliebe, so überschlau, vernagelt und rückgratlos sein, das Gegenteil zu tun von dem, was alle von einem erwarten? Um sich dann zu wundern, wenn man genauso wahrgenommen wird: als überschlau, vernagelt und rückgratlos. Wer? Nun. Jetzt lesen Sie nochmal den ersten Abschnitt dieses Textes und denken Sie daran, wer hauptsächlich das Einknicken der SPD in der Asylfrage verantwortet, 1993. Es war Oskar Lafontaine, Weltökonom, Stratege und Inländerfreund.

Dieses Versagen, oder wollen wir es „Verrat“ nennen, ist nicht nur von derselben Grössenordnung wie später das der Schröder-SPD bei den Hartz-Reformen. Sondern der Asylkompromiss enthält diese schon in Keimform. Das ganze System der Asylverwaltung seit 1993, das auf dem sogenannten „Asylkompromiss“ errichtet worden ist, erinnert nicht zufällig an das Sanktionsregime unter Hartz IV, einschliesslich Residenzpflicht und Sachleistungen; sondern das Hartz-Regime ist diesem nachgebildet.

Der wirkliche Inhalt der Asylrechtsreform war nicht der, dass eine sozialdemokratische Partei sich an das veränderte Denken in einem Teil ihrer Wählerschaft anpassen muss, um nicht ihre Mehrheitsfähigkeit zu verlieren. Der wirkliche Inhalt war, dass eine sozialdemokratische Partei die langfristigen Bedingungen ihrer Mehrheitsfähigkeit zerstört, um kurzfristig mit Schwierigkeiten sich nicht auseinandersetzen zu müssen. Dass eine sozialdemokratische Partei symbolisch ein Teil ihrer Klientel opfert, um sich bei ihren Feinden beliebt zu machen. Oskar Lafontaine, der Architekt des „Asylkompromisses“, war gleichzeitig der Architekt der „Neuen Mitte“.

Eine solche Partei vermeidet zwar die Konfrontation und macht sich weniger zur Zielscheibe ihrer Feinde. Aber eine solche Partei wird langfristig nicht gewählt, weil man ihr nicht vertraut. Oskar Lafontaine und Sarah Wagenknecht, die heute der Linkspartei Fernseh-Präsenz garantieren, gelten unter ihren Freunden als Garanten von Wahlerfolgen; aber hat sich jemand mal gefragt, wo die Wahlerfolge dieses Flügels bleiben?

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Ausser den Medien, den Talkshows und allen den sonstigen Simulationen gesellschaftlicher Debatte stehen hinter Oskar Lafontaine und Sarah Wagenknecht nur noch die Relikte von linken Sekten der 1980er, und zwar sind das fast ausnahmslos Leute, denen man ansieht, warum ihnen jemand wie diese beiden wie gerufen kommt; sie brauchen ein Gesicht, weil sie selber keines haben. Jemand wie Dieter Dehm, der früher Manager für linke Musiker war, damit er sie für die Stasi bespitzeln konnte; jemand wie Norman Paech, der in seinen Kreisen als Völkerrechts-Experte gilt, weil er ein „Völkerrecht“ lehrt, das ausserhalb seiner Einbildung nicht existiert; die zahlreichen linken Antisemiten, die sich für links halten, weil sie gegen Israel sind; der sogenannte linke Flügel der Linkspartei, einer wie der andere, das sind wirklich Leute, die man einfach niemandem zeigen kann.

Was sollen denn die Leute glauben, weswegen sie die wählen sollen? Vage versprechen sich diese Kreise von ihrem Kandidaten einen sogenannten Corbyn- oder Sanders-Effekt. Aber im Grunde ist recht klar, warum sie auf so etwas lange warten können.

Die Sanders-Kampagne entwickelte sich aus dem Stand zu einer ernstzunehmenden Machtoption, weil Sanders als praktisch einziger Kandidat die sozialen und ökonomischen Interessen von circa 70% der amerikanischen Bevölkerung ausgesprochen hatte. Am Ende stand er in Umfragen gegen Trump bei 55 zu 39, mit Aussicht auf einen klaren Sieg. Kern seines Programms sind allerdings eine Reihe von konkreten und durchaus gemässigten Forderungen, namentlich ein umfassendes öffentliches Krankenversicherungssystem.

Corbyn ist vielleicht ein etwas anderer Fall. Corbyns hauptsächliche Unterstützer sind in der Tat die britische Variante von Linksruck und SAV; Corbyn selbst würde zwischen Leuten wie Dehm und Paech nicht weiter auffallen. Er spricht unterschiedslos auf Kundgebungen der Hizb Allah und der Muslimbruderschaft, weil die für ihn auch wahrscheinlich gleich ausschauen; er hat, so wie der Rest der trotzkistischen Fossilien in seinem Schattenkabinett wie McDonnel, eine sehr prononcierte Meinung zu allem, was Israel so treibt, und das Gefühl, dass historische Verantwortung ihn dazu zwingt, also berechtigt, sie bei jeder Gelegenheit zu äussern.

Das kommt, weil Leute wie John McDonnel und Jeremy Corbyn anscheinend noch nicht begriffen haben, dass es das British Empire gar nicht mehr gibt. So wie Charles Windsor, der Thronfolger dieses lustigen Staates, treiben sie eigentlich Kolonialpolitik, allerdings lediglich im Imperium ihrer Illsuionen, was sie dann Internationalismus nennen. Selbst von diesem stolzen Imperium ist allerdings seit den hohen Zeiten der „Militant Tendency“ nicht mehr viel übrig als ausgerechnet das Mandatsgebiet Palästina.

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Diese Strömung der britischen Linken oder Sozialdemokratie verdient vielleicht noch eine etwas genauere Betrachtung. Ihr gehört zum Beispiel der langjährige Stadtratsvorsitzende und Bürgermeister von Gross-London an, Ken Livinstone, für dessen Verwaltung der Ehrentitel Looney Left geprägt wurde; in den 1980ern, während gerade die britischen Gewerkschaften den Kampf mit Thatchers Regierung verloren.

Dieser Kampf ist nirgendwo erbitterter geführt worden als in Britannien. Während die Regierung Thatcher die Bedingungen dafür geschaffen hat, die britische Industrie in grossem Maßstab in andere Länder auszulagern, führte die Bergarbeitergewerkschaft unter dem alten Stalinisten Cargill 1984/5 einen Streik unter Aufbietung aller Reserven, in einem letzten Aufbäumen, unter Nichtachtung des Arbeitsrechts und der öffentlichen Meinung und in direkter Konfrontation mit Streikbrechern und Polizei. Die Niederlage riss die Streikmacht der NUM und der britischen Gewerkschaften mit in den Abgrund.

Livingstone und die von ihm unterstützten Leute der „Militant Tendency“, einem Kreis um eine trotzkistische Zeitschrift gleichen Namens, stiegen in diesen Jahren der Konfrontation in der Labour Party zu einer realen Macht auf; aber gleichzeitig, und das wird gerne vergessen, ging die Basis, auf deren Kämpfe sie sich zu stützen gedachten, verloren. Die Deindustrialisierung unter Thatcher brachte in der Labour-Partei der 1980er zwei widersprüchliche Tendenzen hervor: die eine, deren linke Rhetorik immer weniger Kontakt zu realen Kämpfen hatte (weswegen das Wort Looney Left auch so gut hängenbleibt), und die andere, die einen anderen Ausweg als die Anpassung an die von Thatcher geschaffene Realität nicht mehr kennt.

Die Corbynisten wissen eigentlich nichts, ausser dass alles, was die Blairiten tun, falsch ist. Das mag ja sogar stimmen, aber anscheinend wissen sie nicht so recht, warum. Wenn McCluskey, Vorsitzender der Gewerkschaft Unite, ankündigt, mit zivilem Ungehorsam gegen ein neues Gesetz vorzugehen, welches die Streikfähigkeit der Gewerkschaften beschränkt, dann kann man sicher sein, dass auf diese Ankündigung keine Taten folgen.(2) Wenn derselbe aber ankündigt, seine Gewerkschaft an die Boykottbewegung gegen Israel anzuschliessen, weiss man recht gewiss, dass er den Beschluss auch durchsetzen wird.

Man kann nicht behaupten, dass solche Leute zu viel zu gebrauchen sind. Leute wie Cargill haben auf Gewerkschaftstagen andere Resultionen durchgesetzt als McCluskey und seine Grossmäuler. Man kann dann auch nicht behaupten, dass solche Leute die alte, ursprüngliche Sozialdemokratie vor Blair und dem Neoliberalismus repräsentiert. Sondern Blair und Corbyn, beide repräsentieren dieselbe Deformation, dieselbe Niederlage, das selbe Problem. Keiner der beiden die Lösung.

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Als Corbyn damals recht überraschend zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, löste das in der Partei und der benachbarten Linken dennoch eine gewisse Euphorie aus. Es führte zur Bildung einer Legende, dass nämlich Corbyn und genau die Politik, die er repräsentiert, ohne weiteres Labour, das heisst die Partei und die Klasse wieder zusammenführt, und den Niedergang der Blair-Jahre beendet. Was in weiteren Kreisen nicht so sehr wahrgenommen worden ist, sind die irritierenden Züge von Personenkult und Säuberungstendenzen, seitens der Clique Corbyns und der Sekten, die ihre Arbeit auf dem Boden erledigen.

Corbyn hat es zwar tatsächlich geschafft, in den Parlamentswahlen 2017 Stimmen hinzuzugewinnen, vor allem von jüngeren Wähler/inne/n, aber auch unter den mittleren Schichten, die sich vom Staat benachteiligt fühlen. Keineswegs hat Labour unter Corbyn die „Arbeiter“, gar die vielbesungene „weiße Arbeiterklasse“ wiedergewonnen. Kein Wunder, bei der Art und Weise, wie sein sogenannter Gewerkschaftsflügel arbeitet.

Andererseits ist der Mythos endgültig zerbrochen, Labour könne nicht gewinnen mit Forderungen, Bahn, Post, Energie und Gesundheitssystem wieder zu verstaatlichen. Wenn das Wahlergebnis eines zeigt, dann, dass die Wähler Labour trotz allem wählen, weil sie genau wissen, dass sie eine andere Option nicht haben, (3) und weil die Partei wenigstens zaghaft irgendetwas für sie zu tun verspricht; dass die Partei allerdings nach wie vor nicht in der Lage ist, Mehrheiten zu gewinnen, auch nicht unter dem britischen Wahlsystem. (5)
Aller Enthusiasmus reichten nur für 40 Prozent, und das unter den Bedingungen einer Kernschmelze des konservativen Lagers.

Zu einer Legende taugt Corbyn nicht, auch wenn seine Anhänger ihn wie Jesus Christus mit „JC“ abkürzen; der ehemalige Mitarbeiter des iranischen Staatsfernsehens ist einfach zu sehr ein krummer Hund. Man muss die 40:42%-Katastrophenwahl von 2017 in Britannien mal mit der Wahlniederlage Clintons vergleichen! Clinton lag gegen Trump im Popular Vote soweit vorne wie Corbyn gegen May hinten lag. Für Clinton gilt ein Ergebnis als katastrophale Niederlage, das für Corbyn von seinen Anhängern fast zu einem Sieg erklärt wird. Das muss man auch erst einmal schaffen.

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Lafontaine aber hat nun, dieser Tage, im „Spiegel“ in einem Interview folgendes vorgeschlagen oder gefordert: da eine Machtoption für die linken Parteien beim jetzigen Zustand der SPD, bei 20%, völlig illusorisch ist, solle aus SPD, Linkspartei und Teilen der Grünen eine Sammlungsbewegung mit dem Ziel einer neuen linken Volkspartei gegründet werden. Denn eine solche brauche es, um das, so Lafontaine, „Potential“ der demokratischen Linken auszuschöpfen. „Die Leute“, sagt er, „warten geradezu auf eine solche Option.“

Das mag tatsächlich sein, und es ist ja mit Händen zu greifen. Man braucht kein Wahlforscher oder Demoskop sein, um zu sehen, wie die Wählerstimmen für die SPD sich seit 2005 entwickelt haben, und dass diese Rückgänge keineswegs als Gewinne bei der Linkspartei aufgetaucht sind. Im Gegenteil hat die SPD von 2002 auf 2017 9 Millionen Stimmen verloren, die Linksparte aber nur 2 Millionen davon gewonnen. Die Differenz sind Wähler/innen, die sich seither zumeist (ca. 5 Millionen!) standhaft weigern, eine andere Partei zu wählen, namentlich Lafontaines Linkspartei.

Betrachtet man dagegen, wie die Kandidatur von Schulz aufgenommen worden ist, zeigt sich, wie schnell anscheinend dieses „Potential“ reaktivierbar ist, wenn ein Kandidat auftritt, den offenbar noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte und der anscheinend zuerst als jemand wahrgenommen wurde, der nicht Teil des Schröder-Systems gewesen war. Binnen zweier Wochen stand die SPD wieder auf 35 %, aber das änderte sich in den Monaten danach. Langsam sprach sich herum, dass Schulz immer Teil der Schröder-SPD gewesen war, und nach dem Wahlkampfparteitag Juni 2016, wo Schröder selbst für ihn in die Bütt stieg, sackte die SPD in den Umfragen unter die Werte vor Schulz, um volle 5% auf ihren jetzigen Stand.

Daraus lässt sich nun tatsächlich der Schluss ziehen, dass Anstrengungen der SPD, aus dem Schatten Schröders herauszutreten, von ihrer Wählerschaft beinahe sofort honoriert werden, und zwar mit einem fast nicht für möglich gehaltenem Ausbruch von Enthusiasmus; dass solche Anstrengungen aber in sich zusammenstürzen, wenn sie als oberflächlich und unwahrhaft durchschaut werden, dass sie sogar eine Verschlechterung provozieren.

Und es lässt sich daraus ablesen, wie giftig die Hinterlassenschaft Schröder für die SPD wirklich ist. Alles, was mit diesem zu tun hat, wird die Wählerschaft nicht mit einem Stock anfassen. Sollte Gabriel auf den Gedanken gekommen sein, Schulz vorzuschicken, um sich für die Wahl 2021 aufzusparen, wird er das auf grausame Weise erfahren. Sollte die SPD, wie es den Augenschen hat, sowenig Lebenswillen übrig haben, dass sie die Gegenden südlich der 20% erkunden möchte, ist alles, was sie tun muss, Siegmar Gabriel aufzustellen, den Zögling Schröders, den man damals den „Popminister“ zu machen.

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Was würde eine SPD, wenn sie denn Überlebenswillen hätte, für Schlüsse aus dieser Situation ziehen? Sie müsste die Erbschaft Schröders hinter sich lassen, und sie müsste dies auf eine Weise ihren Wählern zu verstehen geben, die glaubhaft ist. Wir haben Anlass zur Vermutung, dass das Misstrauen, mit dem die Wähler sich von Schulz wieder zurückgezogen haben, tief sitzt; dass ein Bruch der SPD mit ihrem jüngeren Vergangenheit durch deutlichere Gesten und Massnahmen zum Ausdruck gebracht werden müsste.

Es gibt für solche Formen des Neuanfangs Beispiele in der Geschichte der Sozialdemokratie. Je nach Grad des Glaubwürdigkeitsverlustes reichen sie von einschneidender Veränderung des Programms (Godesberger Parteitag 1959, Berliner Parteitag 1989), Verschmelzung oder Aufnahme anderer Parteien (die Reste der USPD, Görlitzer Parteitag 1921) über die Umgründung (der Partei in Frankreich, Parteitag von Alfortville 1969) bis hin zur völligen Neukonstituierung durch Abspaltung (USPD, Syriza, PD in Italien).

Die momentane Lage der SPD würde es erfordern, das in der Partei nachgewachsene Führungspersonal, aus dem die zukünftigen Bundesvorstände und Kandidaten rekrutiert werden, dramatisch zu ergänzen, denn abgesehen von der völlig offenen Frage der Glaubwürdigkeit von Leuten, die in der Regel Schröder mitgetragen haben und seither aus nachvollziehbaren Gründen einen Bruch mit seiner Politik hintertreiben, sind diese Leute zu wenige, um die Partei am Leben zu halten, und ihnen fehlt in der Regel die Verankerung ausserhalb der Partei.

Das Personal der SPD bildet die gesellschaftlichen Strömungen, auf die die SPD sich stützen muss, nicht besonders gut ab. Die sogenannten Arbeitsgemeinschaften der SPD, die zu diesem Zweck da sind, sind derzeit nicht im Stande, diese Aufgabe zu erfüllen, und werden es aus sich heraus auch nicht. Die SPD müsste mit den in Frage kommenden gesellschaftlichen Bewegungen in einen Dialog treten, der längerfristig institutionalisiert sein muss und öffentlich geführt wird, ohne als Medienevent gesehen zu werden. Ein solcher Dialog braucht, um zu funktionieren, vertrauenbildender Massnahmen, das heisst realer Garantien.

Die SPD ist nämlich tatsächlich in der Position, Garantien, und zwar weitreichende, geben zu müssen dafür, dass sie nicht lediglich solchen Dialog missbrauchen wird, um ohne Gegenleistung ihre Kreditwürdigkeit zu verbessern. Dass man ihr dies nämlich zutraut, ist genau das Problem an der Sache. Sie wird also so etwas nicht haben können, ohne Tatsachen zu schaffen, die nicht nur guten Willen schaffen, sondern die so etwas wirklich unmöglich machen. Das heisst, sie muss sich auf einen von Anfang an als unumkehrbar angelegten Prozess einlassen. An dessen Ende muss eine neue politische Formation stehen, eine umgegründete oder neukonstituierte andere sozialdemokratische Partei.

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Solch eine Anstrengung würde von der Wählerschaft, davon kann man ausgehen, honoriert, und sie wäre auch geeignet, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Denn die Krise der Sozialdemokratie wird heute allgemein als unmittelbar identisch mit der Krise der deutschen Gesellschaft wahrgenommen. Der Prozess dieses Dialogs und Neukonstituierung selbst würde weit in die Gesellschaft hinausweisen und der erneuerten Partei Zustimmung in Grössenordnung der Regierungsfähigkeit garantieren.

Der Weg zu diesem Prozess müsste eröffnet werden durch einen Beschluss der Bundesvorstands, der diese Art institutionalisierten Dialoges zum operativen Ziel erhebt, und müsste dann unter Einbeziehung erster Partner auf einem Bundesparteitag, der diesen Beschluss billigt, weiter diskutiert werden. Die Parteiverfassung lässt eine verbindliche Beschlussfassung zu diesem Zeitpunkt, die auch politisch sinnvoll wäre, noch nicht zu, so dass es hier formal bei Absichtserklärungen bleiben muss. Diese sind aber für den Zweck bindend genug, weil sie die Partei unter Zugzwang setzen bei Strafe der absoluten Lächerlichkeit. Und genau deswegen sollte das als Garantie für die Unumkehrbarkeit des Prozesses ausreichen.

Danach müsste der Bundesvorstand oder eine beauftragte Kommission eine Reihe von Konferenzen abhalten, auf denen frei und ohne vorher feststehendes Ergebnis die Lage erörtert werden kann; es kann nicht schaden, diesen Konferenzen die Macht einzuräumen, ihre eigene Tagungsleitung zu wählen und Resolutionen, sogar Minderheitsvoten zu erarbeiten, denen für den weiteren Prozess bindende Kraft eingeräumt wird. So etwas gehört wahrscheinlich sogar dazu, wenn Ernsthaftigkeit und Unumkehrbarkeit gewollt sind. Die Frage, wer die Konferenz vorbereitet, wer einladet und die vorbereitenden Referate auswählt, ist damit natürlich nicht abgetan, und ich sehe niemanden, einschliesslich der Mitglieder der Grundwwertekommission, denen das zuzutrauen wäre. Vermutlich wird der Bundesvorstand dazu einen Beirat aus Hochschullehrern und Bewegungsaktivisten einberufen müssen.

Der Kreis, der eingeladen wird, kann nicht vorher umschrieben werden, denn buchstäblich niemand weiss, wer sich für so etwas noch interessiert. Wir reden hier vom Versuch einer Partei, sich kurz vor dem Eintritt ins Nirvana selbst neu erfinden zu lassen. Es lässt sich nicht verhindern, dass Rechte einen solchen Prozess infiltrieren. Dagegen hilft nur Tageslicht, gute Vorbereitung, Beiziehung möglichst vieler völlig integrer Redner, und energische Einladung der eigenen Leute.

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Ich will, was ich mit Integrität eines Redners, oder besser eines Standpunktes meine, an einem nahe liegenden Beispiel beleuchten. In der sogenannten Flüchtlingsfrage ist es Standpunkt der radikalen Linken, dass niemand ein besseres Recht hat, an einem Ort zu leben, als ein anderer. Dieser Standpunkt ist identisch mit dem der Flüchtlingsbewegung, und wurzelt in etwas, was wir proletarisches Naturrecht nennen wollen.

Soetwas wie eine Verweigerung des Aufenthalts in einem Land ist, genauso wie übrigens das Privateigentum, bekanntlich aus vernünftigen Gründen nicht abzuleiten, wie man auch bei Immanuel Kant lesen wird; und es ist noch weniger verträglich mit dem Rechtsstandpunkt der armen Leute, die nichts anderes besitzen als ihren Aufenthalt. Noch mehr ist übrigens die Verweigerung der Gestattung einer Erwerbstätigkeit vor dem Standpunkt des proletarischen Naturrechts ungefähr genauso wenig zu rechtfertigen wie Mord, denn es läuft bei den armen Leuten auch auf nichts anderes hinaus.

Dieser Standpunkt ist logisch widerspruchslos und moralisch eindeutig, wenn er auch vielleicht als extrem gilt. Moralische Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit ist es, was den Unterschied zwischen Integrität eines Standpunkts und blosser Willkür ausmacht.

Nun kann selbstverständlich die Sozialdemokratie einen solchen Standpunkt nicht beziehen. Denn er richtet sich in letzter Instanz gegen die Existenz eines Staates selbst, und dieser ist das zentrale Ideologem der Sozialdemokratie, oder auch ihr wirklicher Fetisch. Es ist hier wie mit dem Sozialismus oder der „gerechten Gesellschaft“: die Sozialdemokratie wird so etwas mit ihren Methoden nie erreichen, aber wenn sie aufhört, zu glauben, dass doch, dann wird sie aufhören zu existieren.

Ein sozialdemokratischer Standpunkt muss hier also die beiden widertreitenden Ansprüche, den der Vernunft und der Tradition der Besitzlosen einersteis, den des Staates und des Eigentums andererseits, akzeptieren und zu einer Art Ausgleich bringen zu suchen.

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Das sehen wir etwa bei Bernie Sanders. Er hält die Forderung nach offenen Grenzen für eine Forderung des Grosskapitals, und zwar mit der Begründung, dass die Koch brothers einmal eine Studie finanziert haben, in denen die Wohlstandseffekte von Zuwanderung untersucht wurden. Es scheint ihn überhaupt nicht zu stören, dass niemals das Grosskapital, keiner seiner Funktionäre oder Politiker so eine Forderung jemals erhoben hätten. Denselben Unsinn behauptet natürlich Oskar Lafontaine.

Bernie Sanders aber tritt darüber hinaus für weitgehende humanitäre Bleiberechte, Legalisierung von illegalen Einwohnern, für Sanctuary Cities und gegen Abschiebungen ein. So ungefähr hat man sich so etwas vorgestellt. Und wir gesehen haben, ist dieser Standpunkt gerade in seiner Widersprüchlichkeit im sozialdemokratischen Denken notwendig.

Oskar Lafontaine interessanterweise ist nicht durch derartige Dinge bekannt geworden. Er ist seiner Vergangenheit treu geblieben und gibt sich keine Mühe, die Härte seiner Position durch humanitäre Modifikationen auszugleichen. Er ist der Meinung, dass die Arbeiterklasse so haben will, weil er anscheinend glaubt, es gefällt irgendjemandem, zu hören: wir werden mitleidlos gegen die Leute vorgehen, die nicht das Glück haben, von den richtigen Leuten geboren worden zu sein. Und er ist der Meinung, es einfach so zu machen, wie er glaubt, dass die Leute wollen.

Auf diese Weise erweckt er ganz zwanglos den Eindruck, den Leuten nach dem Mund zu reden, um sie zu betrügen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass er nicht geschafft hat, was vor zehn Jahren fast als Gewissheit galt: nämlich den Übergang grösserer Teile der SPD-Wählerschaft zur neuen Linkspartei. Seine Idee einer Neukonstitution einer Sozialdemokratie unter Einschluss seiner Person und Wagenknechts liefe, wenn sie Erfolg hätte, auf das Ende der Sozialdemokratie in Deutschland hinaus.

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Diese These, wenn nicht schon alles vorher, wirft, ich gebe es zu, eine Reihe von Fragen auf. Habe ich nicht behauptet, die Sozialdemokratie sei eine objektive gesellschaftliche Form, unvermeidbar fast wie das Geld? Was soll dann heissen, dies oder jenes sei ihr Ende? Und was hat das Linke zu interessieren, also diejenigen, die diesen ganzen Text als einziges lesen werden? Sie werden sich wohl kaum aufgerufen fühlen, in einen Prozess einzugreifen, in dem sie nichts verloren haben, nur um ihn zu einem begrifflich richtigen Ergebnis zu führen. Und diejenigen, die Teil dieses Prozesses sind, werden sich durch solche Analysen kaum beeindrucken lassen, ja sie nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Wozu also das ganze?

Die Sozialdemokratie ist aber nun in der Tat, objektiv und unvermeidbar hin oder her, am Rande des Untergangs, entweder der Marginalisierung (Pasokisierung nennt man es). Ihre gesellschaftliche Funktion kann, wie sich zeigt, auf andere politische Kräfte übergehen; es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten der Selbstintegration der Gesellschaft in den Staat, wie es Parteien gibt. Und die Hegemonie der einen oder der anderen Sorte bestimmt die Form des Raumes, in dem sämtliche Aktivität auch der ausserinstitutionellen Kräfte ablaufen. Und diese wiederum neigen, auch das liesse sich zeigen, zur Selbstsozialdemokratisierung.

Der Niedergang der Sozialdemokratie und Aufstieg anderer, populistischer oder nationalistischer Parteien ist dabei nicht rein ökonomisch bestimmt, sondern zu grossem Teil auch vom Selbstbehauptungswillen der Parteien. Der Fall der Sozialdemokratie in Polen und Ungarn z.B. ist nicht reine Funktion der Stellung dieser Länder in der Hierarchie des Weltmarktes, vielleicht eher noch eine Folge ihrer zwangsläufigen Ausrichtung auf die deutsche Mutterpartei.

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Aber die momentanen Vorgänge um diese, die SPD, herum zeigen ein sehr viel komplexeres Bild auf. Und das ist ein Indikator dafür, welche Wege diese Gesellschaft in den nächsten Krisen gehen könnte. Die Sozialdemokratie zeigt, wie das Gezerre um die neuerliche Koalition zeigt, mehr Selbstbehauptungswillen, als man gedacht hätte, und sie hat wahrscheinlich noch Frist für die Massnahmen, die für ihre Weiterexistenz nötig wären.

Entscheiden werden sich diese Dinge, wenn die Vermutung gestattet ist, vermutlich an einer anderen Stelle, weniger an den Orten, auf die die Scheinwerfer der Öffentlichkeit gerichtet sind, sondern in den dunklen Tiefen, an denen der Klassengegensatz in seiner direktesten Form ausgetragen wird. Die Hegemonie, sagten die Operaisten, kommt aus der Fabrik. Die spezifischen Formen, in denen der Klassengegensatz in Betrieben ausgetragen wird, bestimmt viel weiter gehend die politische Form der Gesamtgesellschaft, als man es vermuten wird. Die politische Basis der Sozialdemokratie und des ganzen Staats des Grundgesetzes ruht zuletzt vermutlich auf derjenigen Art gewerkschaftlichen und betrieblichen Reformismus‘, dessen politische Form die Sozialdemokratie ist.

Sollte sich zeigen, dass die Arbeiterschaft ein positives Interesse an dieser Betriebs- und Gewerkschaftspolitik nicht mehr haben kann, dann ist der innere Nerv der Sozialdemokratie durchschnitten. Es entsteht dadurch aber nicht von alleine eine neue Formation oder Organisierung, im Gegenteil katastrophale Verstärkung der Isolation innerhalb der Arbeiterschaft und der Linken.

Anscheinend aber geht diese Entwicklung nicht so glatt vonstatten wie gedacht. Es wird notwendig sein, sie genau zu beobachten. Der Prozess von Zerfall oder Neuaufbau sozialdemokratischer Hegemonie wird Wirkungen auf jede Art von Organisierung oder Betätigung haben. Diese Gesellschaft steht vor kataklystischen Veränderungen, und die Krise der Sozialdemokratie ist wesentlicher Teil davon.

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Fußnoten

1) Man muss sich einmal die Öszöder Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany von 2006 dazu durchlesen. Diese Rede kostete die ungarische Sozialdemokratie ihre Macht. Sie ist ein literarisches Juwel, das in Keilschrift in die Alpen gemeisselt gehört für zukünftige Geschlechter.
2) https://libcom.org/blog/five-reasons-red-len-wont-break-law-20032015
3) https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/sep/16/jeremy-corbyn-driven-by-left-behind-middle-class
4) https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/dec/09/what-would-it-take-for-labour-moderates-to-revolt

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Text von Jörg Finkenberger ("Das grosse Thier") mit der Bitte um Zweitveröffentlichung.